ich den Text gelesen hatte, packte ich die Flugblätter wieder in die Plastiktasche und lief nach Hause. Unterwegs überlegte ich mir, wo ich die Flugblätter am besten platzieren würde. Die Fensterscheibe an der Bäckerei wäre ein sehr guter Platz. Bevor die Savak-Leute dazu kämen, das Flugblatt abzureißen, hätten es früh morgens schon viele Menschen gelesen. Wenn jedoch der Bäcker aus Angst es selbst abnahm, bevor seine Kunden kamen, würde es nichts nützen. Und wie wäre es gegenüber der Bäckerei an der dunkel gestrichenen Wand? Da käme das helle Blatt gut zu Geltung. Ja, das war besser, dort wollte ich es ankleben. Das nächste Flugblatt sah ich im Geiste schon vor dem Hamam am Zoneneingang hängen, da es dort morgens zahlreiche Besucher sehen würden. Bevor sie zum Morgengebet gingen, besuchten viele das Hamam. Auch der Eingang der Moschee schien mir geeignet für all diejenigen, die nicht das Hamam besuchten. Weitere Flugblätter würde ich an geeigneten Plätzen in der Stadt aufhängen. Den Rest wollte ich für die Schule aufbewahren. Etwas an die Eingangstür der Schule zu kleben lohnte sich nicht, denn der Hausmeister würde es sicher sofort vernichten. Auf jeden Fall wollte ich vor Schulbeginn die Flugblätter vor die einzelnen Klassenzimmer legen. Die Mitschüler würden sie unter sich verteilen. Das ersparte mir, zu der einzigen Rolle Klebeband, die wir zu Hause liegen hatten, weitere Rollen zu kaufen. Taschengeld hatte ich sowieso keines mehr.
Als ich zu Hause war, suchte ich überall nach dem Klebeband, fand es aber nicht. Ich wollte meine Mutter fragen, blieb dann aber still, weil ich nicht wollte, dass sie sich erkundigte, wozu ich es brauchte. Ich wollte sie ja nicht unnötig belügen.
Da erinnerte ich mich plötzlich an meinen wunderschönen, selbst gebastelten Papierdrachen. Er war aus rotem und blauem Papier und hatte Augen und einen Mund. An seine Arme und den Schwanz hatte ich bunte Papierbänder geklebt und ihn in dem Himmel aufsteigen lassen. Ja, das war eine Idee, wie bei meinem Drachen einen Klebstoff aus Mehl und Wasser herzustellen. Das funktionierte auch. Ich besorgte mir aus der Küche einige Löffel Mehl und eine kleine Plastiktüte, dazu einen Löffel, den ich später wieder zurücklegen musste. Nach dem Abendessen, schlich ich mich in mein Zimmer und erklärte, ich müsse für die Schule etwas lesen. Durch das Fenster stieg ich in den Hof, mischte dem Mehl etwas Wasser hinzu und fertig war mein Klebematerial. Ich kletterte wieder in mein Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Mit meiner dunklen Mütze schlich ich mich aus dem Haus, als alle schliefen. Ich war aufgeregt. Die Straßen waren ruhig. Die Stadt schlief. Ich lief viele Straßen auf und ab, immer an den Hauswänden entlang, und warf die Flugblätter über die Eingangstüren der Höfe. Wenn ein Auto zu sehen war, kauerte ich mich in eine Ecke und versteckte mein Gesicht in der Dunkelheit, ging dann weiter und mied dabei Laternen. Niemand durfte mich erwischen. Ich wollte meine Aufgabe gut erfüllen. Kritisch erschien es mir gegenüber der Bäckerei, aber ich schaffte es. Innerhalb von Sekunden hing das Plakat und auch vor dem Hamam und der Moschee wurde ich nicht behelligt. Ich wusste, das war nicht ungefährlich, und ich war außer Atem vor lauter Aufregung. Nachdem ich alles erledigt hatte, blieben mir noch genügend Flugblätter für die Schule. Es war sehr spät in der Nacht und ich musste morgen sehr früh in der Schule sein, und zwar vor allen anderen Schülern. Das Fenster hatte ich nur angelehnt und so kletterte in unbemerkt wieder in mein Zimmer. Ich war total erschöpft und legte die Utensilien für die Handzettelaktion unter mein Kopfkissen. Mit unruhigen Gedanken an die Gefangenen schlief ich kurz darauf ein.
Es war still in unserem Haus und niemand hatte bemerkt, dass ich unterwegs gewesen war. Es war früh morgens und meine Mutter stand gerade auf. Schnell stürzte ich eine Tasse Tee hinunter und verschlang mein Brot mit Joghurt in Windeseile. Ich griff nach meinen Schulsachen und der Tüte mit den Handzetteln und wollte das Haus verlassen. Meine Mutter musste bemerkt haben, wie hektisch ich war. „Mein Junge, was ist heute mit dir los? Warum bist du so unruhig? Du hast doch noch Zeit, warum willst du jetzt schon zur Schule?“
„Ach, Mama“, erklärte ich, „unser Lehrer, Herr Kursch, fängt heute ein neues Thema an. Ich will mit Amin vor dem Unterricht noch darüber sprechen. Du weißt doch, Amin ist einer der Schlauesten in unserer Klasse, er hat immer die beste Note 20.“
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter sagte mir, dass sie mir nicht glaubte. „Mein Junge, warte noch einen Moment, du nimmst am besten Nasser gleich mit.“
„Nein, ich muss sofort weg!“ Ich unterdrückte die aufkommende Panik.
Zum Glück erlaubte sie mir zu gehen: „Dann lauf, wenn es dir so wichtig ist.“
Ich rannte aus dem Haus und auf dem Weg schaute ich nach meinen aufgeklebten Plakaten. Gegenüber unserem Haus bei Dade Fathe hing das Plakat noch. Da war ich stolz und überflog es noch einmal. Bestimmt hat es Dade Fathe noch nicht entdeckt. Schnell lief ich weiter. Auch das Plakat an der dunklen Wand gegenüber der Bäckerei hing noch. Einige ältere Männer standen davor und lasen es.
Ich war stolz auf mich. Die Nachtaktion hatte sich gelohnt.
Als ich an der Schule ankam, war die Eingangstür bereits geöffnet. Ich sah den Hausmeister, der bei den Mülltonnen beschäftigt war. Er durfte mich um diese Uhrzeit nicht sehen. Heimlich und leise betrat ich das Schulgebäude. Ich musste verdammt gut aufpassen, sonst würde mich jemand erwischen und den Schuldirektor benachrichtigen. Dann hätte ich ein großes Problem. Ich verbarg mich hinter der Schuleingangstür und beobachte den Hausmeister, bis er in seinem Hausmeisterraum verschwand. Unbemerkt rannte ich die Treppen hoch und legte vor jedes Klassenzimmer zwei Flugblätter. Dann versteckte ich mich unter einem Tisch im Flur, bis ich vom Hof her laute Stimmen hörte. Die ersten Schüler waren angekommen und ich war beruhigt. Ich schlich leise zurück in den Hof und mischte mich unter meine Mitschüler, sodass es so aussah, als sei auch ich gerade erst angekommen. Aus Verlegenheit sprach ich mit manchen über belanglose Dinge, aber mein Herz klopfte wie verrückt. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn sie alle die Flugblätter sahen. Was würden sie sagen? Wie würden die Lehrer reagieren? Vielleicht brachten sie uns dann alle zurück auf den Schulhof, um herauszufinden, wer verdächtig war.
Ich ging als Letzter in unseren Klassenraum und sah, wie sich meine Schulkameraden über einen Tisch beugten und das Flugblatt lasen. Ich gab mich interessiert und fragte: „Hallo, was lest ihr da? Ist das die neue Hausordnung der Schule?“
Amin, der neben mir stand, antwortete: „Nein, das sind Flugblätter. Jemand hat sie vor den Klassenraum gelegt.“
„Zeig mal her!“ Als auch ich beim Lesen war, kam Herr Kursch in den Klassenraum. Er schien verwundert. „Setzt euch. Was lest ihr da? Gebt mir das Blatt.“ Nachdem er es überflogen hatte, sagte er: „Gut, Kinder, ich lese es euch vor.“ Sein Gesicht zeigte ein bitteres Lächeln. Er war doch als mutiger Lehrer bekannt und galt als Regime-Gegner.
Ungeduldig fragte ich: „Herr Kursch, was denken Sie?“
Er lief im Klassenraum hin und her, an der Wandtafel vorbei, schloss seine Augen und öffnete sie wieder. Das ging eine ganze Weile so und wir alle schauten ihn mit großen Augen an. Plötzlich sagte er: „Wisst ihr, liebe Kinder, das Flugblatt ist gut geschrieben. Wir werden es vervielfältigen und weiter verteilen. Ich bin nicht gegen den Inhalt der Flugblätter, aber ich frage mich: Warum erst jetzt? Das hätte man vor vielen Jahren schon tun müssen. Aber man wäre vor Jahren auch sehr schnell im Gefängnis gelandet. Ich habe hohe Achtung vor den Gefangen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. In allen großen Städten wird öffentlich demonstriert, während bei uns in Marivan diese Flugblätter heimlich verteilt werden. Diejenigen, die das tun, nenne ich Feiglinge. Sie wollen Vorbilder des hohen Gedankenguts sein, verstecken aber ihr Gesicht. Die Zeit ist vorbei, wo man wie ein Strauß den Kopf in den Sand steckte. Die Freiheit und der Kampf für Gerechtigkeit müssen, wie auch in anderen Städten, öffentlich gezeigt werden, indem wir auf die Straße gehen und demonstrieren. Sonst wird nichts passieren.“
Für mich war es wie ein Schlag ins Gesicht, was unser Lehrer da von sich gab. Mein Herz krampfte sich zusammen, und obwohl ich doch heute Nacht der mutigste Mensch in Marivan gewesen war, sollte ich nun ein Feigling sein?! Ich saß auf meinem Stuhl wie ein Häufchen Elend und fühlte mich schuldig. Ich wollte und würde kein Feigling sein. Das waren meine Gedanken, bevor ich dem Lehrer weiter folgen konnte. Ich fand es gemein, gemein für meine Aktion in dieser Nacht. Aber es wusste ja niemand, dass ich es war, der die Flugblätter verteilt