Katrin Ulbrich

Das Auge des Panthers


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      Angefangen hatte er bei der LVZ als Dresdenkorrespondent. Inzwischen war er festangestellter Reporter und ging in seinem Beruf auf. Er liebte es nachzuforschen, zu berichten und seine Erkenntnisse niederzuschreiben.

      Mit seinen einsachtzig war er großgewachsen und drahtig. Hinter seiner runden Brille blitzte ein Paar eisvogelblauer Augen. Seine dichten Haare waren seitlich gescheitelt, weil er fand, dass ihm das besser stand als der vor einigen Jahren in Mode gekommene Mittelscheitel. Er ging nie ohne einen Notizblock und einen Bleistift aus dem Haus. Und sein bester Freund war ein kleiner, in die Jahre gekommener Terrier, der bei seiner Schwester Lotte in einem Haus am Rande von Leipzig lebte, wo er viel Auslauf im Grünen hatte.

      Konrad Katzmann wollte gerade Feierabend machen, als Eugen Leistner, der Chefredakteur der LVZ , vor seinem Schreibtisch auftauchte. «Ich brauche einen Kommentar zum Briand-Kellog-Pakt, Genosse Konrad!»

      «Jetzt noch?»

      «Aber nein, in vier Wochen reicht es völlig. Unsere Leser sind ja bekannt für ihre Geduld … Nein, natürlich jetzt noch! Ich brauche ihn für die Abendausgabe. Wir haben ein Loch, weil dieser verflixte Kulturredakteur nicht rechtzeitig geliefert hat.»

      Katzmann griff zum Notizblock, während er in Gedanken bereits einen Aufhänger für den Kommentar suchte. An seinen Feierabend war vorerst nicht zu denken.

      In den vergangenen Monaten war der Briand-Kellog-Vertrag fast täglich ein zentrales Thema in der Zeitung gewesen. Es handelte sich um einen Kriegsächtungspakt, der nach langem Hin und Her vor wenigen Wochen in Paris unterzeichnet worden war. Darin verpflichteten sich die teilnehmenden Staaten, den Krieg niemals zum Werkzeug ihrer Politik zu machen, sondern Streitigkeiten friedlich zu lösen. Angriffskriege waren damit ausgeschlossen. Der Vertrag ließ nur die Möglichkeit zur Selbstverteidigung offen. Neben den USA, Australien und acht weiteren Staaten gehörte auch das Deutsche Reich zu den Unterzeichnern.

      «Halte nicht mit deiner Meinung hinter dem Berg, Genosse Konrad», verlangte Leistner und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. «Dieser Pakt ist viel mehr als nur ein Mittel gegen den Krieg. Er ist eine Taktik!»

      «Aber in erster Linie soll damit der Frieden zwischen den Völkern gesichert werden.»

      «Eben nicht! Nach dem Weltkrieg ist das Deutsche Reich gerade dabei, erneut zu erstarken. Es ist auf dem besten Weg, wieder eine Vormachtstellung in Europa einzunehmen, und das ist so manchem ausländischen Staatsmann ein Dorn im Auge. Was glaubst du denn, warum sich der französische Außenminister Briand um diesen Vertrag bemüht hat? Er will durch einen völkerrechtlichen Vertrag mit den USA die Machtposition seines Landes stärken. Es geht ihm weniger darum, den Krieg zu ächten, als vielmehr darum, seinem Land in Europa eine stärkere Stimme zu verschaffen.»

      «Das glaube ich nicht», wandte Katzmann ein. «Dieser Vertrag wird seinen Teil dazu beitragen, den Frieden auf der Welt zu sichern. Das sollten wir nicht vergessen.»

      «Aber das will kein Mensch mehr lesen! Schreib mir einen Artikel mit Biss, sonst muss ich dich wohl ab morgen die Todesanzeigen bearbeiten lassen …»

      «Aber die Gefahr eines Krieges ist das zentrale Thema des Vertrags. Ich bezweifle, dass bloßes Taktieren dahintersteckt.» Katzmann blieb ruhig. «Ein weiterer Krieg muss unbedingt verhindert werden.»

      «Große Worte von einem Mann, der nie an der Front war. Du weißt doch gar nicht, wovon du redest, Genosse Katzmann.»

      Der Reporter biss die Zähne zusammen. Leistner schien heute besonders angriffslustig zu sein. Und er hatte einen wunden Punkt getroffen: Denn Katzmann war bereit gewesen, im Krieg von 1914 seinen Beitrag zu leisten, aber er war ausgemustert worden. Mit seinem Asthma hatte man ihm den Dienst verwehrt. Seine Mutter hatte das als Glücksfall betrachtet. Sie war froh gewesen, dass Katzmann nicht ins Feld geschickt wurde. Für seinen Vater indes war es eine Schmach: Er schämte sich immer noch dafür, dass sein Sohn nicht für sein Vaterland gekämpft hatte.

      Katzmann hielt eine herbe Erwiderung zurück und antwortete Leistner nur: «Du kennst meine Ansicht. Und etwas anderes werde ich auch nicht schreiben.»

      «Also schön, wie du willst. Aber mach ein bisschen flott! In einer halben Stunde brauche ich den Kommentar auf meinem Schreibtisch.» Damit wandte sich Leistner um und kehrte in sein Bureau zurück, das nur durch eine Glasscheibe von den übrigen Redakteursplätzen getrennt war. So konnten nun alle sehen, wie er sich an seinen Schreibtisch setzte und auf seiner Schreibmaschine herumhackte.

      «Der ist heute aber gut gelaunt», murmelte Rolf Hofer. Der Sportredakteur hatte seinen Schreibtisch neben dem von Katzmann stehen und ein gutmütiges Grinsen im Gesicht.

      Katzmann winkte ab.

      «Mit seinem hohen Blutdruck ist er viel zu schnell auf hundertachtzig. Wäre kein Wunder, wenn er mal einen Herzkasper bekäme.» Sein Kollege angelte sich einen Apfel aus seiner Schreibtischschublade und polierte ihn an seinem Hemdsärmel. Dann runzelte er plötzlich die Stirn. «Oh, ich glaube, da ist noch mehr Ärger im Anmarsch!»

      «Wie meinst du das?»

      «Sieh doch mal zur Tür», gab Rolf ihm einen unauffälligen Wink. «Hast du vielleicht den Geburtstag deiner Freundin vergessen?»

      «Nein, wieso?»

      «Weil sie gar nicht glücklich aussieht. Wenn Blicke töten könnten, hätten wir im Handumdrehen die Polizei im Haus.»

      Konrad Katzmann wandte sich verwundert um und stutzte. Eine bildhübsche junge Frau in einem Regenmantel kam gerade herein. Auf ihrem braunen Bubikopf saß eine Kappe aus Samt, die mit einer Stoffblüte geschmückt war. Ihr blasses Gesicht wurde von leuchtenden grünen Augen dominiert. Als ihr Blick auf ihn fiel, schürzte sie missbilligend die roten Lippen.

      Katzmann ahnte nichts Gutes. «Frieda, was machst du denn hier?»

      «Was ich hier mache?», echote sie. «Sag bloß, du hast es vergessen!»

      «Was denn?»

      «Also hast du es vergessen!» Sie seufzte leise. «Ich sollte wohl froh sein, dass du überhaupt noch weißt, wer ich bin …»

      «Was habe ich denn verbrochen?»

      «Du wolltest mich heute zum Polterabend meiner Freundin Hedwig begleiten.»

      Die Besucherin stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Dabei sah sie so reizend aus, dass Katzmann sie am liebsten in den Arm genommen und geküsst hätte. Doch das ließ er wohlweislich bleiben.

      Frieda Schneider hatte als Näherin angefangen und einige Jahre als Assistentin des Künstlerischen Leiters in einem Leipziger Varietétheater gearbeitet. Nachdem das Theater vor zwei Jahren in mehrere Mordfälle verwickelt worden war, hatte sie kurzerhand gekündigt und war in den Modesalon Gerstenberger gewechselt, eine der ersten Adressen von Leipzig, wenn es um Stil und Mode ging. Nach einigen Turbulenzen war sie seine Freundin geworden und gehörte nun seit über zwei Jahren zu seinem Leben. In letzter Zeit jedoch hatten sie sich kaum noch gesehen. Und das hatte auch seinen Grund: Er war ihr aus dem Weg gegangen.

      «Polterabend?», fragte er irritiert. «Ist das schon heute?»

      «Ja, natürlich! Hast du wirklich nicht mehr daran gedacht?»

      «Das tut mir leid. Ich dachte, das wäre erst nächste Woche. Ich habe so viel Arbeit um die Ohren, dass ich den Termin verwechselt haben muss.»

      «Kannst du dir nicht schnell noch freinehmen?»

      «Das geht leider nicht. Nach Feierabend fahre ich gleich nach Chemnitz.»

      «Was machst du denn in Chemnitz?»

      «Ich besuche einen alten Schulkameraden. Max hat dort eine Bar und wünscht sich schon lange, dass ich mal ein paar Tage zu ihm komme. Wir wollen ins Erzgebirge fahren, ein bisschen wandern gehen und die Seele baumeln lassen.»

      «Dann sehen wir uns ja tagelang nicht!»

      «Ja, aber das wusstest du doch.»

      «Eben nicht! Ich würde mich bestimmt