Katrin Ulbrich

Das Auge des Panthers


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stand da in großen bunten Lettern. Kommen Sie! Sehen Sie! Staunen Sie! Erleben Sie zwei Stunden, von denen Sie noch Ihren Enkeln erzählen werden!

      Ein Zirkus gastierte also in der Stadt. Genauer gesagt auf dem Jahrmarktsplatz an der Planitzstraße. Wo ist das noch gleich?, grübelte der Reporter. Ach ja, hinten bei den Kasernen am Zeisigwald. Das war ein Stück von hier entfernt, aber nicht aus der Welt.

      Vielleicht eine halbe Stunde zu Fuß. Und nach dieser schmerzhaften Prozedur wäre heute Abend ein wenig Entspannung genau das Richtige. Er beschloss, an diesem Abend den Zirkus aufzusuchen. Dabei ahnte er noch nicht, dass er dort vieles finden würde – nur keine Entspannung …

      «MISTWETTER!» Missmutig vergrub Max Wachtler die Fäuste in den Taschen seiner Lederjacke. «Ich frage mich wirklich, was wir hier machen.»

      «Wir schauen uns eine Vorstellung im Circus Rosario an.» Katzmann schob seinen Freund zwischen den Bankreihen hindurch zu zwei Logenplätzen. Er hatte die teuersten Karten gekauft, um sich für die Einladung nach Chemnitz zu bedanken. Allerdings war sein Freund alles andere als begeistert von der Aussicht, zwei Stunden im Zirkus zu verbringen.

      «Ich habe keinen Sinn für solchen Unsinn», moserte er.

      «Wann warst du denn das letzte Mal im Zirkus?»

      «Noch nie.»

      «Noch nie? Dann wird es aber höchste Zeit! Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht. Es wird dir gefallen, versprochen. Oder machst du dir Sorgen um deine Bar?»

      «Nein, die ist in guten Händen. Ich habe meine Angestellten sorgfältig ausgesucht, die kommen auch mal einen Abend ohne mich klar. Allerdings wäre ich jetzt lieber mit dir im Wald.»

      «Ich auch, aber bei diesem Wetter können wir ohnehin nicht wandern gehen.»

      «Das ist auch wieder wahr.» Max fuhr sich durch die Haare, die ihm regennass am Kopf klebten.

      Gegen Abend war der Regen sogar noch stärker geworden. Im Innern des Zirkuszeltes spürte man jedoch nichts davon. Es war angenehm warm und trocken, und es roch nach Sägespänen, Leder, Schmieröl und einem Hauch Dung.

      Allmählich füllten sich die Reihen. Zuschauer unterhielten sich, knabberten kandierte Äpfel und reckten die Hälse, um einen Blick auf die Artisten zu erhaschen, wenn der Vorhang am Rand der Manege ein wenig zur Seite geweht wurde.

      Vor dem Eingang hatte man Bretter ausgelegt und Sägespäne verstreut, um den Zuschauern einen sicheren Tritt zu gewährleisten. Der Jahrmarktsplatz war nach dem Regen verschlammt. Wer von einem der Bretter abrutschte, drohte bis zum Knie im Schlamm zu versinken.

      Der Circus Rosario lockte Groß und Klein in sein Zelt. Schon bald waren die Bankreihen voll besetzt, und im hinteren Teil mussten sogar einige Zuschauer stehen.

      Ein Tusch ließ das Stimmengewirr verstummen. Das Licht wurde gelöscht, nur ein einzelner Strahl fiel noch auf den Zirkusdirektor in der Manege. Er war ein Bär von einem Mann. Mit einem üppigen schwarzen Schnurrbart und Schultern, die breit genug waren, einen Ochsen zu stemmen. Trotz des herbstlich trüben Wetters war seine Haut braun, was südländische Wurzeln vermuten ließ. Er trug ein glitzerndes Jackett und schwenkte einen Zylinder in der Hand.

      «Herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Kommen Sie mit mir in die Traumwelt des Circus Rosario! Lassen Sie sich verzaubern von atemberaubender Akrobatik in schwindelnder Höhe, von zwerchfellerschütternder Clownerie und von gefährlichen Raubtieren, denen Sie heute Abend so nahe kommen werden wie noch niemals zuvor in Ihrem Leben!»

      Katzmann hörte seinen Freund gelangweilt knurren. Doch es dauerte nicht lange, dann saß Max wie gebannt auf seinem Platz. Die erste Nummer begann, und was die Artisten zeigten, war sensationell. Ein Akrobat hing kopfüber am schwingenden Trapez und wirbelte eine zierliche Frau durch die Luft, ließ sie dann unerwartet los, worauf sie sich dreimal um sich selbst drehte. Im nächsten Augenblick fing ein zweiter Akrobat sie wieder auf –

      ebenfalls kopfüber.

      «Wahnsinn, warum nehmen die denn kein Netz?», murmelte Max. «Es ist doch lebensgefährlich, was sie da machen! Wenn die Frau aus dieser Höhe abstürzt, bricht sie sich höchstwahrscheinlich das Genick.»

      «Sie verzichten für das Publikum darauf», mutmaßte Katzmann. «Mit einem Netz wäre die Nummer interessant, aber ohne ist sie schlichtweg atemberaubend.»

      «Woher weißt du denn das?»

      «Ich hab es mir zusammengereimt.» Er lehnte sich zurück. Die nächsten Nummern flogen an ihm vorüber, und jede war auf ihre Art faszinierend.

      Während einer kurzen Pause bauten Helfer ein Gitter rings um die Manege auf. Und dann kündigte der Direktor eine weitere Attraktion an. Fünf schwarze Panther wurden zu ihm in die Manege gelassen. Mit langen Sätzen stürmten sie herein, umrundeten ihn einmal, wirbelten Sägespäne auf und ließen eine Frau in der ersten Reihe erschrocken aufschreien.

      Der Direktor stand wie ein Felsen in der Mitte. Ein Peitschenknall, und die Panther sprangen auf ihre im Kreis aufgestellten Hocker. Ein weiterer, und sie wechselten synchron ihre Plätze. Geschmeidig und anmutig. Ihr schwarzes Fell glänzte im Licht der Scheinwerfer. Mit knappen Befehlen hielt der Dompteur die glänzenden schwarzen Körper in Bewegung. «Du bist dran, Danu!»

      Als der Panther seinen Namen hörte, sprang er mit einem Satz auf ein mannshoch aufgespanntes Seil und balancierte darüber, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Dann kehrte er auf seinen Platz zurück.

      Nun wirbelte eine junge Frau in den Käfig. Grazil, mit rötlichen Locken und in einem knappen Kleid, das mit glitzernden Stickereien versehen und am Saum mit Fell besetzt war. Es war so kurz, dass es mehr von ihren schlanken Beinen enthüllte, als es verbarg. In der Hand hielt sie einen brennenden Reifen. «Komm schon, Balor!»

      Einer der Panther sprang durch ihren Reifen und wurde mit einem lobenden Zuruf belohnt.

      «Und nun legt euch alle hin!»

      Auf das Geheiß des Dompteurs rollten sich die Panther einer neben dem anderen zu Füßen der Assistentin aus. Sie warf den Reifen einem Helfer zu, winkte kurz ins Publikum und legte sich mit einer geschmeidigen Bewegung zwischen die Raubkatzen. Sie schlang ihre zarten Arme um einen der Panther. Er fauchte und zeigte seine spitzen Zähne.

      Katzmann hielt den Atem an. Kaum eine Handbreite trennte das anmutige Gesicht der Assistentin von den todbringenden Reißzähnen des Raubtieres. Sein Herz hämmerte plötzlich heftig gegen seine Rippen. Wenn sich das Biest vergaß, würde es das bildschöne Antlitz zerstören …

      Da stieß ihn sein Freund plötzlich an. «He, du bist ja noch schlimmer als die Panther!»

      «Was? Wieso?»

      «Du verschlingst sie ja förmlich mit den Augen.»

      «Wovon redest du eigentlich? Ich bewundere nur die Panther.»

      «Von wegen! Wen du bewunderst, ist unschwer zu sehen.» Katzmann winkte ab und hätte fast verpasst, wie die Assistentin mit einer fließenden Bewegung aufstand und die Raubkatzen aus der Manege lotste. Während die Helfer den Käfig abbauten, wirbelte ein Clown durch die Zuschauerreihen und machte mit ihnen seine Späße.

      Katzmann verspürte den Drang, sich zu erleichtern. «Bin gleich wieder da», murmelte er und schob sich kurzerhand durch die Zeltklappe ins Freie.

      Es regnete noch immer, und so stülpte er seinen Hut auf und sah sich suchend um. Ob es hier einen Abort gab?

      Niemand war zu sehen, den er fragen konnte. Er eilte die Stufen vom Zelt hinunter und folgte den Brettern zum Eingang. Doch auch hier war kein Mensch zu sehen. Vermutlich verfolgten die meisten Zirkusleute die Darbietungen. Oder sie waren vor dem Regen ins Warme geflüchtet.

      Suchend drehte sich der Reporter im Kreis und steuerte dann kurzentschlossen auf die Wohnwagen zu, die rings um das Zirkuszelt aufgebaut waren. Irgendwo musste er doch jemanden finden, den er fragen konnte!