Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes.
Katzmann setzte sich und zog die Vossische aus der Tasche. Gestern Abend hatte er keine Zeile mehr gelesen. Schlafen hatte er die ganze Nacht auch nicht können, und trotzdem fühlte er sich nicht müde. Die Schläfrigkeit übermannte ihn bestimmt nachher im Bureau. Er blätterte zum Wirtschaftsteil, bis dahin war er gestern gekommen.
Er hielt die Zeitung vor die Augen, aber die Konzentration war weg. Das ungeborene Kind geisterte durch seinen Kopf. Würde er weiterhin nach Leipzig fahren können, Woche für Woche? Ein Kind brauchte die starke Hand des Vaters, das schien ihm klar. Aber traf das auch auf ein Neugeborenes zu, oder musste er sich erst in die Erziehung einschalten, wenn das Kind laufen konnte? Oder sprechen? Und wann lernte so ein Wurm das? Vielleicht redete er mit seiner Schwester darüber, wenn er am Wochenende wieder in Dresden weilte. Er widmete sich vorerst seiner Vossischen Zeitung und überblätterte die Seiten mit den Anzeigen. Auf der Kulturseite las er:
In Dresden hat sich auf der Lüttichaustraße eine neue Galerie Sandl aufgetan. Sie hat sich ein wichtiges und viel zu lange vergessenes Ziel gesetzt: sich für die jungen, noch wenig bekannten Maler Dresdens einzusetzen.
«Die Welt geht kaputt. Oder meinen die Liberalen etwas anderes?» Der Dicke mit der Melone sprach langsam, als wolle er den Niedergang mit Behäbigkeit bremsen.
Katzmann blickte auf und entgegnete: «Ich weiß nicht recht. Bei der Vossischen ist auch Krise. Aber die Redaktion meint wohl, das geht vorüber.»
«Pah.» Der Dicke prustete aus vollen Backen und erinnerte dabei an einen Hamster.
«Sie glauben das nicht?» Katzmann verspürte keine Lust auf Konversation. Und wenn er sich schon unterhielt, wollte er sein Gegenüber ausfragen.
«Es liegt doch auf der Hand, dass von selbst keine Lösung kommt.»
«Nun, die Regierung hat über die Kriegsschulden verhandelt, sie spart, drückt die Löhne …»
«Halbherzige Kompromisse gehen diese Schwächlinge ein!» Der Dicke wurde lauter, die Frau ergriff seinen Arm. «Ist doch wahr, Hildegard. Die lassen das Reich vor die Hunde gehen!»
Katzmann legte die Zeitung beiseite. Er schaute den Dicken an. Es lag eine Provokation in dessen Blick, auf die Katzmann nicht eingehen wollte. Also zuckte er mit den Schultern.
«Auch ihre liberalen Freunde werden einsehen müssen, dass unser Vaterland eine starke Führung braucht!» Der Dicke schob die Hand der Frau beiseite. «Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät.»
Der Mann hielt ihn für einen Liberalen – Katzmann merkte, wie er lächelte. Auch in der Redaktion der LVZ verachteten viele die Republik. Dort wurde gefordert, das Kapital müsse an die Ketten gelegt werden, und Ähnliches. Vielleicht griff er deswegen an den Wochenenden zur Vossischen, und selbst unter der Woche ging er in letzter Zeit häufiger zum Leipziger Bahnhof, um sich das Blatt aus Berlin zu holen. Wenn ein Kollege ihn dabei erwischte, behauptete er, den politischen Gegner im Blick behalten zu wollen. Ihm wurde zunehmend egal, ob einer der Kollegen das glaubte. Und der Dicke interessierte ihn im Moment auch nicht im Geringsten.
«Auch in der Krise geht morgens die Sonne auf», sagte Katzmann und beendete das Gespräch, indem er die Zeitung vors Gesicht hob.
In der Gartenkolonie pfiff der Wind zwischen den Lauben. Eggebrecht fuhr mit dem Fahrrad über den Schotter. Das widersprach den Regeln der Kleingartensparte «Dr. Schreber», aber es war Montagvormittag, eigentlich konnte niemand hier sein. Außerdem drückten die Schrauben, die Nägel und das Werkzeugbund im Rucksack auf seinen Buckel, diese Last wollte er so schnell wie möglich loswerden. Er bog in Richtung des zentralen Platzes ab. Inmitten der Gartenanlage stand die Kneipe neben einem Kinderspielplatz. Die Räder eierten über den Kies. Eggebrecht sah nach unten und beobachtete, wie Steinchen zur Seite flogen, als seien sie aus Wasser.
«Schdeign Se ab! Abba sooofort!» Ein Polizist. Er brüllte die Worte im harten Sächsisch des Leipziger Umlandes. Die Dienstmütze saß auf zwei Ohren, die so weit abstanden, dass der Kerl bei einem Windstoß bestimmt weggeweht würde. Seit wann kümmerten sich Uniformierte um die Einhaltung der Benutzungsordnung?
Eggebrecht sprang vom Rad. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf und wendete seinen Blick ab. Eggebrecht schob das Rad über den Platz. Der Garten seines Vaters lag genau an dem Weg, den der Polizist in Augenschein nahm. Auf dem Rasen, der Wippe, dem Karussell funkelte noch der Morgentau. Vielleicht hätte er sich im Bett noch einmal umdrehen sollen, überlegte Eggebrecht. Aber nun war er hier und musste an dem Polizisten vorbei.
«Wo wolln Se’n hin?», fragte der Schutzmann, als Eggebrecht in den Weg zum Garten biegen wollte.
«In den Garten.»
«Name?»
«Unser Garten hat keinen Namen.»
«Nu wern Se ma ni fresch!» Die Ohren des Polizisten wackelten. «Mir hamm örnsdhafde Ermiddlungen!»
Eggebrecht schaute den Weg hinunter. Fünf, sechs Gärten entfernt tummelten sich weitere Polizisten. An einem Gartentor tauchte ein dicker Mann auf – kein Zweifel, Oberkommissar Bölke. Der kümmerte sich um Mord und Totschlag. Was trieb er hier in der Gartenanlage?
«Eggebrecht ist mein Name, Heinz Eggebrecht.»
«Aha.» Das Wort klang, als sage der Polizist «Warum nicht gleich so?».
«Ist das Oberkommissar Bölke?»
«Woher kennen Sie …» In die Skepsis des Beamten schien sich Sorge zu mischen.
Eggebrecht zögerte kurz und entschied sich dann für die Offensive. Er versuchte, so wichtig zu klingen wie ein Politiker. «Ich habe schon mehrfach die Mordermittlungen des Herrn Bölke begleitet. Als Journalist und in bester Zusammenarbeit.» Das war zwar dick aufgetragen, stimmte aber mit einigem Augenzudrücken. Immerhin schon zweimal hatte er gemeinsam mit Katzmann Fälle bearbeitet und am Ende sogar die Mörder gejagt. Seine Behauptung zeigte Wirkung, der Polizist zog den Kopf ein und nickte.
Eggebrecht führte die Hand wie beim Militärgruß zur Stirn. «Ich finde den Herrn Oberkommissar selbst. Guten Tag!»
Er schob sein Rad den Kiesweg hinunter, mit jedem Schritt sah er weitere Polizisten. Sie mussten im Dutzend durch die Anlage wuseln. Ein Photograph stand im Garten schräg gegenüber der Eggebrecht’schen Hecke und fertigte Lichtbilder. Fünf, sechs Uniformierte krabbelten durch die Beete, als wollten sie Unkraut jäten, aber sicher suchten sie nach Spuren. Die Tür zur Laube stand offen, auch drinnen waren Uniformen zu sehen.
Drei weitere Polizisten machten sich im Nachbargarten am Geräteschuppen zu schaffen. Dort stand auch Bölke mit einem hageren alten Mann in Zivil. Die beiden erinnerten auf die Entfernung an Pat und Patachon. Wie in den dänischen Klamaukfilmen konnte der Dürre dem Dicken locker auf den Kopf spucken. Allerdings hatte Bölkes Körperumfang Ausmaße angenommen, die jede Kinoleinwand sprengen würden. Wenn der Oberkommissar seine Uniformjacke auf der Wiese ablegte, könnte eine vierköpfige Familie darauf bequem ein Picknick abhalten, schätzte Eggebrecht.
Noch blieben zwanzig Meter bis zum Garten – Zeit genug zu überlegen, wie er möglichst viele Details von Bölke erfuhr. Eggebrecht verlangsamte seine Schritte, ein Polizist schaute zu ihm. Der Militärgruß half erneut, der Beamte salutierte ebenfalls und widmete sich wieder der Spurensuche. Eggebrecht passierte den Garten mit dem größten Polizeiauflauf, bis zu Pat und Patachon blieben noch zehn Meter. Vielleicht sollte er Bölke überrumpeln, indem er gleich bei der Begrüßung nach der Leiche fragte. Denn dass es hier eine gab, schien Eggebrecht eine ausgemachte Sache zu sein.
«Was machen Sie denn hier?» Bölke sah ihn an, als fürchte er zu halluzinieren.
«Ich bin zufällig hier, Herr Oberkommissar. Und Sie, welche Leichen graben Sie aus den Beeten?»
Nun guckte Bölke, als ginge er die Tatbestände durch, die er Eggebrecht anhängen konnte. Der Oberkommissar drehte sich zur Kopie von Patachon. «Kennen Sie den jungen Mann, Herr Zebulke?»
«Nie gesehen.»
Bölke