Der Urgroßvater, froh das Kind unter dem Bett hervor gelockt zu haben, freute sich über die Frage.
„Die Puppe gehörte der Schwester deiner Oma, die schon vor langer Zeit gestorben ist.“
„Was ist denn mit ihr geschehen?“, fragte Amelie. Nun waren alle Ängste von ihr gewichen. Es war überhaupt nicht mehr unheimlich in dieser grausigen Kammer. Wie konnte sie nur so etwas denken. Vom Arm des Urgroßvaters aus schien die Welt nicht mehr so kalt und gefährlich zu sein. Amelies Neugier war geweckt. Sie hielt Heike fest im Arm, schaute auf die unwahrscheinlich interessante Puppe und hing an den Lippen des Urgroßvaters, der von der unbekannten Schwester von Amelies Oma erzählte.
„Deine Großtante hatte eine schwere Krankheit und ist mit neun Jahren daran gestorben. Deine Oma war gerade erst geboren.“
Amelie hörte dem Urgroßvater gespannt zu. Sie lauschte für ihr Leben gern Geschichten. Ob nun aus einem Märchenbuch oder von der Familie.
„Wie war denn das? Waren nicht alle in der Familie sehr traurig?“
„Ja, wir waren alle sehr traurig und sind es heute immer noch. Deshalb ist diese Puppe als Erinnerung in der Kammer hier geblieben.“
„Oma hat wohl nicht mit dieser Puppe gespielt?“
„Nein, meine Frau, deine Uroma, wollte das nicht.“
„Warum wollte das denn die Uroma nicht?“
„Sie wurde traurig, wenn sie die Puppe sah und kaufte deshalb deiner Oma lieber eigene Puppen. Die Puppe ist seitdem in dieser Kammer. Ich glaube manchmal hat deine Uroma die Puppe besucht und sich mit ihr an ihre Tochter erinnert. Wie oft sie hier war, weiß selbst ich nicht.“
Amelie sah, dass der Urgroßvater eine Träne im Auge hatte. Deshalb fragte sie schnell.
„Dann hatte Oma auch so schöne Puppen, wie diese?“
„Ja natürlich, damals war noch kein Krieg und wir haben unserer Tochter alle Wünsche von den Augen abgelesen. Sie war unser einziges Kind.“
In den Augen des Urgroßvaters standen plötzlich Tränen. Deshalb beschloss Amelie, später ihre Oma zu fragen.
Der Urgroßvater war traurig. Amelie ließ sich trotzdem durch die vielen Dinge, die sie von seinem Arm aus sehen konnte, ablenken. Ihr Blick wurde von etwas Buntem in einer Ecke der Kammer angezogen.
„Schau mal dort, ist das nicht ein Buch. Oh, bitte lies mir daraus vor!“
Der Urgroßvater war froh, dass er nicht mehr nach dem traurigen Schicksal seiner Tochter gefragt wurde und ging mit Amelie zur Kommode in der Ecke. Dort lagen einige Bilderbücher. Er suchte schnell eines davon aus und ging mit Amelie in die Küche.
Er würde dieses Kind nicht noch einmal allein in der düsteren Kammer lassen. Womöglich kroch sie dann wieder unter das alte breite Bett. Er hätte sie niemals unter diesem Ungetüm hervor holen können. So gelenkig war er einfach nicht mehr.
Wenn ihre Mutter nachher zurückkam, würde er ihr sagen müssen, dass die Kleine leider nicht wieder bei ihm schlafen konnte. Er in seinem Alter wollte diese Verantwortung einfach nicht mehr übernehmen.
So kam es, dass Amelie zwar keine Angst mehr vor dem Urgroßvater hatte, aber auch nicht mehr in der dunklen Kammer schlafen musste. Eigentlich schade, denn nun hatte sie keine Angst mehr vor den Dingen und Schatten dort.
Wenn sie später zum Urgroßvater zu Besuch kam, las er ihr aus den vielen bunten Büchern vor, die in der obersten Schublade der Kommode lagen. Sie und der Urgroßvater wurden gute Freunde. Amelie freute sich auf die Besuche bei ihm. Sie sah den Urgroßvater mit anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch.
Die Sache mit der Tante und die traurigen Augen des Urgroßvaters hatte sie bald vergessen.
Die Geschichten, die der Urgroßvater vorlas, waren viel spannender. Sie konnte davon nie genug bekommen.
Heißes Wasser
Amelies Wagemut hatte sich nach dem Sturz in die Tiefe nicht gelegt. Ihr war bei dem Sturz nichts passiert und so vergaß sie diese schlimme Erfahrung so schnell, dass sie neuen Gefahren immer wieder arglos entgegen ging.
Eines Tages, ihre Eltern waren mit dem neuen Auto unterwegs in die Stadt, durfte sie mit den anderen Kindern auf der Straße spielen. In ihrem ruhigen Dorf konnte den Kindern nicht viel geschehen. Die Straßen waren wenig befahren und die Erwachsenen nahmen Rücksicht auf die spielenden Kinder.
Sie spielte mit den Kindern und im Spiel gerieten sie in die Waschküche einer Nachbarin. Was sich in dieser Waschküche ereignete, war für Amelie so erschreckend und schmerzvoll, dass sie die genauen Umstände nicht im Gedächtnis behalten konnte. Amelie schämt sich immer noch für ihre Dummheit. Wie konnte sie nur alle Vorsicht vergessen und in diesem Spiel gewinnen wollen? Wie konnte sie nur!
In der Waschküche standen verschiedene Dinge wie Tische, Stühle, Hocker und ein eingemauerter Waschkessel. Alle Kinder spielten gemeinsam das Spiel.
Wer ist die oder der Größte?
Jedes Kind suchte sich einen Platz, auf dem er oder sie die Anderen überragen konnte.
Als Amelie an der Reihe war, hatten die meisten Kinder schon einen Platz gefunden. Amelie schaute und schaute. Sie würde auf dem Hocker oder auf dem Tisch keinen der anderen überragen können. Als sie schon aufgeben wollte, entdeckte sie in der Ecke noch einen freien Platz. Er war der höchste überhaupt. Amelie war sehr stolz. Sie hatte den Platz entdeckt, der am höchsten Punkt gelegen war. Keiner von den Anderen hatte sich dorthin gewagt.
Warum eigentlich nicht? Amelie dachte in der Gewissheit des Sieges nicht weiter darüber nach.
Der Deckel, der den Waschkessel verschloss, war doch noch ein Stück höher als der Waschkessel selbst. Rund um den Deckel des Waschkessel war Platz für zwei Kinder. Diese Plätze waren schon besetzt und so stieg Amelie - klettern konnte sie gut - auf den Deckel.
Gerade als sie lauthals verkündete, dass sie die Größte sei, spürte sie wieder einmal ein Ziehen in ihrem Bauch. Sie wusste in diesem Augenblick genau:
Hier stimmt etwas ganz und gar nicht!
Der Deckel kippte nach der Seite, der linke Fuß tauchte in den Kessel ein, Amelie verlor das Gleichgewicht und stand mit beiden Beinen in siedendem Wasser.
Sie stieg heraus. Wie sie das geschafft hatte, ist im Nebel des Schmerzes verschwunden. Ihr erbärmliches Schreien ließ die Nachbarin herbei eilen. Sie war sehr erschrocken. Die Kinder spielten unbemerkt in der Waschküche. Sie handelte automatisch. Schnell brachte sie die schreiende Amelie in ihre Küche. Dort saß ihr Mann und trank eine Tasse Kaffee. Gemeinsam überlegte das Ehepaar was zu tun sei.
Da es nur wenige Telefone im Ort gab, musste unbedingt jemand mit einem Auto herbeigerufen werden.
Amelies Eltern waren zur Stadt gefahren. Telefon hatten im ganzen Dorf nur der Wirt und die Frau, die die Post austrug. Schnell wurde eins der Kinder zum Wirt geschickt. Die Schänke war dem Unfallort am nächsten. Auf dem Weg dorthin kamen dem Jungen Amelies Eltern mit ihrem Auto entgegen. Er hielt sie an und erzählte was geschehen war.
Zur gleichen Zeit in der Küche der Nachbarin saß Amelie auf einem Stuhl und die Nachbarin sah sich ihre verbrühten Beine an.
Die Strumpfhose war an den Beinen festgeklebt - wie eingebrannt hing sie auf der Haut. Amelie trug an diesem Tag ihren Spielrock, wie so oft, wenn sie mit den anderen auf der Straße spielte. Sie war von den Schmerzen, die von der Verbrühung herrührten benommen.
Die Nachbarin wies ihren Mann an Amelie festzuhalten. Diese wusste nicht wie ihr geschah.
Der Nebel, in den sie gehüllt zu sein schien, half ihr das Kommende zu ertragen. Sie sah auf ihre Beine und schaute zu, wie die Nachbarin an ihrer Strumpfhose zog. So konnte sie gerade noch sehen, dass seltsame große Blasen an ihren Beinen