117 Jahre später, seit dem 19. Februar 1999, griffen die EU-Richtlinien zur Liberalisierung. Damit endete die Monopolstellung der großen Stromversorger. Es begann die organisatorische Trennung von Erzeugung, Transport und Verteilung elektrischer Energie. Es heißt, wer in die Vergangenheit blickt, hat die Zukunft verloren. Anders sah es Emanuel Kant. Er brachte seine Sicht der Dinge auf den Punkt: Alles Wissen stammt aus der Erfahrung. Darum glaube ich, dass ein Blick in die Zeit der alten Elektrizitätswirtschaft nicht schaden kann. Er kann helfen, die Sinne zu schärfen für das, was wir hatten und was wir jetzt haben.
Strom für jedermann, an jedem Ort, zu jeder Zeit, zu gleichen Bedingungen, das war Auftrag, Herausforderung und Verantwortung für staatliche und private Initiativen. Niemand nahm Anstoß an Werbung für die Elektrizität. Fehlt es Dir an Arbeitskraft, nimm den Strom, der für Dich schafft, wurde liebevoll getextet. Grafiker und Werber zeichneten und texteten die herrlichsten Plakate mit eingängigen Slogans. Für nützliche Geräte erfanden sie treffende Namen, beispielsweise kreierten sie die Entstäubungspumpe, die heute profan als Staubsauger am Markt gehandelt wird.
Mit dem elektrischen Strom verbanden die Menschen alsbald Unverzichtbarkeit von Licht, Kraft und Wärme. Geborgenheit und Lebenserleichterungen durch Strom. Kurzum: Man musste ihn haben. Bereits in den ersten Stunden der Flächenversorgung mit Strom wurden die Weichen für passives Marktverhalten der jungen Energieversorger gestellt. Denn für ihre Garantie, ihre Abnehmer in Stadt und Land jederzeit, preiswert und rund um die Uhr zu gleichen Bedingungen mit elektrischer Energie versorgen zu dürfen, erhielten die Versorger Gebietsschutz, unterlagen aber der staatlichen Preiskontrolle. Der Gebietsschutz schloss den Wettbewerb von Stromversorgern untereinander aus.
Heute weiß ich sicher, dass Europapolitik nicht mehr meine ungeteilte Zustimmung bekommt. Vor allem nicht vor dem Hintergrund, dass sich hochbezahlte Eurokraten ernsthaft über Krümmungsradien von Euro-Bananen und Euro-Gurken stritten und tagtäglich Zeit mit anderen Nichtigkeiten verplempern. Aber das die EU die Liberalisierung des Strommarktes ohne verbindlichen Terminplan für alle erzwang, das war schon ein besonderer Husarenstreich. Dass die Bundesregierung unter Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl daran maßgeblich beteiligt war, mildert das angerichtete Chaos keineswegs.
Wer heute behauptet, es gäbe im Strommarkt Europas Wettbewerb und die Strompreise seien Marktpreise, will uns einen Bären aufbinden. Wahr ist, mit der EU-Richtlinie für den Wettbewerb im Strommarkt wurde die Integrität eines völlig intakten Wirtschafts- und Wertesystems zu Sushi verarbeitet. Unbeachtet blieb, dass sich die Elektrizitätswirtschaft zwar in monopolistischen Strukturen kuschelte, dafür aber garantierte, dass Strom als Lebensgrundlage und Daseinsvorsorge jederzeit und preiswert verfügbar war. Und das absurdeste daran war, dass der schärfste Verbraucherschutz den es in Deutschland je gab, nämlich die staatliche Strompreiskontrolle, im Wettbewerbsgedudel sang- und klanglos unterging.
Heerscharen von Beratern zogen bei den ehemaligen Monopolisten ein, um ihnen Wege aufzuzeigen, wie man trotz der strukturellen Veränderungen des Strommarktes die eigene Marktposition festigen und ausbauen kann. Klangvolle Namen wurden an den Rezeptionen genannt: Arthur Andersen, Boston Consult, Ernst & Young oder Simon, Kucher & Partner. Deren Consultants – hat einer eine Vorstellung davon, was für jeden einzelnen pro Tag in Rechnung gestellt wird - quetschten Mitarbeiter aus, fragten nach ihren Ideen für den Wettbewerb. Insbesondere für die privaten Stromkunden wurden Konzepte und Produkte präsentiert, die unter anderem Yello hießen, Elektra Direkt, EVIVO oder:avanza. Mit Abermillionen Euro wurden diese Stromprodukte auf dem Strommarkt platziert. Es gab sie auch noch in Varianten, wie 100-%-Wasserstrom, 100-%-Prozent Naturstrom oder 100-%-Strom-ohne-Atom. Die Fantasie der Werber war grenzenlos; die Stromanbieter folgten ihnen fast blind. An den meisten Stromverbrauchern rauschte das Werbegeklingel allerdings vorbei wie ein Schiff in der Nacht.
Wechselwillige Stromverbraucher machten alsbald die Erfahrung, dass nichts kürzer währt als die Freude über einen niedrigen Preis. Denn innerhalb kürzester Zeit wurden Callcenter aus dem Boden gestampft und mit Mitarbeitern ausgestattet, die sich in den komplexen Strom-Wechsel-Fallen nicht auskannten, sich verhedderten, anstatt potenziellen Neukunden oder verärgerten Kunden helfen zu können.
Schwamm darüber. Über vergossene Milch sollte man keine Tränen vergießen. Die Abermillionen Euros für Kundenwerbung, für die Politur von Firmenbildern, all diese Aufwendungen sind ins Reich der Vergessenheit gebannt.
Die deutsche Elektrizitätswirtschaft gibt es nicht mehr. Das ist die nüchterne Wahrheit. Was ist uns geblieben? Nichts! Denn der staatlich regulierte Strommarkt lässt entgegen seiner ursprünglichen Idee keinen Wettbewerb zu. Weder in Deutschland noch in ganz Europa. Es fehlt überdies die verbindende und verbindliche Verantwortung, die eine sichere Stromversorgung garantiert. Die Monopolisten hatten sie. Natürlich war das für sie lohnend. Aber was wäre, wenn heute der Strom ausfällt? Auf wen wird der Schuldfinger zeigen? Wir haben eine Kette von Verantwortlichen: Kraftwerksbetreiber, große Netzbetreiber, kleine Netzbetreiber, Kleinstnetzbetreiber, Biogasanlagenbetreiber, Sonnenkraftwerksbetreiber, Windkraftwerksbetreiber, die Strombörse, die Netzregulierungsbehörde und nicht zuletzt die Kapazitätshändler – an jedem Kettenglied des Stroms vom Kraftwerk bis zum Verbraucher wird kassiert, und ohne dass sich die Qualität des Stroms verbessert hat, wurde er nur teuer, teurer und noch teurer.
Den Monopolisten unterstellte man, die Stromversorgung wäre für sie wie Geld drucken. Tatsache ist: Die hatten die Stromversorgung technisch wie kaufmännisch im Griff, Preise basierten auf der Mischkalkulation der eingesetzten Primärenergien, der Staat kontrollierte, und genehmigte die Preise. Die Verbraucher erhielten sozusagen Bestpreise.
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