zufrieden sein.
Warum spürte er dann diese Traurigkeit, die über seine Haut krabbelte wie hunderte winziger vielfüßiger Käfer?
13. Fremde Nähe
Joana hielt die Augen geschlossen. Sigis verschwitzter Kopf ruhte schwer atmend auf ihrer Brust. Sie zwirbelte mit zwei Fingern an seinem dünner werdenden Haar. Dieses Mal war es fast unglaublich gewesen … so anders … Als ob sie mit Sigi geschlafen hätte und gleichzeitig mit einem Fremden. Sie hatte eine Gier in ihm gespürt, die fast schon an Verzweiflung grenzte. War es die chronisch desolate Finanzlage, die ihn plötzlich zu solchen Stürmen hinriss?
Obwohl sie wusste, dass er ein Frauenverehrer war, vertraute sie ihm eigentlich blind. All der Charme, den er über bedürftige Herzen ausschüttete, und seine aus dem Ärmel geschüttete Leichtigkeit gründeten auf zwei Eigenschaften: Einerseits gehörte er zu der aussterbenden Gattung der Menschenfreunde. Seine Beobachtungsgabe als Künstler war scharf wie ein Seziermesser. Er erkannte die Defekte der Menschen, als seien es Schlagschatten der Wahrheit, die ihr trügerischer Körper gegen seinen Willen warf. Er sah die Selbstsucht, die oft hinter dem Wunsch nach Liebe steckte, und die Unfähigkeit, sich wirklich zu mögen. Was den weiblichen Teil seiner Studienobjekte betraf, tat er das Beste, den Schmerz der an sich selbst und der Welt leidenden Wesen zu lindern. Doch Joana glaubte nicht, dass er seit ihrer Heirat je eines der zahlreichen Angebote wahrgenommen hatte.
Der zweite Grund war ein scheinbar entgegengesetzter: Sigi empfand sich in seinem tiefsten Herzen als Spieler. Er liebte es, andere und sich selbst zu überraschen. Er genoss das Jonglieren mit Worten und Gesten, die Kunst, Grenzen auszuloten und immer ein wenig weiter zu gehen, als es die Norm erlaubte.
Aus diesen Gründen liebte sie ihn: Wegen seiner tiefen Beständigkeit und wegen seiner Kunst, das Leben in jedem Augenblick neu zu erfinden. Joana seufzte voller Glück. Alles andere, dachte sie, würde sich schon lösen … Die vielen unbezahlten Rechnungen; seine Unfähigkeit, die wunderbaren Bilder auch nur einigermaßen angemessen zu verkaufen und ihr gemeinsames Leben wirklich zu errichten: Schritt für Schritt und Stein auf Stein, so wie es an sich ihrem erdhaften Charakter entsprach. Aber das war vielleicht der Preis für ihre Liebe.
Ohne dass sie wusste warum, spürte sie plötzlich eine Unruhe. Irgendetwas stimmte nicht. Sigi schwitzte immer noch; seine Glieder hingen ruhig, fast schlaff an ihm herunter. Dennoch empfand sie fast körperlich seine Unrast. Wo war seine Hand? Eigentlich hätte sie schon vor Minuten schläfrig an ihrer Haut hochgleiten müssen, um schließlich an einer ganz bestimmten Stelle am Halsansatz zu landen, wo sie durch seine Berührung fortflog in eine Weite, die sie erinnerte an die Unendlichkeit des Sertão; wenn sie frühmorgens auf dem Rücken ihrer Stute saß und durch den rötlich gelben Staub tobte; oder abends, wenn über der Fazenda der Himmel glühte und sein letztes Feuer über die Erde goss.
Joanas Hand hörte auf zu zwirbeln.
Karl-Heinz’ erneutes Ankommen in der Welt vollzog sich in Etappen. Die Frau, die nun tatsächlich die seine war, lag erschöpft und anscheinend befriedigt neben ihm. Er hatte ja schon etliche Gefährtinnen besessen. Aber so etwas wie heute war ihm noch nie passiert. Eine fast beängstigende Vertrautheit und darüber hinaus … ein Abgrund, der ihn – befände er sich noch in seinem eigenen Körper – wahrscheinlich entsetzt hätte.
Was sollte er jetzt tun? Sie noch einmal küssen, streicheln, etwas Charmantes sagen? Diesmal verweigerten seine neuen Glieder die Antwort. Auch Joanas Verhalten half ihm nicht wirklich weiter. Sie schien auf irgendetwas zu warten. Aber auf was, um Gottes willen?
Plötzlich überfiel ihn eine Welle von Panik. Wie sollte er dieses Possenspiel auch nur einen Tag überleben? Wie sollte er dieser Frau sieben Tage und Nächte etwas vorgaukeln, das er auch beim besten Willen nicht war? Sigi hatte ihm von ihrem Alltag erzählt; von der Art, wie sie über Kunst sprachen, wie sie gemeinsam aßen und in welcher Stellung sie normalerweise schliefen. Doch Karl-Heinz machte sich nichts vor. In Wahrheit lag er hier mit einer Fremden. Er spürte, wie sein Körper reagierte und erneut zu schwitzen begann. In seinem Hals saß ein unangenehmer und dicker Kloß.
»Sigi?«
Karl-Heinz zuckte zusammen.
»Was ist los?«
Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Was sollte er tun? Irgendetwas erfinden – dass er schlecht geschlafen hatte oder vor Ärger nicht ein noch aus wusste? Oder ihr reinen Wein einschenken? Das wäre vielleicht das Beste … Reinen Tisch machen, sich aufrichten und erklären: Tut mir leid, Joana, ich bin ein anderer; ich rufe gleich bei Sigi an und gebe dir deinen Ehemann zurück, du musst nur eine Woche mit der Gestalt von Karl-Heinz vorlieb nehmen … Hat mich sehr gefreut, aber ich muss jetzt gehen.
»Was soll denn los sein?« Karl-Heinz biss sich auf die Zunge. Er war wirklich der größte Idiot auf Gottes Erden!
Joana zog seinen Kopf von sich fort, richtete sich auf und blickte ihn forschend an. Ihre Augen schillerten in der Farbe von hellem Kupfer. »Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst – das weißt du doch, oder?«
»Natürlich, mein Engel.« Karl-Heinz merkte, dass sein rechter Mundwinkel anfing zu zucken und rief ihn verbissen zur Räson.
Ihr Zeigefinger malte einen kleinen Kreis auf den Boden. In seine Mitte stürzte plötzlich ein schwerer Tropfen. Joana wischte sich unwillig über die Augen. »Wenn es das Geld ist … Ich kann immer noch meinen Vater fragen. Er würde uns bestimmt helfen. Wenn du es nicht geschenkt willst, dann vielleicht …«
Das Telefon schrillte. Karl-Heinz sandte einen Stoßseufzer zum Himmel, zwang sich eine Art Lächeln ab und stand auf. Er versuchte vergeblich, das Geräusch zu orten, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Zimmer und fand das schnurlose Gerät endlich neben einem Bild, das an der Wand lehnte.
»Sigi Richter … hallo?« Seine Stimmlage befand sich gefährlich nahe der Hysterie.
»Hallo«, meldete sich sein Gesprächspartner. »Hier ist Ede, alles in Ordnung bei dir?«
»Bestens.« Karl-Heinz’ Herz machte vor Erleichterung einen Sprung. Sigi hatte ihm schon oft von dem knauserigen Wirt berichtet. Er war begierig, diesen Halsabschneider endlich kennenzulernen.
»Mein Freund, ich habe gute Nachrichten: Ich kann dir die Zweihundert heute schon in die Hand drücken. Und, halt dich fest: Ich kaufe dir ein – was sage ich – zwei weitere Bilder ab. Barzahlung! Wenn du willst, nehme ich sie gleich mit. Na, was sagst du jetzt?«
Karl-Heinz lächelte unterkühlt. Innerlich fühlte er sich so befreit, als sei er gerade von einer Angina Pectoris genesen. »Schön, Ede, komm einfach hier vorbei, dann können wir uns unterhalten … Sagen wir in einer Stunde?«
Joana saß immer noch auf dem Boden und starrte halb bewundernd, halb zweifelnd auf ihren neu erfundenen Mann. Ihre Hände griffen nach dem herbstfarbenen Kleid, das zerknittert auf dem Boden lag, und pressten den Stoff an ihren Leib, als sei er fähig, sie irgendwie zu beschützen.
14. Kamila
September 1941
Am nächsten Tag, pünktlich vor dem Mittagsessen, ließ der Doktor Kamila durch Ruth abholen. Von etlichen Augenpaaren verfolgt, schritt sie durch die Halle über den langen Gang zum Büro. Der Stuhl in der Ecke stand schon für sie bereit, und sie setzte sich auf die äußerste Kante. Ihr war etwas schwindelig, und sie musste sich immer wieder am Sitz festklammern, um nicht zu fallen.
Gestern Abend nach ihrer Rückkehr waren vier aufgeregte Freundinnen um sie herumgestürmt und warteten auf ihren Bericht. Kamila erzählte das Wichtigste in groben Zügen.
Magdalena konnte die Geschichte kaum glauben. »Er hat dich nicht begrapscht? Keine Schweinereien geflüstert? Das gibt’s doch gar nicht!«
»Wie war das Essen? Was hat es zum Essen gegeben?«, wollte Maria wissen und leckte sich gierig