sind?«
Er wirkt überrascht, zögert ein wenig, dann: »Im Capucin. Rose und Angélique. Ist Falicon etwas zugestoßen?«
Deslauriers antwortet nicht und schiebt ihn zur Tür.
Der Nächste. Clerget, der Großindustrielle und Schuh-König. Schwarzhandel und illegale Lieferungen. Routine. Die Langeweile siegt.
Später Nachmittag. Mike Owen, immer noch in Unterhose, auf der Rückbank eines Citroën zwischen Loiseaus zwei Männern eingekeilt, wird zu einem unbekannten Ziel gefahren. Einschnitte an den Handgelenken und im Kopf das Bild vom flüchtig erblickten Leichnam des Mädchens, an den Füßen aufgehängt, Beine gespreizt, von der Leiste bis zur Bauchmitte ein blutiger Spalt, wie von einer Axt. Lähmende Angst. Mein Gott, hab Erbarmen mit mir. Der Wagen biegt in die Avenue Foch ein, hält vor der monumentalen Fassade des Gebäudes, in dem der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS untergebracht ist. Dieses Gebäude kenne ich. Im Zentrum des Systems, im Zentrum des Schreckens. Die beiden Männer befördern ihn aus dem Wagen. Und vollkommen allein. Das Mädchen ist tot. Sie hat nicht geredet. Der an der Decke aufgehängte gefolterte Leichnam … nicht geredet … die Schreie … nicht geredet. Als die beiden französischen Gestapomänner an der weit geöffneten Tür des Zimmers vorbeikamen, wo sie hing, haben sie gehöhnt: Der Alte ist auch tot, aber der hat nicht so lange durchgehalten. Also sind sie beide tot, keiner hat geredet, keiner weiß mehr, wer du bist. Das eröffnet Möglichkeiten. Du bist am Zug. Spiel um dein Leben.
Im fünften Stock hat sich Otto Bauer vor der Tür seines Büros ganz am Ende des Flurs postiert und wartet auf den Gefangenen, den Deslauriers ihm schickt. Groß, breite Schultern, schmale Hüften, flacher Bauch, ebenmäßiges, ovales Gesicht mit feinen Zügen, zurückgestrichenes blondes Haar, hohe Stirn, große braune Augen, schmale Nase, markanter Mund mit hängenden Mundwinkeln, er hält sich sehr gerade in seiner bis zum Kinn geschlossenen SS-Hauptsturmführeruniform und den tadellos gewichsten Stiefeln. Ein schöner Tag. Die Landung der Alliierten, endlich. Wenn auch in gewissem Grade überraschend. Seit über einem Jahr hat man Tag um Tag so sehr darauf gewartet, so viel darüber geredet, dass schließlich niemand mehr daran geglaubt hat. Auf dem Boulevard de l’Amiral-Bruix den Panzern begegnet, die an die Front fuhren. Die jungen Besatzungen erstrahlten in vollkommener Schönheit angesichts des nahenden Todes. Erinnerungen an die Kämpfe vom September ’39 kommen wieder hoch. Im Flugzeug, eng aneinandergedrückt, bevor wir mit dem Fallschirm hinter den polnischen Linien abgesetzt wurden, tauschten wir Blicke, schwiegen miteinander. So heiter, so lebendig wie nie. Diesen Krieg habe ich geliebt. Wehmut. Gewissheit. Die entscheidende Schlacht hat begonnen, der Gefechtsgeruch kommt näher. Bei den SS-Hilfskräften spürt man die steigende Aggressivität. Nur der Führungsstab der Wehrmacht klingt ein wenig hohl, uneins, zögerlich. Aber die deutschen Soldaten werden kämpfen, wie sie zu kämpfen verstehen, tüchtig, bis in den Tod. Und das immer noch ruhige Paris gibt die teilnahmslose Schöne und geht an diesem ungetrübten Spätfrühlingstag ohne Anschlag und Alarm seinen Geschäften nach. Hass weht ihn an.
Zwischen zwei SS-Leuten erreicht der Gefangene das Ende des Flurs. Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Jung, groß, gut gebaut, zerzaustes braunes Haar, kantiges Gesicht. Eher Amerikaner als Engländer, würde ich sagen. Absolvent einer der großen Ostküsten-Universitäten? Direkter Blick, forscher Schritt, und die Andeutung eines Lächelns. Eine Beute, die noch lebt. Bauer atmet schneller, stoßweise, die Nase zuckt.
Sie stehen sich in Bauers Büro gegenüber. Blicke. Owen spricht als Erster, in perfektem Französisch.
»Sie sind Hauptsturmführer Bauer vom Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS, Abteilung wirtschaftlicher Nachrichtendienst Ausland.«
Schock. Bauer bemüht sich, ruhig und tief zu atmen.
»Und Sie?«
»Hauptmann Owen vom Geheimdienst der US-Armee. Ich mache den gleichen Job wie Sie, praktisch in der gleichen Abteilung …«
Jung, schön, beinahe mein Zwilling. Lass ihn reden, aus einem noch unbekannten Grund steht ihm der Sinn danach.
»… und ich habe die gleiche Kundschaft. Ich werde bei den französischen Unternehmern vorstellig, die von Ihnen bezuschusst werden …
Die rechte Gerade kommt mit voller Wucht, unterbricht beim Aufprall auf Kinn und Unterlippe Owens Luftzufuhr, der benommen umkippt. Es hagelt Tritte in sein Kreuz.
»Hoch mit dir, los.«
Er schafft es mit großer Mühe, sich aufzusetzen, dann hinzustellen, aufgeplatzte Lippe, Blut rinnt über seinen nackten Oberkörper. Überleben. Bauer ist hinter ihn getreten und umschließt Owens Hals mit seinen langen, knochigen Händen.
»Wir mögen den gleichen Job machen, aber wir sind nicht in der gleichen Position.«
Angespannt hält Owen still. Die Schlagader pulsiert schnell und kräftig unter Bauers Fingern, der langsam zudrückt, pulsiert immer kräftiger, in immer größeren Abständen, dann ein Krampf, und das Leben pulsiert nicht mehr, der Körper wird schlaff, sehr schwer, Bauer drückt noch einen Moment lang zu, lässt dann los. Owen sackt zu Boden.
Bauer sieht zu, wie langsam wieder Leben in ihn kommt. Geht in die Hocke, packt den Kopf an den Haaren, bringt ihn nah vor sein Gesicht, streift den blutverschmierten Mund mit seinen Lippen, flüstert: »Ich gebe dir genau eine Chance, dein Leben zu retten. Von mir aus kaufe ich dir deine Lügenmärchen ab. Aber das hat seinen Preis. Verrate mir die Organisation, die dich nach Paris gebracht hat. Jetzt.«
6. Juni 1944, abends
Bei Einbruch der Nacht enden die Kämpfe. Die Alliierten halten die Strände und haben 155 000 Mann mitsamt Ausrüstung an Land gebracht. Sie sind nirgends weiter als eineinhalb Kilometer auf französischen Boden vorgedrungen. Keine der als Ziel für den ersten Landungstag festgelegten Positionen wurde erreicht.
An jedem ersten Dienstag im Monat hält Dora Belle Salon in den Räumen ihres Stadtpalais an der Place des États-Unis. Ihre Gesellschaften sind nicht so literarisch und vornehm wie die von der Wehrmacht frequentierten Salons, etwa der von Florence Gould. Aber die üppigen Buffets in einer Zeit, in der quasi Hunger herrscht, die große Schönheit der Gastgeberin, einer der führenden Stars der Continental, der großen, mit deutschem Kapital betriebenen französischen Filmproduktionsfirma, die Verfügbarkeit zahlreicher junger Damen und die Anwesenheit des Pariser SS-Führungsstabs (eins seiner Mitglieder, SS-Hauptsturmführer Bauer, ist seit fast vier Jahren Doras Liebhaber) locken doch stets eine kleine Schar von Unternehmern, Journalisten, Staatsbeamten, Filmleuten und angehenden Sternchen an, die für eine Information, einen Passierschein, ein Fleischgericht oder eine kleine Nebenrolle zu allem bereit sind.
René Deslauriers trifft gegen neun bei Dora Belle ein, passiert das Portal, einen gepflasterten Hof, eine Außentreppe, und betritt das Entree, einen Rotundenraum ganz aus buntem Marmor. In der Mitte, auf einem runden weißen Steintisch mit einem Fuß aus gemeißelten Akanthusblättern, steht ein bis zur Decke reichendes Orchideengesteck, aus dem sich einige der geflochtenen Ranken gelöst haben und herunterhängen. Weiß und Blau, die Farben von Doras Kleid an diesem Abend. Wie jeden Monat ein Geschenk von Lafont. Lafont, der schon wieder. Er schenkte Dora Belle einen weißen Bentley, als Bauer sie zu seiner offiziellen Geliebten machte, und überhäufte sie bei jeder ihrer Feiern mit Orchideen, was Deslauriers wie ein protziger und geschmackloser Luxus erschien. Ein verbrecherischer Luxus. Eine sehr unliebsame Person. Unbewusst verzieht er das Gesicht. Er überlässt Hut und Handschuhe der charmanten jungen Frau, die sich um die Garderobe kümmert, und betritt den ersten der drei ineinander übergehenden Salons, Zwischentüren weit geöffnet, durch Kristalllüster hell erleuchtet, die Fensterreihe indes mit dicken grünen Vorhängen lichtundurchlässig gemacht. In jedem Salon an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand ein üppig mit Viktualien beladenes Buffet, Gänseleber, kalter Braten, Käse, Kuchen, Obst. Champagnerflaschen stapeln sich in Kühlbehältern hinter den Buffets, und auf dem nackten Boden unter den Tischen sind Cognacflaschen verstaut. Ein Orchideenstrauß auf jedem Tisch erinnert an den im Entree.