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Kalte Zukunft
Benjamin Blizz
© 2015 Benjamin Blizz
© 2015 Begedia Verlag
Lektorat - Uwe Helmut Grave, Harald Giersche
Umschlagbild und Illustration - Jan Robbe
Covergestaltung und Satz - Begedia Verlag
ISBN 978-3-95777-036-3
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Kapitel 1
27. Februar 2023
American Airlines Sonderflug
Luftraum über der Westsahara
»Darf ich Ihnen noch ein Getränk servieren, Sir?«, riss ihn die nervtötend piepsige Stimme der beflissenen Stewardess aus dem Halbschlaf.
Gottverdammt, das Einzige, was ich wirklich möchte, ist meine Ruhe! Was werde ich wohl wollen, wenn ich meine Augen geschlossen habe?, faltete er sie in Gedanken zusammen und stellte sich ihren schockierten Gesichtsausdruck vor. Stattdessen streckte er sich jedoch und lächelte ihr freundlich zu. »Noch einen Kaffee, bitte!«
Das dumme Ding hatte vermutlich seinen ersten Tag und bemühte sich, perfekt zu erscheinen, um den Chief Purser, den ranghöchsten Steward der Kabinenbesatzung, der seit dem Start mit Argusaugen über all ihre Schritte wachte, zu beeindrucken.
Er konnte es der jungen Frau nicht einmal verdenken. In diesem Alter hatte er sich selbst noch der Illusion hingegeben, die Welt sei gemeinhin ein perfekter Ort, wenn man sich nur genügend anstrengte. Wie er diesen uneingeschränkten Optimismus doch vermisste. Jung sein bedeutete, dass einem alle Wege offenstanden, und selbst wenn nicht, erfreute man sich der vermeintlichen Tatsache, dass es schon irgendwie laufen würde.
Pustekuchen!
Zu dieser simplen Erkenntnis gelangte wohl früher oder später jedes denkende Mitglied der verkorksten Gesellschaft mit ihrem monotonen Alltag von Arbeit, Bier und Sportschau.
Die andere Variante war jedoch noch viel schlimmer: Man versuchte, diese Erkenntnis auszublenden, sie zu verdrängen, glaubte fest daran, eines fernen Tages etwas an der ›o heiligen Zukunft‹ ändern zu können. Diesen Weg hatte Shane O’Brien, gebürtiger Brite mit mütterlicherseits deutschen Vorfahren, gewählt – und büßte nun jeden Tag dafür.
Als ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, wie schlecht es wirklich um die Welt stand, war es bereits zu spät gewesen. Auf der Autobahn des Lebens hatte er die richtige Ausfahrt verpasst; und Wenden war keine Option, es sei denn, man wollte fortan als gemeingefährlicher Geisterfahrer umherirren, bis einen irgendwann irgendjemand aus dem Verkehr zog. Nein, er war gezwungen, dem ihm vorbestimmten Weg ins Ungewisse weiter zu folgen. Klar, er hätte sich treiben, die Welt an sich vorbeiziehen lassen können, doch dann würde er noch fahren, wenn die Straße längst zu Ende war. Bevor die letzte Ausfahrt auftauchte, musste er sein Ziel erreicht haben. Bis dahin gab es noch so viele Dinge zu erledigen, so viele Artikel zu schreiben …
Würden seine Bemühungen überhaupt eines Tages Früchte tragen? Er wusste es nicht, und das machte es ihm außerordentlich schwer, weiter an seinen Idealen einer heilen Zukunft festzuhalten.
Was war er überhaupt für ein Mensch, den Wink des Teufels nicht verstehen zu wollen, dass die Erde nicht mehr nur auf den Abgrund zusteuerte, sondern den kritischen Punkt längst überschritten hatte? Nach Auffassung derjenigen, die ihn für seine innovativen Ideen lobten, war er ein unverbesserlicher Altruist, nach Auffassung seiner Ex-Verlobten ein unverbesserliches versoffenes Arschloch. Er wollte nicht wählen, also akzeptierte er beides.
Der einzige Grund, der ihn eben daran gehindert hatte, statt des Kaffees einen gedankenvernichtenden Bushmills Single Malt Whisky zu bestellen, war die bevorstehende Ankunft in Sun City, wie sie in eingeweihten Kreisen genannt wurde.
Natürlich hatte man ihn eingeladen. Wer lud ihn denn nicht ein, wenn es um die Zukunft der ganz großen Wirtschaft innerhalb der immer kontroverser diskutierten Energiepolitik ging? Jeder erhoffte sich einen guten Artikel von ihm. Das war es, was die Big-Bosse von ihm wollten, was sie dazu brachte, ihm förmlich sonst wo rein zu kriechen und ihn mit Präsenten und Angeboten aller Art zu überschütten.
Vor seinem inneren Auge sah er eine abstruse Schlagzeile aufblitzen: Shane O’Brien, Chefredakteur der Future Economy und Top-Berater aller Energieunternehmen, erschlagen von gewaltigem Werbepräsent! Das amüsierte ihn ungemein – und dabei hatte er doch kaum etwas getrunken.
Genauso schnell wie der verrückte Gedanke gekommen war, verschwand er auch wieder.
Shane atmete tief durch, versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Im Grunde genommen freute er sich sogar auf das bevorstehende Zusammentreffen. Im Vergleich zu anderen aussichtlosen Projekten entsprach dieses nämlich ganz seinen Vorstellungen.
Als er vor einigen Jahren von dem kühnen Vorhaben, eine flächendeckende modifizierte Fotovoltaik-Anlage in der Wüste Nordafrikas zu erbauen, gehört hatte, war er sofort hellauf begeistert gewesen. Natürlich gab es bereits Solarstrom-Anlagen in Afrika, Kalifornien und anderen sonnenreichen Ländern, doch diese übertraf in Größe und Effizienz ihre Konkurrenten bei Weitem. Das System, das die Effizienz der Anlage auf so einmalige Weise steigerte, nannte sich PECS – Photon Element Coil System –, ein neuartiges Verfahren, bei dem die Technik der Photonenspule nochmals verbessert worden war. Endlich ging mal jemand einen Schritt in die richtige Richtung; umso mehr hatte sich Shane darüber gefreut, eine Einladung zur Eröffnung der Anlage und des angrenzenden Unternehmenskomplexes erhalten zu haben.
Neben ihm waren noch zahlreiche Vertreter verschiedener Energieunternehmen, Umweltschützer und Investoren geladen. Es versprach eine interessante Runde zu werden.
Die Stewardess kam mit dem Kaffee. Er lächelte ihr aufmunternd zu, während sie ihm einschenkte und sah ihr hinterher, als sie eine graziöse Wende machte und in der Kabinenküche verschwand. Talent hatte sie, angesichts eines so ausladenden Hüftschwungs in elf Kilometern Höhe.
Shane lehnte den Kopf zurück. Der Sessel war bequem und lud zum Versinken ein. Wenn die Lichter in der Kabine gedimmt wurden, konnte man ihn zu einem Bett umfunktionieren – kein Vergleich zu den engen Sitzen in der Economy-Klasse. Schon seit einigen Jahren reiste er nur noch First-Class – ausgenommen Privatjets – und hatte die damit verbundenen Annehmlichkeiten zu schätzen gelernt.
Noch lag die Boeing 747-800 der American Airlines ruhig in der Luft, doch schon bald würde sie von Turbulenzen, die berüchtigt für diese Gegend waren, unangenehm durchgeschüttelt werden. Der strahlendblaue wolkenlose Himmel versprach zwar einen ruhigen Sinkflug, aber dieser Anblick war trügerisch. Clear-Air Turbulenzen traten vor allem dort auf, wo man sie am wenigsten erwartete.
Es hatte Shane zunächst verwundert, als man ihm angeboten hatte, an einem Testflug teilzunehmen, der von einer renommierten Airline durchgeführt werden und bei dem auch gleich das Personal, das für die Eröffnungsfeier benötigt wurde, eingeflogen werden sollte. Warum sollte AA sein Streckennetz um eine Fotovoltaik-Anlage in Nordafrika erweitern wollen?
Doch dann war durchgesickert, dass der Betreiber der Anlage plante, in die Tourismusbranche einzusteigen – auch wenn Shane sich bisher noch nicht so recht vorstellen konnte, was man darunter zu verstehen hatte.
Jedenfalls verfügte der in der Demokratisch Arabischen Republik Sahara erbaute Unternehmenskomplex über eine eigene Start- und Landebahn, die sogar für größere Maschinen ausgelegt war und auf die das Flugzeug jetzt Kurs nahm. Sun City war nur ein Zwischenstopp. Die meisten Passagiere steuerten Johannesburg International an.
Shane nahm sein Netbook aus der Tasche und stellte es vor sich auf das kleine Edelholztischchen, um vor der Landung noch rasch seine E-Mails durchzusehen – eine Routinearbeit, die er mehrmals täglich hinter sich brachte. Heute war jedoch etwas anders: Sein Ordner für Familie und Freunde, in dem sich normalerweise nur vergessene Geburtstagsglückwünsche befanden, enthielt ausnahmsweise eine