dieser Ort wirklich deine Heimat?“
Diese Frage drang, gerade als sich Amelie in die Betrachtung des Abgrundes vertiefen wollte, an ihr Ohr. Die Duse schwebte neben Amelie. Sie war in Hisian! Im wunderbaren Hisian!
„Wieso bin ich hier?“
Diese Frage konnte Amelie nicht zurückhalten. Sie war ausgefüllt vom Ticken einer Uhr. Das war ein wenig unheimlich. Wo befand sich denn nur diese Uhr, deren Ticken sie vollkommen ausfüllte?
„Schau, dort!“
Die Duse wies auf eine unwahrscheinlich große Erscheinung. Eine Uhr, die vom Boden der Schlucht bis zu Amelie und der Duse hinauf reichte. Sie schien an der Wand festgewachsen zu sein. Amelie hatte sich mit diesem Gedanken gründlich geirrt. Dieses imposante Uhrwesen, löste sich plötzlich von ihrem Platz und schwebte so leicht und locker wie sie selbst in Hisian schweben konnte, zu ihre herüber. Amelie drohte das Herz stehen zu bleiben. Das Ticktack, ticktack in ihr wurde immer lauter und lauter. Ihr ganzer Körper vibrierte. Sie fürchtete, sie würde jeden Moment auseinander gerissen werden, so stark vibrierte ihr Körper. Es machte ihr in Hisian wenig aus. Zu Hause hätte sie dieses Vibrieren mit Sicherheit auseinander gerissen. Hier geschah nichts. Amelie blieb einfach eine stark vibrierende Amelie. Das war schon sehr merkwürdig. Sie schaute hilfesuchend zur Duse hinüber. Nur gut, dass die Duse in ihrer Nähe war. Diese riesenhafte, uhrähnliche Gestalt flößte Amelie einen hohen Respekt ein. Als die Gestalt dann zu sprechen begann, donnerte es in Amelies Kopf. Sie nahm an, dass ihr Kopf zu Hause geplatzt wäre. Amelie wollte sich auf die Worte des Uhrwesens konzentrieren. Sie schaffte es mit Mühe und Not, denn das Vibrieren machte eine Konzentration auf etwas Anderes sehr schwer.
„Ich bin Amoresit, die Hüterin der Zeiten. Zuerst einmal werde ich dich vor den Geräuschen hier schützen müssen. Du siehst schon ziemlich alt aus. Wenn ein Mensch hierher gelangt, wird er mit dem konfrontiert, was in seiner Roo gespeichert ist. Was für eine tolle Einrichtung. Ich kann sofort feststellen woher der Mensch kommt und wohin er geht.“
„Wie? Du kannst sehen, dass ich schon alt bin?“
Amelie begriff in diesem Moment, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Sie war wirklich schon sehr alt. Jedenfalls sagte das Amoresit, diese Uhrgestalt, die ihr einen übermenschlichen Respekt einflößte.
Amelie schaute noch einmal hinüber und auch in den Abgrund hinab. Unten entdeckte sie dichten Nebel. Von ihrer Position aus konnte sie nur ihr Dorf erkennen. Alle anderen Orte lagen in einem undurchsichtigen Nebel.
„Das ist gut für dich. Wer den Nebel durchdringen will, braucht viel Roolivu. Du bist einfach noch nicht lange genug an dem Ort deiner Zeit, um die Zeit, die heute noch im Nebel liegen muss, erkennen zu können. Andere Zeiten zu sehen würde dich zerreißen. Du hast doch sicher gespürt, dass diese Welt dich zerreißt, wenn ich dich nicht davor behüte.“
„Oh ja, wenn ich mich daran erinnere, wabert mein ganzer Körper und ich habe überhaupt keine Kontrolle über ihn.“
„Wenn einmal die Zeit kommen sollte, dass du in deinen Ursprung und die Stationen deiner Roo eingeweiht werden darfst, dann werde ich dich begleiten. Du wirst dieses Vibrieren spüren und zu dir selbst geführt werden. Für heute ist dein Besuch bei mir beendet. Ein längerer Aufenthalt würde dir nur schaden.“
Amoresit war sehr kurz angebunden – fast schroff.
„Bring sie zurück Duse. Sie ist doch noch viel zu jung für diesen Besuch in Wakako, der Zeitenschlucht. Wie konnte das denn überhaupt geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Als bei mir der Alarm schrillte, eilte ich hierher, um dem Kind beizustehen. Hast du sie denn nicht gerufen?“
Amoresit entgleisten die Gesichtszüge.
„Sie hat Zutritt zu meinem Reich? Wie kann das sein? Wir müssen unbedingt etwas zu ihrem Schutz unternehmen. Sie ist doch viel zu jung für einen Besuch bei mir.“
„Ich dachte, du hättest sie hierher gezogen. Ich habe ihre Gedanken wegen des Alters empfangen. Du hast sie also nicht nach Wakako gebracht?“
Die Duse schüttelte nachdenklich den Kopf. Sollte hier eine mächtige Kraft am Werke sein, die sie nicht kontrollieren konnten? Sie mussten sofort etwas unternehmen.
Das Kind musste geschützt werden, unbedingt!
„Was können wir tun Amoresit? Wir müssen sie schützen, damit sie sich in Ruhe entwickeln kann. Es kann nicht sein, dass sie jetzt schon mit all dem konfrontiert wird.“ Die Duse wies bei diesen Worten hinab in den Abgrund.
„Bevor sie hierher kam, hätte ich das Tor schließen können. Jetzt kann ich nur für sie selbst einen Zeitenwächter einsetzen. Er wird darüber wachen, dass sie genau zur richtigen Zeit wieder hierher zurückkehrt. Das ist das Einzige was ich tun kann!“
Amoresit schaute sich nervös um. Sie schüttelte ihren Uhrenkopf und schwebte hinunter in den Abgrund. Dieses Kind hatte einen Weg hierher gefunden. Nun würden auch andere Menschen Mittel und Wege finden ihr Reich zu finden. Warum war das denn geschehen? Amoresit war einen Moment lang ratlos.
Als sie aus der Tiefe zurückkehrte, wirkte sie schon sehr viel beruhigter als zuvor. Sie lächelte sogar, wenn auf dem Gesicht einer Uhr ein Lächeln überhaupt auszumachen war, dann lächelte Amoresit.
„Die Zeitenwende ist da! Ich sehe es am Grund des Tales. Der Abgrund ist zu einem Grund geworden. Eine Grundlage für etwas Neues. Wie lange warten wir schon darauf, dass sich unsere Welt auf einen festen Grund stellt. Wunderbar, wir haben den Menschen gefunden, der Wakako verwandeln kann. Gerade deshalb muss sie nun Zeitenwächter an ihre Seite gestellt bekommen. Unsere Welt zu erkunden, kann einen Menschen vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen. So einen unvermittelten Zugang wie Amelie hat noch nie ein Mensch gehabt. Einfach wunderbar, jetzt werden alle Welten auf den Frieden zusteuern. Ich habe es am Grund dieser Schlucht gesehen.“
„Heißt das für mich, dass ich noch mehr aufpassen muss als bisher. Ich habe noch andere Kinder zu betreuen.“ Die Duse schaute verzweifelt zu Amoresit hinüber.
„Wir sperren diese Schlucht und du bekommst den Schlüssel dafür. Du bist Amelies Hüterin und fest in Hisian beheimatet. Für dich ist der Zugang zu Wakako der Zeitenschlucht überhaupt kein Problem. Du kannst ab heute bestimmen, wann ein Besuch für Amelie in ihrem Teil von Wakako, also ihrem Korongo gut ist. Sie wird sich entwickeln und du wirst mit ihr gehen. Wir werden sehen wann wir ihren Korongo öffnen.
Das größere Problem sind die Korongos der Anderen. Ich muss mich sofort an die Arbeit machen. Wir werden nicht alle Korongos vor dem Einfall der Neugierigen schützen können. Es kommt eine Menge Arbeit auf mich und meine Helfer zu. Ich muss alle mobilisieren.“ Amoresit schwebte über Amelies Korongo und drehte eine Runde mit dem großen Zeiger auf ihrem Zifferblatt.
Das überlaute Ticktack erfüllte die Luft über den Frauen. Über Amelies Korongo konnten sie nun viele kleine Uhrenwesen entdecken. Amoresit hob ihre Hand zur Schlucht hinab und eine undurchdringliche Nebelschicht legte sich über die Ränder des Korongos.
Amelie wurde nach oben gerissen, so dass sie hoch über ihrem Korongo schwebte und zusehen konnte, wie er verschlossen wurde. Ein scheinbar aus Nebel bestehender Schlüssel schwebte darüber und drehte sich.
Das wirkte auf Amelie. Ihr Körper wurde von den Erschütterungen, die sie immer noch gespürt hatte, befreit und gleichzeitig erfasste eine überirdische Ruhe ihren Körper. Sie schloss die Augen und spürte tief in sich einen Frieden, den sie festhalten wollte. Leider war die Sekunde des Friedens so schnell entschwunden wie die Uhrenwesen, die Amelie gerade noch gesehen hatte. Was war denn nun wieder geschehen?
Amelie sah zu, wie Amoresit der Duse den Schlüssel reichte und staunte nicht schlecht als dieser in der Duse verschwand. Was für ein Ereignis! Schade, dass sie die Erlebnisse hier immer wieder vergessen musste. Diese Szene war es wert tief in ihrem Inneren eingeschlossen zu werden. Die Duse hatte den Schlüssel zu ihrem Korongo! Amelie würde sich zu gegebener Zeit daran erinnern …
Der Kanal zum Mithören wurde für Amelie in dem Moment gekappt,