Sonja Spitteler

Himmel küsst Erde


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Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlen würde? Nein? Ich konnte es auch nicht, aber der Wind hat mir erzählt...

       … in diesen alten Tagen folgte das Leben einem anderen Rhythmus; die Blumen strahlten ununterbrochen, die Bäume trugen stets frische Triebe, die Natur war immergrün und die Tiere brachten ihre Jungen zur Welt, wann es ihnen beliebte. Von Zeit zu Zeit kam ein Gewitter, brachte frischen Regen, um danach alles noch kräftiger und schöner gedeihen zu lassen. Die Tage waren nicht zu warm, die Nächte nicht zu kühl. Mutter Erde sorgte liebevoll für ihre Bewohner und von oben wachte Vater Himmel über alle.

      Vater Himmel und Mutter Erde sind Mann und Frau, und ich, der Wind, bin ihr Kind. Da ich mich nicht hatte entscheiden können, ob ich lieber bei meiner Mutter oder bei meinem Vater aufwuchs, lebte ich dazwischen. Es gefiel mir dort sogar so gut, dass ich bis heute hier hause. Nach einer Weile habe ich auch einige Aufgaben übernommen, wie das Zusammentreiben der Wolken für ein Gewitter oder das Verteilen der Blütenpollen. Mein Leben war schön, doch ich spürte, dass mir etwas fehlte. Vielleicht war die Zeit reif für eine Veränderung und von dieser möchte ich euch gerne erzählen:

      Meine Mutter ist ein überaus fleißiges Wesen und nichts bereitet ihr mehr Freude, als Lebewesen wachsen und gedeihen zu sehen. überall streckt sie ihre helfende Hand aus, bietet Nahrung, Schutz und Heimat. Das Wohl des Ganzen steht bei ihr immer an erster Stelle.

      Es kam der Tag, da änderte sich unser ganzes Dasein. Vater Himmel hatte beschlossen, sich einige Tage frei zu nehmen und versteckte sein Antlitz hinter einer dichten Wolkenwand, welche ich für ihn zusammentrieb. Er tat dies bisweilen, um wieder neue Kraft zu schöpfen, denn es ist eine anstrengende Arbeit, das Leben und Mutter Erde zu beschützen.

      An jenem Tag beschloss Vater Himmel seine Ehefrau zu besuchen. Schon länger hatte er das Gefühl, dass auf der Erde etwas nicht mehr so war, wie es sein sollte. Als er auf der Erdoberfläche landete, fragte er nach ihr. Die Geister2 verwiesen ihn auf die andere Seite der Kugel, wo gerade Tag war. Er bedankte sich und machte sich auf den Weg. Unterwegs legte er mehrmals Rast ein, um die vielfältige Schönheit seiner Frau zu bewundern. Dennoch, irgendwie schien ihm, als wären die Pflanzen kraftlos, und viele Tiere wirkten erschöpft. Beunruhigt eilte er weiter. Kaum kam er auf der anderen Erdseite an, war es dort bereits wieder Nacht. Müde von der Wanderung setzte sich Vater Himmel auf einen Hügel, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Als am nächsten Morgen die Vögel zu singen begannen, tauchte auch seine liebe Frau wieder auf.

      Vater Himmel erschrak, denn hatten die Pflanzen und Tiere schon einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht, so sah seine Frau wirklich krank aus. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, ihre Haut war trocken und faltig, das einst dichte Haar war stumpf und licht geworden, ihre Stimme schwach. Zögernd nahm er seine Frau zur Begrüßung in die Arme. "Meine Liebste, was ist mit dir geschehen?", fragte er besorgt.

      Sie sah ihn verwirrt an. "Wieso fragst du?"

      Vater Himmel räusperte sich etwas verlegen, denn es hatte sich noch nie als ratsam erwiesen, einer Frau zu sagen, dass sie gerade fürchterlich aussah - selbst wenn es der Wahrheit entsprach. "Nun … du siehst erschöpft aus", meinte er zögernd. "Willst du dich nicht ein wenig zu mir setzten?"

      Doch Mutter Erde winkte mit einem Lächeln ab. "Oh, ich habe bloß viel zu tun und leider auch keine Zeit für ein Gespräch."

      Ihr Ehemann hatte eine solche Antwort befürchtet. "Das mag wohl so sein, aber sag mir, was hast du denn so Wichtiges zu erledigen?"

      Mutter Erde sah ihn verständnislos an. "Sie brauchen mich, all die Blumen und Bäume, die Tiere, Flüsse und Seen. Ich muss auf sie aufpassen, damit sie stark und gesund heranwachsen. Ohne mich würden sie alle sterben."

      Vater Himmel nickte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Natürlich war ihm klar, dass das Leben aus Mutter Erdes Leib geboren wurde. So dachte er kurz nach, wippte dabei leicht auf seinen Fußsohlen vor und zurück. "Du hast selbstverständlich recht", sagte er schließlich. "Gleichwohl, wenn es wieder Nacht wird, hast du sicherlich Zeit."

      Da lachte seine Frau erheitert auf, schüttelte den Kopf. "Wenn es hier Nacht ist, dann ist es auf der anderen Seite Tag und ich werde dort gebraucht."

      Vater Himmel seufzte niedergeschlagen. "Stimmt, das habe ich ganz vergessen. Sag mir, wann hast du einmal eine Pause?"

      Nun sah Mutter Erde ihren Mann beinahe erbost an. "Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Pause. Wenn du mich entschuldigst, ich habe einiges zu tun."

      So schritt sie einfach von dannen und ließ einen zutiefst bestürzten Ehemann zurück. Für eine geraume Weile blieb dieser wie festgefroren stehen. Tief betroffen von der Aussage seiner Frau erkannte Vater Himmel, was das pausenlose Arbeiten seiner Frau für Folgen nach sich ziehen würde. Wenn Mutter Erde nie etwas Zeit für sich hatte, konnte sie sich auch nie erholen, um zu neuen Kräften zu kommen. Sie wäre auch nie fähig, Altes hinter sich zu lassen, um Neues zu erschaffen. Irgendwann hätte sie all ihre Ressourcen aufgebraucht und genau wie ein Gewässer würde sie erst stillstehen, danach trüb werden, um schließlich zu verdunsten, und dann … nun, dann würde es bald kein Leben mehr geben. Ebenso wenig wie eine Mutter Erde.

      Nein, Vater Himmel würde nicht tatenlos zusehen, wie sich seine liebe Frau zu Grunde richtete. Er beschloss den Großen Geist3, unser aller Schöpfer, um Rat zu fragen. Sicherlich würde der Große Geist eine Lösung wissen. Also bat mein Vater mich, den Wind, die Wolkenwand noch eine Weile aufrechtzuerhalten.

      Vater Himmel ging zum Großen Geist und trug sein Anliegen vor. Der Große Geist war sehr besorgt. Er versprach Vater Himmel, etwas dagegen zu unternehmen. Einigermaßen beruhigt, nahm Vater Himmel also seinen Platz wieder ein und wachte weiter über seine liebe Ehefrau. Ich genoss meine Freiheit, achtete aber weiterhin darauf, meiner Mutter mit wilden Stürmen nicht noch mehr Arbeit aufzuhalsen. Währenddessen eilte Mutter Erde ohne Unterlass geschäftig hin und her. Sie kümmerte sich liebevoll um jedes Pflänzchen und Steinchen, besuchte den Nachwuchs der Tiere und wurde dabei immer schwächer. Die Farben begannen zu verblassen, die Blumen brachten nur noch kleine Blüten hervor und bald fehlte es überall an Nahrung. Es ging sogar so weit, dass Mutter Erde gelegentlich einfach einnickte. Dann gab es für einige Tage keine neuen Triebe mehr.

      In all dieser Zeit hatte sich der Große Geist Gedanken gemacht und nach einer Lösung zum Wohle des Ganzen gesucht. Als er dann eine gefunden hatte, bat er uns um unsere Mithilfe.

      "Meine Kinder", sagte er, "hört mich an. Wind, mein Enkel, du wirst deine vier Windkinder in vier Richtungen verteilen. Sie sollen zu den vier Himmelsrichtungen - Norden, Osten, Süden und Westen - werden und ein jeder steht für eine Jahreszeit.

      Eine große Flut wird kommen und Mutter Erde wird gestärkt daraus hervorkommen; denn von diesem Tag an soll sie vier Wechsel erhalten, welche sich immer wiederholen. Es wird eine Zeit des Wachstums, der Geburten und des Blühens geben. Die erste Zeit wird den Namen Frühling tragen und der Ostwind wird sein Wächter. Es werden die kraftvollsten Tage sein, eine Zeit für Neuanfänge. Während dieser Tage steht alles in voller Größe, um Energie für den nächsten Wechsel zu sammeln. Danach wird der Sommer folgen, eine Zeit der Wärme und des Lichts unter dem Schutz des Südwindes. Es soll eine freudige und festliche Zeit sein, mit langen Tagen und kurzen Nächten. Nach Ablauf des Sommers wird der bunte Herbst mit dem Westwind Einzug halten. Pflanzen und Tiere beginnen sich auf die längeren Nächte vorzubereiten und ihre Kräfte zu schonen. Die Bäume werden ihre Blätter abwerfen, um den nackten Erdboden für die Zeit danach zu schützen. Sie dürfen ein letztes Mal in herrlichen Farben erstrahlen, zu Ehren der Sonne und des Lebens. Was dann kommt, wird die Zeit der Stille und Erholung sein. Der Winter wird Mutter Erde sowie allem Leben auf ihr die Gelegenheit geben, sich auszuruhen, nachzudenken und zu schlafen. Du, Vater Himmel, wirst deine Frau mit weißem, kühlem Schnee bedecken und weiterhin über sie wachen, während sie ruht. Dabei wird dir der kalte Nordwind helfen. Von nun an haben sich alle Lebewesen auf Mutter Erde an diesen Rhythmus zu halten. Die Wechsel dienen dem Schutz von Mutter Erde, ebenso wie der Sicherheit des Lebens. Du, Vater Himmel, und du, Wind mit deinen vier Kindern, seid dafür verantwortlich, die Pflanzen und Tiere daran zu erinnern. Ihr werdet die Wechsel einläuten und dafür sorgen, dass sich