gleichzeitig diskret die „vom Zentrum abgefallenen Personen“ registriert, dies waren z. B. im Juli 1913 Gastwirt Kassen, Brücktor, sowie der Bauunternehmer Borges „nebst Bruder und Schwiegervater (Erbauer des Katholischen Krankenhauses und des Vereinshauses Union)“. Reusch wurde umgehend darüber informiert.110
Bei der Vorstandssitzung im Januar 1914 bekräftigte der Reichsvorsitzende Graf Hönsbröch die zentralen Programmpunkte der Deutschen Vereinigung. Intern war vom „konfessionellen Frieden“ nicht mehr die Rede. Stattdessen verlangte Hönsbröch, den Kampf gegen die „immer stärker hervortretende Demokratie im politischen Leben“, vor allem auch gegen die Linkstendenzen in der Nationalliberalen Partei, zu verstärken. Dem „Bestreben der sozialdemokratischen und bürgerlichen Demokratie …, im Volk das Vertrauen zu unserer Schutzzollpolitik zu untergraben“, müsse Einhalt geboten werden. Das erz-reaktionäre „Kartell der schaffenden Stände“, wie sich das Bündnis von Junkern und Schwerindustrie jetzt nannte, wurde dagegen freudig begrüßt. Alle sozialpolitischen Forderungen der Gewerkschaften wies Graf Hönsbröch entschieden zurück; folgerichtig empfahl er die entschlossene Förderung der gelben Gewerkschaften. Reusch war bei der Vorstandssitzung anwesend; zweifellos identifizierte er sich rückhaltlos mit diesem Programm.111
Auch wenn der Stil der Verlautbarungen der „Deutschen Vereinigung“ zurückhaltender war als beim „Alldeutschen Verband“ oder beim „Deutschen Ostmarkenverein“, so ist doch nicht zu bestreiten, dass auch hier die „politische Religion“112 eines aggressiven reichsdeutschen Nationalismus zelebriert wurde. Dies war kein gutmütiger Patriotismus, sondern eine nationalistische Ideologie, zu deren unverzichtbaren Bestandteilen der Hass auf äußere und innere „Reichsfeinde“ gehörte. Es war nur konsequent, dass sich Reusch bei der Reichstagswahl von 1912 mit aller Kraft dafür einsetzte, den Sozialdemokraten den Wahlkreis Duisburg/Oberhausen/Mülheim wieder zu entreißen und einen zuverlässig rechtsstehenden Kandidaten durchzubringen. Dies sollte jedoch nur zum Teil gelingen.
Einfluss auf die Nationalliberale Partei vor Ort
Vor Ort im Reichstagswahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen besorgte teilweise Reuschs Stellvertreter Woltmann das politische Tagesgeschäft. Das enge Vertrauensverhältnis dieser beiden Herren bestand schon, bevor Reusch zum ersten Mann in der GHH aufrückte und als Woltmann noch Syndikus der Handelskammer Duisburg war. Die feinen Unterschiede in der Diktion, auf die Reusch Wert legte, werfen ein bezeichnendes Licht auf seine politische Einstellung. Als Woltmann im Februar 1907 in Sterkrade einen „nationalliberalen Jugendverein“ gründen wollte und dafür Reusch um Unterstützung bat, empfahl dieser, „nicht einen nationalliberalen Jugendverein, sondern einen nationalen Bürgerverein“ ins Leben zu rufen.113 Im Januar 1910, noch bevor Woltmann seinen neuen Posten als Reuschs Stellvertreter übernahm, berichtete er seinem künftigen Chef ausführlich von einer Versammlung der Nationalliberalen Partei in Mülheim a.d. Ruhr, bei der die „Stellung“ der bürgerlichen Partei „nach rechts und links erörtert“ worden sei. Leider sei kein Vertreter der Industrie anwesend gewesen. Er regte deshalb eine Besprechung mit allen wichtigen Industriellen des Wahlkreises an, „um den Herren das politische Gewissen etwas zu schärfen. Sonst ist hier in unserem eigenen Hause alles verloren.“114 Es ist schon beeindruckend, wie hier der „Herr-im-Haus“-Standpunkt über den Betrieb hinaus auf den ganzen Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen ausgedehnt wurde! Dass die beiden führenden Herren der GHH ein gutes halbes Jahr nach Gründung des eher gemäßigten Hansabundes eine zu „linke“ Ausrichtung der Nationalliberalen befürchteten, steht außer Zweifel. Reusch gab Woltmann prompt die erwünschte Rückenstärkung: Er stehe „voll und ganz auf [dessen] Standpunkt, dass derartige Versammlungen unbedingt von maßgebenden Persönlichkeiten der Industrie besucht werden müssen.“115
Reusch und Woltmann ergriffen frühzeitig die Initiative, um für die Reichstagswahl 1912 im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen einen der Industrie genehmen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Der Centralverband deutscher Industrieller stellte für diesen Wahlkreis überdurchschnittliche finanzielle Unterstützung – die Rede war von mindestens 10.000 Mark – aus dem Wahlfonds des CdI in Aussicht, knüpfte dies aber an die Bedingung, dass die Nationalliberalen einen der Industrie genehmen Kandidaten nominierten.116 Der örtliche Parteisprecher, der Mülheimer Unternehmer Liebreich, stand deshalb ein Jahr vor der Wahl bereits im Kontakt mit der Großindustrie. Er versicherte dem stellvertretenden Chef der GHH, genau nach dessen Wünschen zu verfahren.117 Reusch war nämlich zu diesem Zeitpunkt in höchstem Maße alarmiert über die Nominierung des Parteivorsitzenden Bassermann, den die Schwerindustrie dem liberalen linken Flügel zuordnete, in Saarbrücken. So etwas sollte ihm vor seiner Haustür nicht passieren. Hier wollte Reusch den rechten Flügel durch die Nominierung von Wilhelm Hirsch, als Syndikus der Essener Handelskammer der Ruhr-Industrie eng verbunden, stärken. Die Chefs der GHH sahen die Gefahr, dass der Wahlkreis sonst „unzweifelhaft einem Linksliberalen in die Hände fallen“würde.118
Bei einer geheimen Versammlung in der Duisburger Getreidebörse, zu der neben den GHH-Herren u. a. auch Kirdorf und Stinnes eingeladen hatten, erschien am 11. März 1911 die gesamte Crème der Ruhr-Industrie und folgte einstimmig Reuschs Vorschlag, Wilhelm Hirsch für den Wahlkreis Duisburg-Oberhausen-Mülheim zu nominieren. Der Mülheimer Fabrikbesitzer Liebreich kam für die Ruhr-Barone nicht in Frage, weil er als Alt-Liberaler die gemäßigte Linie des Parteivorsitzenden Bassermann unterstützte.119 Nur am Rande sei erwähnt, dass eben dieser Dr. Liebreich sich zu gleicher Zeit übler antisemitischer Angriffe von katholischer Seite zu erwehren hatte. Die Zentrumsnahen „Deutsch-sozialen Blätter“ hetzten gegen ihn als „getauften Juden, … der in zweiter Ehe wieder eine Jüdin geheiratet hat. … Wie man hört, blüht uns der letztere als nationalliberaler Reichstagskandidat.“120 Hirsch kommentierte die Zeitungsnotiz mit der bissigen Bemerkung, dass den Katholiken die Verdrängung des Sozialdemokraten Hengsbach anscheinend weniger wichtig sei. Für sie sei die „rote Gefahr nicht so groß …, dass sie deswegen ihre antisemitischen Instinkte bekämpfen sollten.“121 Aber auch Hirsch, der Mann der rechts-orientierten Großindustrie des Reviers, hielt natürlich nichts von der Nominierung des liberalen Mittelstandsvertreters Liebreich.
Spielte bei der Zurückweisung Liebreichs die Rücksicht auf die „antisemitischen Instinkte“ mancher Katholiken nicht doch eine Rolle? Gab es nicht vielleicht doch die Befürchtung, dass es bei einer Stichwahl schwer sein würde, die Unterstützung der Zentrumswähler für einen zwar getauften, aber geschiedenen und in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheirateten Kandidaten zu gewinnen? Von Reusch sind antisemitische Äußerungen nicht bekannt, er pflegte die Kontakte zu mehreren Unternehmern jüdischer Herkunft. In den Kreisen der Industriellen waren antijüdische Vorurteile bisweilen jedoch sehr wohl ein Thema. So erkundigte sich der Direktor des Krupp-Gruson-Werkes in Magdeburg Kurt Sorge ganz diskret bei Reusch über einen Ingenieur, der hervorragende Zeugnisse vorweisen konnte, sich aber wegen seiner mäßigen Gehaltsforderungen verdächtig gemacht habe. Sorge bat Reusch, der den Mann aus seiner Zeit bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte kannte, um „streng vertrauliche“ Mitteilung „namentlich auch darüber, ob er etwa semitischen Ursprungs ist, was nach der beigelegten Photographie nicht ganz unwahrscheinlich sein dürfte.“122 Eine Antwort von Reusch findet sich nicht in den Akten.
Im Zentralwahlkomitee der Nationalliberalen Partei, das am 13. März in Mülheim zusammentrat, wusste man sehr wohl, wie sehr Liebreich in der Duisburger Getreidebörse unter Druck gesetzt worden war. Dieser war keineswegs sofort eingeknickt, sondern hatte seinen Verzicht auf die Kandidatur vom Votum der Parteigremien abhängig gemacht. Wenn er allerdings auf seine Kandidatur verzichte, so stellte er unmissverständlich klar, würde er gleichzeitig auch den Vorsitz der Nationalliberalen Partei im Wahlkreis niederlegen. Die Stimmung im Ausschuss, der vor dem Plenum des Zentralwahlkomitees zusammentrat, war gespalten; eindeutig für den Industriekandidaten Hirsch waren nur die Vertreter von Oberhausen und Sterkrade.123 Man darf gewiss vermuten, dass hier der Einfluss der GHH-Herren Reusch und Woltmann wirksam geworden war. Im Plenum charakterisierte Liebreich den Favoriten der Industrie wie folgt: Hirsch sei Angestellter der Industrie, fremd im Wahlkreis und gehöre zum äußersten rechten Flügel der Nationalliberalen Partei. Neben