stammte von Chantal, seiner Ex-Verlobten.
Chantal. Der Name war ihm von Anfang an zuwider gewesen und hatte augenscheinlich wie ein schlechtes Omen auf ihrer Beziehung gelegen. Zum Glück war ihre Person nicht mit der heruntergekommenen Nachbarschaftsprostituierten vergleichbar, an die er bei diesem Namen immer denken musste. Im Gegenteil, ›seine‹ Chantal war das pure Leben: spontan, witzig, einige Jahre jünger als er und mit der göttlichen Gabe gesegnet, nicht alles unnötig und breit ausdiskutieren zu müssen. Außerdem teilte sie seine Passion für edle Whiskys und nahm nie Wasser zum Verdünnen, wie es die meisten Frauen taten.
Warum, zum Teufel, hatte es mit ihnen nicht funktioniert? Ja, er kannte die Antwort auf diese Frage, doch verspürte er nicht die geringste Lust, sich jetzt damit auseinanderzusetzen.
Shane öffnete die im Imperfekt verfasste und mit wasserperlendem Hintergrund unterlegte Nachricht und suchte zwischen Passagen wie ›deswegen konnte ich dich einfach nicht mehr ertragen‹ und ›weil du einfach nur eine stinkende Schnapsleiche bist‹ nach dem Satz, der konkret aussagte, warum sie ihn wirklich verlassen hatte. Endlich hatte er die betreffende Stelle gefunden und betätigte innerlich sofort die Entfernen-Taste, um sich vorzustellen, wie die Buchstaben einer nach dem anderen verschwanden.
Wie hatte sie ihn bloß wegen James Paterson in den Wind schlagen können? James, der nicht einmal seine eigene Krawatte binden konnte, ohne dabei wie ein erdrosselter Pinguin auszusehen. Und dann war der Funke zwischen den beiden auch noch im Yoga-Kurs übergesprungen. Beim Yoga! Hallo, geht’s noch?
Shane hatte es sich bisher tapfer verkniffen, Paterson als Schwulen abzustempeln. Was konnten Homosexuelle dafür, wenn sich manche Männer effeminiert und seltsam benahmen?
Er spülte seine aufsteigende Wut mit einem Schluck Kaffee herunter und dachte, dass sich Chantal keinen besseren Zeitpunkt hätte aussuchen können, um ihm diese Nachricht zu schicken. Angekündigt hatte sie sie ihm bereits vor Wochen, bis dato aber wahrscheinlich nie die passenden Worte gefunden.
Erfreulicherweise hielt ihn die Bordansage vom Weiterlesen ab: »Sehr geehrte Damen und Herren, Ladys and Gentlemen, wir haben unsere Reiseflughöhe verlassen und beginnen nun mit dem Landeanflug. Wir bitten Sie, die Sicherheitsgurte anzulegen und die Rücklehnen in eine aufrechte Position zu bringen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.« Shane fühlte sich nicht angesprochen. Nachdem sie über dem Atlantik in heftige Turbulenzen geraten waren, hatte er ohnehin darauf verzichtet, den Gurt wieder abzulegen.
Er verbannte Chantal aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf die weiteren Nachrichten. Eine stammte von Richard Feyn, dem Hauptgesellschafter von Future Economy. Das Wirtschaftsmagazin hatte sich vor etwa zwei Jahren aus der Financial Times Deutschland abgespalten und erfreute sich seitdem größter Beliebtheit, was nicht zuletzt auf Shanes Artikel und Kolumnen zurückzuführen war. Nicht nur das Magazin, sondern auch Shanes Konto hatte im Zuge dieser Entwicklung einen großen Sprung nach vorn gemacht.
Das Einzige, was er sich von all dem Geld nicht leisten konnte, war Freizeit. Zwischen Auslandsaufenthalten, Firmenbesuchen und Schreiben fehlte ihm schlichtweg die Zeit, die Früchte seiner harten Arbeit unbeschwert zu genießen. Während sein nagelneuer Aston Martin DB11 mit umweltschonendem Wasserstoffantrieb in der Garage seiner kleinen Villa in Frankfurt am Main dem Staub anheimfiel, setzte seine Jacht im Bootsschuppen Rost und andere schwer zu entfernende Ablagerungen an, die er sich lieber nicht genauer vorstellen wollte.
Die übereifrige Flugbegleiterin, deren fliederfarbene Bluse einen großzügigen Blick auf ihr Dekolleté freigab, lächelte ihm vom Platz eines fettleibigen Asiaten aus zu und schickte noch einen vielsagenden Blick hinterher. Augenscheinlich versuchte sie, ihm Avancen zu machen, doch er ließ sich nicht auf das Spiel ein. Kaum dem Teenager-Alter entsprungene Gören interessierten ihn nicht, sei ihr Hüftschwung auch noch so verführerisch! Umgekehrt interessierten sie sich zu seinem Leidwesen für ihn, denn für einen Mann seines Alters sah er noch blendend aus.
Sein nicht unbedingt gesunder Lebensstil hatte in den über fünfzig Jahren, die er nun schon auf dieser Erde weilte, weniger Spuren an ihm hinterlassen, als man hätte erwarten sollen. Das ergrauende, aber feste Haar im Salt’n-Pepper Style trug er kurz und gepflegt, genau wie den akkurat getrimmten Dreitagebart. Sein Gesicht besaß markante Züge, wirkte dabei aber mehr freundlich als hart – was im Kontrast zu seinem oft aufbrausenden Verhalten stand, doch das sah man einem Menschen glücklicherweise nicht auf Anhieb an.
Auf das Motto ›Kleider machen Leute‹ gab er meist nicht viel, trug heute aber aus gegebenem Anlass einen maßgeschneiderten Armani-Anzug, der in punkto Kostspieligkeit nur noch von der unter seinem Hemdärmel hervorschauenden Omega-Uhr übertroffen wurde. Mit diesem Outfit zollte er ausschließlich den Kreisen Tribut, in denen er sich beruflich bewegte – viel lieber wäre er in kurzer Hose und bedrucktem T-Shirt angereist.
Gedankenverloren ließ er seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Sah die weitläufige Wüste unter einer dünnen Wolkendecke vorbeiziehen. Nur vereinzelt zeichneten sich Gebäude und Straßen in dem aschgelben Sandmeer ab. Alles wirkte so trostlos, so monoton, dass sich trotz der vermutlich abartig hohen Temperaturen eine eisige Kälte um sein Herz klammerte. Vielleicht machten ihm aber auch nur die Turbulenzen zu schaffen …
Shane zwang sich, seinen Fokus auf einen bestimmten Punkt in der Ferne zu richten, doch je näher sie dem Boden kamen, desto unangenehmer flimmerte die Luft über dem kochenden Sand und er musste den Blick abwenden.
Wieso stecke ich Idiot bei dieser Hitze in einem Armani-Anzug?
Das Display in der Rückenlehne des Vordersitzes zeigte nun die Wetterbedingungen des Zielortes, doch Shane ignorierte die Anzeige. Dass es draußen brüllend heiß war, konnte er sich auch so denken.
Um sich aus der Luft einen umfassenden Überblick zu verschaffen, drehte er den Kopf, stierte aus dem gegenüberliegenden Fenster und wartete darauf, dass die ersten voneinander abzugrenzenden Konturen sichtbar wurden. Stopp! Hatte er nicht eben etwas Grünes aufblitzen sehen?
Das Flugzeug neigte sich langsam zur Seite und flog eine weite Rechtskurve, um zur Landung anzusetzen. Nun sah Shane in aller Deutlichkeit, was sein Blick bisher nur kurz gestreift hatte: eine ausladende, grün leuchtende Oase, die sich über eine gewaltige Fläche hinter den Gebäudekomplexen und zur Rechten der Solarstromanlage erstreckte. Palmen und Sträucher so weit das Auge reichte! Doch damit nicht genug: Unzählige kleine Flüsse schlängelten sich durch die Vegetation und mündeten in einen großen See mit kristallklarem, hellblauem Wasser. Es war ein wunderbarerer Anblick.
Die Betreiber hatten nicht übertrieben, als sie in dem Einladungsschreiben ein überwältigendes Naturschauspiel angekündigt hatten. Eine Oase in der Wüste erinnerte daran, dass selbst unter extremsten Bedingungen etwas wirklich Schönes gedeihen konnte.
Nur mit Mühe konnte sich Shane davon losreißen, vor allem, wenn die Alternative war, sich Feyns Ermahnungen bezüglich seines bisweilen überbordenden Temperaments antun zu müssen»Geh sparsam mit deinen Kommentaren um, Shane!« Darauf ließ sich auch diese Mail reduzieren. Stets derselbe Tenor, nur mit neuen Floskeln umschrieben.
Seit Shanes unschöner Auseinandersetzung mit einem Vertreter eines großen Energiekonzerns war Feyn um den guten Ruf seines Magazins besorgt und geizte daher nicht mit Ermahnungen dieser Art. Früher hatte Shane nie lange gefackelt und jedwede Kritik entrüstet von sich gewiesen, doch im Laufe der Jahre war er etwas selbstkritischer geworden. Feyn hatte recht, in seinen Äußerungen bezüglich Öl, Erdgas und Atomstrom wurde er tatsächlich immer ›radikaler‹ – was vor allem daran lag, dass seiner Ansicht nach die konventionellen Energiegewinnungsmethoden dem absoluten Untergang geweiht waren. Trotzdem scheffelten die meisten Energieunternehmen in ihrer Ignoranz und Geldversessenheit damit immer noch Milliarden, statt sich mutig an der Erforschung zukunftssicherer Energiequellen zu beteiligen. Methoden wie Fracking waren in Shanes Augen der Gipfel dessen, was man der Erde antun konnte.
Er klappte das Netbook zu und verstaute es in seiner Aktentasche, in der sich noch ein altmodischer Terminkalender und ein Ersatzunterhemd befanden sowie einige Unterlagen, die er auf dem Flug eigentlich hatte durchsehen wollen. Als er den Reißverschluss der Tasche zuzog, ging ein Ruck durch das Flugzeug, und das Quietschen