Abstimmung brachte eine knappe Mehrheit gegen Hirsch. Die Herren von der Nationalliberalen Partei wollten aber natürlich nicht ganz auf das Geld aus der Industrie verzichten. Man schlug deshalb vor, gemeinsam nach einem Kompromisskandidaten zu suchen: „Herr Kommerzienrat Reusch wird gebeten, einen Tag zu bestimmen, an welchem die Industriellen mit Vertretern der nationalliberalen Organisation zu diesem Zweck zusammentreten können.“124 Nach der Aufmüpfigkeit in der Versammlung der Vertrauensleute rückten Sätze wie dieser die gesellschaftliche Hierarchie wieder zurecht. Woltmann informierte sofort seinen Chef, der sich zu Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie in Paris aufhielt, über das Ergebnis der Abstimmung.125
Nach einer öffentlichen Vortragsveranstaltung des „Nationalen Bürgervereins“ mit Reusch und Oberbürgermeister Havenstein am Vorstandstisch und Woltmann als Versammlungsleiter, bei der eine Resolution zugunsten von Hirsch beschlossen wurde, schickte Woltmann entsprechende Briefe an alle führenden Industriellen des Reviers, u. a. an Stinnes und Kirdorf.126 Als der Favorit der Schwerindustrie bei einer weiteren Vertrauensmänner-Abstimmung am 29. März 1911 erneut durchgefallen war, obwohl Woltmann sich energisch für seine Nominierung ins Zeug gelegt hatte, schaltete Reusch sich wieder persönlich ein. Nach einem Gespräch mit Hirsch, worauf dieser großen Wert gelegt hatte, sprach er Stinnes und Kirdorf an. Diese erschienen aber nicht zu einem Treffen von Ruhr-Industriellen mit Vertretern der Nationalliberalen Partei in der Duisburger Getreidebörse am 24. April 1911, so dass dort Reuschs energischer Einsatz für Hirsch erneut ohne Erfolg blieb.127
Jetzt musste eine andere der Industrie genehme Person gefunden werden. Von seinem Urlaub im tschechischen Karlsbad aus gab Reusch deshalb die Anweisung, einen gewissen Kommerzienrat Passmann zu unterstützen. Dieser Kommerzienrat musste aber zunächst gedrängt werden, „die Bürde des Mandats“ überhaupt anzunehmen.128 Die Delegierten der Nationalliberalen Partei, die sich im Juni 1911 im Hof von Holland in Oberhausen trafen, blieben jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung; gegen Passmanns Nominierung wurde nach Woltmanns Eindruck „in einer der Industrie geradezu feindseligen und in der Form maßlosen Weise“ gefochten. Die Delegierten favorisierten nach wie vor die Kandidatur des Mülheimer Fabrikbesitzers Liebreich. Woltmann berichtete, er sei diesem Vorschlag „aufs Schärfste entgegengetreten und habe [Liebreich] in keiner Weise geschont“. Die Entscheidung sei daraufhin um zwei Wochen vertagt worden; einen eigenen Kandidaten der Industrie durchzubringen, halte er aber jetzt für unmöglich. Man solle Liebreich akzeptieren, diesen aber inhaltlich auf bestimmte Programmpunkte festlegen. Um ganz sicher zu gehen, könnte man diese Marschroute durch eine Anfrage bei Kirdorf absichern.129 Hirsch und seine mächtigen Hintermänner in der Industrie blockten Liebreich jedoch weiter ab.
Wohl vor allem um die Unterstützung aus dem Wahlfonds der Industrie nicht zu gefährden, nominierte die Nationalliberale Partei im Herbst einen Kompromisskandidaten Dr. Böttger, mit dem auch Reusch und die anderen Industriellen leben konnten. Einzelne einflussreiche Unternehmer, z. B. Hasslacher von den Rheinischen Stahlwerken, blieben aber bei ihrer Ablehnung. Hasslacher machte Reusch den Vorwurf, er habe sich „von Liebreich einfangen lassen“.130 Dr. Böttger, ein Jurist, war seit 1887 hauptamtlicher Funktionär der Nationalliberalen Partei und hatte 1903 bis 1907 einen ländlichen Wahlkreis (Geestemünde-Ottendorf) im Reichstag vertreten.131 Für seinen Wahlkampf erhielt er zwar nur 3.000 Mark aus dem industriellen Wahlfonds, obwohl Woltmann sich für einen höheren Betrag eingesetzt hatte, aber die GHH und die Concordia Bergbau-AG schossen über 6.000 Mark zu.132 Woltmann erhielt für seinen Nationalen Bürgerverein 2.000 Mark, die indirekt auch dem nationalliberalen Kandidaten zugute kamen.133
Von den großen Werken in Oberhausen wurden für den Wahltag Beamte und Schreibkräfte an das Wahlkreisbüro der Nationalliberalen Partei und an Woltmanns Nationalen Bürgerverein „abkommandiert“. Die Löhne und Gehälter wurden für diese Zeit von den Firmen weiter gezahlt.134 Nach der Wahl schickte Woltmann der Concordia die Abrechnung über die Kosten des Nationalen Bürgervereins bei dieser Wahl: Von den Gesamtkosten über 6.392,42 Mark übernahm der Centralverband deutscher Industrieller 2.000 Mark, die GHH 3.000 Mark, so dass für die Concordia 1.392,42 Mark verblieben, die auch prompt überwiesen wurden.135
Im ersten Wahlgang lag Dr. Böttger mit 34.416 Stimmen knapp vor dem Sozialdemokraten Hengsbach (33.179 Stimmen), der den Wahlkreis seit 1907 im Reichstag vertreten hatte. Auf dem dritten Platz folgte der Zentrumskandidat Kloft (31.785), der nur in Oberhausen mit 5.647 Stimmen recht klar vor dem Sozialdemokraten (4.767) und dem Nationalliberalen (4.610) gewonnen hatte. Vor Anbruch des Radio-Zeitalters versammelte sich das politisch interessierte Publikum am Wahlabend in Gaststätten und Kinos. Die Wirte und die Kinobesitzer („Biotophon-Theater“) versuchten die Reichstagswahl als Publikumsmagnet zu nutzen: Die Wahlergebnisse wurden mit der neuen Lichtbildtechnik projiziert, und das als Beiprogramm zu Dortmunder Bier und „bestem Durchfallbitter“ oder zu dem Drei-Akter „Aus dem Leben eines Leutnants“.136
Abb. 4:Generalanzeiger Oberhausen, 19. und 24. 1. 1912, Wahlaufruf im Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen, StA Oberhausen
Die Oberhausener Wahlresultate dürften Reusch kaum gefallen haben. Deshalb setzte sich die „Deutsche Vereinigung“ im Wahlkampf für die Stichwahl mit großen Anzeigen für Dr. Böttger ein: Wegen der „Zwietracht der bürgerlichen Parteien“ habe die SPD bei der vorherigen Reichstagswahl die Zahl ihrer Mandate erheblich steigern können. Jetzt hoffe der SPD-Kandidat wieder auf „Wahlhülfe aus den bürgerlichen Lagern“. Die wirtschaftlichen und kulturellen Interessen des Wahlkreises forderten „ein nach Außen starkes und im Innern gefestigtes Deutsches Reich“. „Umso schmählicher wäre es, wenn dieser Wahlkreis der Sozialdemokratie erneut in die Hände fiele, der Partei, die doch nichts anderes kennt, als Unterwühlung der Grundlagen des Deutschen Reiches.“ Deshalb wurden alle „Mitbürger ohne Rücksicht auf ihre Konfession“ aufgefordert, für den Kandidaten der Nationalliberalen zu stimmen. Dieser Appell richtete sich vor allem an den großen Block der katholischen Zentrumswähler. Die Anzeige trug die Unterschrift von Reusch und Woltmann.137 Berufsständische Organisationen hieben in die gleiche Kerbe. So wurden die Beamten in einer großen Anzeige aufgefordert, „gegen den Umsturz praktisch mitzuarbeiten und am Stichwahltage sich den Parteibüros der bürgerlichen Parteien zur Verfügung zu stellen“.138 Das Zentrum ließ sich nicht lange bitten und schloss mit den Nationalliberalen ein Wahlabkommen zur Unterstützung von Dr. Böttger gegen den Sozialdemokraten Hengsbach.139 Der Nationale Bürger-Verein übernahm es, für die Zentrums-Wahlempfehlung zu trommeln. In riesigen, halbseitigen Anzeigen wurden für einen einzigen Tag sieben Versammlungen in allen Stadtteilen von Oberhausen angekündigt; interessant ist, dass in vier verschiedenen Lokalen jeweils katholische Kapläne als Redner auftraten.140
Die Kampagne der bürgerlichen Parteien und Verbände hatte Erfolg. Eine Mehrheit der Zentrumswähler stimmte in der Stichwahl vermutlich für den Nationalliberalen (63.534 Stimmen), nicht für den Sozialdemokraten (43.738). In Oberhausen erhielt Dr. Böttger 9.805 Stimmen gegenüber 6.697 für Hengsbach.141 Dies heißt, dass keineswegs alle Zentrumswähler des ersten Wahlganges ins bürgerlich-nationale Lager umgeschwenkt waren.
Das Ergebnis im westlichen Ruhrgebiet war nicht repräsentativ für ganz Deutschland: Die Fraktion der Sozialdemokraten im Reichstag wurde mit 110 Sitzen doppelt so groß wie vorher, während alle bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme Sitze verloren hatten – und dies zwei Tage vor Kaisers Geburtstag am 27. Januar! Die erzkonservative „Kreuz-Zeitung“ giftete gegen den liberalen Hansabund, dass „das unter jüdischer Führung stehende Großkapital“ gegen die Sammlungsparole der Rechten Partei ergriffen habe, dass „offen mit der ebenfalls der jüdischen Sache dienstbar gemachten internationalen Sozialdemokratie paktiert“ worden sei.142
Paul Reusch saß beim Festbankett zu Kaisers Geburtstag am 27. Januar im frisch renovierten Restaurant am Kaisergarten neben Oberbürgermeister Havenstein, als dieser das Wahlergebnis zum Anlass nahm, um über „Zwietracht“, „Unzufriedenheit“ und „Hader“ im deutschen Volk zu lamentieren. „Es hieße nicht, Kaisers Geburtstag feiern in diesem Jahr, gewiss