dessen Richtung.
"Komm, setz dich eine Weile zu mir", meinte der Berg. Sogleich erschien im Stein ein schmaler Weg, der in die Höhe führte.
Langsam erhob sich der junge Mann. Vom langen Sitzen schmerzten seine Glieder und er fühlte sich noch leicht benommen. Doch es war unhöflich, einen Weisen lange warten zu lassen. Also hob der junge Mann seine Ledertasche auf, um sich schweigend auf den Weg nach oben zu machen. Lange folgte er dem Pfad, immer höher und höher, Biegung um Biegung. Die Sonne brannte heiß auf den nackten Felsen hinab, der Wind stand beharrlich still. Nach einer Weile zitterte der junge Mann vor Anstrengung am ganzen Leib. Aber aufgeben lag nicht in seiner Natur und so setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich auf dem Gipfel ankam.
Ein einzelner Fels wuchs aus der Mitte und erschöpft setzte sich der junge Mann darauf. Die Luft hier oben war wundervoll erfrischend. Er fühlte sich dem Himmel näher als je zuvor. Verträumt ließ er seinen Blick über den Horizont schweifen, während sich sein erschöpfter Körper wieder erholte. Die ganze Zeit über war sich der Flötenspieler der großen Ehre bewusst, welche ihm hier zuteilwurde. Noch nie zuvor hatte er gehört, dass der Berg einem Menschen Zutritt auf seinen Leib gewährt hatte.
"Erzähl mir von deinem Leben, Menschenmann", erklang Aikarupatas körperlose Stimme von neuem.
Nur zu gerne kam der junge Mann der Aufforderung des Weisen nach. So begann er mit seiner Geschichte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Er berichtete dem Berg von den Erzählungen, die seine Mutter ihm weitergegeben hatte. Wie sie damit die langen Winterabende ausgefüllt hatte. Oder wie ihn seine Mutter während der großen Sommergewitter mit Legenden über den Weisen hatte beruhigen können. "Hoksila"5, pflegte sie dann zu sagen, "hab keine Angst. Aikarupata ist stark und weise. Er wird den Himmel für uns halten, damit die Donnerwesen nicht auf den Boden fallen können."
Der Flötenspieler nahm Aikarupata mit auf seine Reisen vom Kind zum Mann. Mit leuchtenden Augen sprach er über seine erste Hanblechia6, seine Visionssuche, über die Traditionen seines Volkes und die Liebe zu seiner Familie. Er erklärte dem Berg, wie wichtig es für die Menschen war, das Leben mit Respekt zu behandeln, aber wie schwierig es manchmal sein konnte, gegen die eigenen Schatten ankämpfen zu müssen. Er schwärmte vom klaren Sternenhimmel genauso wie von den hellen Sonnenstrahlen.
Schweigend hörte Aikarupata zu. So hatte noch kein Mensch zu ihm gesprochen. Alle waren sie immer mit Fragen gekommen, in der Erwartung auf eine Antwort. Hier jedoch saß ein Mann, noch so jung an Jahren, der seinen Platz in der Welt kannte. Auch dank der Geschichten um ihn, den wachenden Weisen. Aikarupata war zutiefst beeindruckt. Gleichwohl, dass die Rasse der Menschen zu den jüngsten auf Mutter Erde zählte, begannen sie ihn trotz ihrer Absonderlichkeiten auf einmal zu faszinieren.
Er erkannte, dass der Mensch liebevoll und zerstörerisch zugleich sein konnte. Auf der anderen Seite konnte er auch gütig sein, seinen Respekt dem Leben gegenüber zeigen. Da erkannte Aikarupata das sensible Gleichgewicht zwischen den Menschen und Mutter Erde. Er wusste, dass die Menschen gekommen waren, um über die gütige Mutter zu wachen. Nun erkannte er einen Grund für die Existenz dieser Zweibeiner. Sie würden an seiner statt für das Land sorgen, es in Ehren halten und von ihm leben. Es sollte eine Verbindung werden, die alle Generationen mit einschließen wird. Aber waren sie dieser Aufgabe auch würdig?
Als der junge Mann mit seiner Erzählung am Ende angelangt war, stand die Mondfrau bereits wieder rund und voll am Himmel. Berg und Mensch betrachteten eine Weile den klaren Nachthimmel.
"Sag mir, Flötenspieler", fragte da Aikarupata in die Stille hinein, "was bedeutet dir diese Flöte in deiner Hand? Euch beide verbindet eine tiefe Harmonie, die ich gerne verstehen würde."
Der junge Mann fühlte sich geehrt, dass der Weise etwas von ihm lernen wollte. Deshalb überlegte er sich seine nächsten Worte genau, damit der Berg seine Sichtweise erfassen konnte.
"Wir wissen", begann er mit fester Stimme, "dass alles seinen Platz hat. Der Große Geist ist überall zu Hause. Die Erde hält uns so sicher wie eine Mutter ihr Kind. Alles ist voneinander abhängig, ist miteinander verwandt - Mitakuye Oyasin7. Die Flöte nennen wir Siyotanka8, denn sie war ein Geschenk vom Großen Geist an unsere Leute. Wir kennen viele Legenden dazu, eine will ich dir erzählen: Es gab einst einen verliebten jungen Mann. Er war so verliebt in eine junge Frau gewesen, dass ihm bei ihrem Anblick jedes Mal die Worte fehlten. Der Große Geist hatte ihn gesehen und Mitgefühl mit ihm empfunden. Damit der junge Mann trotzdem zu seiner Angebeteten sprechen konnte, hatte er einen Specht auf den Ast eines großen Baumes gesandt. Darunter hatte der junge Mann gesessen. Als nun der Wind durch den hohlen Ast wehte, entstand ein seltsames Geräusch. Der junge Mann hatte nie zuvor einen lieblicheren Klang gehört. Bald hatte er den hohlen Ast mit dem Specht entdeckt. Gleich darauf hatte der Specht begonnen, Löcher aus dem hohlen Ast zu picken. Mit jedem neuen Loch waren weitere Töne entstanden, obwohl der Wind stets gleich stark geblasen hatte. So also war der Mann auf den Baum geklettert, um den Ast vorsichtig abzubrechen. Ehe der Specht davongeflogen war, lehrte er den Mann, wie er die Flöte zu spielen hatte. Der Mann hatte sich beim Großen Geist für das Geschenk bedankt ebenso wie beim Specht, welcher die Löcher mit großem Geschick gepickt hatte. Als er nun wieder ins Lager zurückgekommen war, spielte er auf der Flöte für seine Angebetete. Er spielte von ganzem Herzen, so dass sie sich ebenfalls in ihn verliebte und ihn zum Mann nahm."
"Flötenspieler", meinte Aikarupata daraufhin, "nun wird mir einiges klar. Oft schon konnte ich beobachteten, wie Männer für eine Frau auf der Flöte gespielt haben."
Da musste der junge Mann lächeln. "Ja, unsere Frauen haben die Macht, Leben zu schenken, und so haben unsere Flöten die Macht, genau dies zu bezwecken, indem sie uns Männern helfen, eine Frau zu gewinnen. Denn die Stärke eines Mannes liegt nicht immer in seinen Worten. Oft verfallen wir sogar in betretenes Schweigen, wenn wir uns verlieben. Deshalb fertigen wir uns eine Flöte nur für unsere Angebetete und spielen für sie. Die Klänge einer Flöte können nicht lügen und unsere Frauen sind klug. Sie erkennen es gleich, wenn jemand sie nur aus Selbstsucht will. Bist du aber reinen Herzens, so kannst du mit deinem Spiel ihr Herz berühren und dann wird sie sich zu dir setzen."
Aikarupata schwieg und dachte nach. Wie seltsam, aber auch tiefgründig diese Menschen doch waren. Wäre er nicht so stur gewesen, er hätte sie gerne besser kennengelernt.
"Weißt du, für mich", meinte der Flötenspieler auf einmal, "repräsentiert die Flöte den mystischen Atem, der ein- und ausströmt. Dieser Atem ist wie der Fluss des Lebens, das Eintauchen der Seele in die Materie. So haben es mich meine Großeltern gelehrt und ich habe es nie angezweifelt. Wirklich verstanden jedoch habe ich es erst, als ich selbst spielte."
Der Weise dachte nach. Während er dies tat, konnte der Flötenspieler fühlen, wie die Achtung des Berges vor den Menschen um ein Vielfaches gewachsen war. Doch eine Sache wollte Aikarupata noch wissen. "Sag mir, Flötenspieler, was erwartest du von deinem Leben?"
Die Frage des Berges verblüffte und freute den jungen Mann gleichermaßen. "Eine liebe Frau, Freunde, genügend zu essen und viele Kinder, die mich zum Lachen bringen."
Aikarupata lachte leise. "Das sind bescheidene Wünsche, mein Freund."
Der junge Mann musste ebenfalls lachen. "Das mag sein. Wenn ich jedoch daran denke, dass jeder Tag, an dem ich lebe, ein Geschenk ist, was mehr kann ich mir da wünschen? Außer dass ich dieses Glück vielleicht eines Tages an meine Kinder weitergeben kann."
"Kinder", sagte der Berg leise. "Sag mir, Flötenspieler, wenn du gehen musst, wer sorgt dann für deine Kinder?"
"Meine Leute", antwortete der junge Mann ohne Zögern. "Kinder sind unsere Zukunft und von ihnen kann man eine Menge lernen. Ihr Lachen und ihre Neugierde erinnern uns daran, dass wir im Vergleich zum Großen Geist alle Kinder sind." Der junge Mann hob die Flöte vor sein Gesicht, betrachtete sie fasziniert. "Ich glaube, deshalb hat der Große Geist uns die Flöte zum Geschenk gemacht."
Nachdem der junge Mann gesprochen hatte, seufzte Aikarupata erleichtert. Er hatte beschlossen, den Menschen ein großes Geschenk zu machen, denn nun hatte er Gewissheit und konnte in Ruhe gehen, ohne