das Zimmer verlassen und das Licht gelöscht habe. In der Überzeugung, daß das Nesthäkchen Oskar einschlafe, war sie gegangen, für den Jungen aber fing damit die heimlichste Stunde an, in der seine Seele durch die Länder und Meere zog. Nur, wenn am nächsten Tag eine Prüfungsarbeit in der Schule vorgesehen war, hatte der Junge auch diese eigentümliche Spannung in sich gespürt, dieses Hinundhergerissenwerden zwischen den bunten Wunsch träumen und der vorbereitenden Überlegung für den Alltag, das ihn heute nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Kraft der freien Vorstellung und die Strenge des Denkens, Gleichgültigkeit gegen das praktische Leben, vor dessen Schwierigkeiten ihn Vermögen und Stellung des Vaters immer beschützt hatten, aber auch ein schnell gekränkter Ehrgeiz wohnten damals wie heute unversöhnt in seinem Innern. Sein Ich hatte noch nicht jene Stärke, mit der es verschieden gerichtete Begabungen und Triebe zu einer Ordnung zusammenfassen konnte. Wie ein junges und munteres Gespann unter schwacher Kutscherhand liefen Phantasie, Verstand und Vernunft nebeneinanderher und brachten den Wagen vorläufig schnell, aber nicht ganz sicher vorwärts.
Gedanken und Gefühle lösten sich erst nach Mitternacht. Sie sanken zur Ruhe wie die Blätter, die der Wind umgetrieben hat und die in still werdenden Lüften auf die empfangende Erde schweben. Wichmann wußte nichts mehr von sich.
Als er nach dieser Nacht erwachte, war er sogleich hell bei Sinnen. Seine Hand stellte den Wecker ab, ehe der sein mißtönendes Geplärr erheben konnte, und brachte dann, mit etwas Strecken und Rucken der Schultern, die blaue Mappe vom Rauchtisch herüber auf die Daunendecke. Die beiden Birnen der Stehlampe wehrten sich mit ihrem Strahlen unter grünem Schirm gegen den Dämmerschein, den ihr künstliches Licht auflösen wollte.
Dem Boschhofer ist alles zuzutrauen …! hatte Baier gesagt.
Oskar Wichmann versuchte, in die Seele des fremden Mannes hineinzukriechen. Boschhofer hatte ein Exposé erhalten von einem Ministerialrat, der sein Vorgänger in der Abteilungsleitung und jetzt sein Untergebener war und den er aus irgendwelchen Gründen nicht schätzte. Der Inhalt des Exposés behagte Boschhofer nicht, er hatte sich nicht bereit finden wollen, es an den Staatssekretär weiterzugeben. Der Ministerialrat bestand darauf, daß Boschhofer es der höheren Stelle vorlege … hatte er das Recht dazu als Untergebener? Neuerdings ja … er verlangte es jedenfalls, Boschhofer tobte und entschloß sich endlich, dem Verlangen nachzugeben. Ohne Zweifel in der Absicht, den Staatssekretär von vornherein gegen die Darlegungen Grevenhagens einzunehmen. Wichmann glaubte, den Mastochsen-König, den Herrn der öligen Lundheimer, vor diesen Blättern sitzen zu sehen. Von oben herab, über die Fülle seines Leibes schaute er auf die Buchstabentypen der Adlermaschine, den kurzen weichen Blei angriffslustig in der Hand. Er durfte nicht alles durchstreichen, was ihm mißfiel, dann hätte er die ganze Ausarbeitung durchstrichen und zerrissen, aber er durfte anstreichen, was seiner eigenen Meinung dienen konnte … Vorläufig, ja, nach den bis jetzt greifbaren Daten, war die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung gering … gering, Herr Ministerialrat, gering, das müssen Sie selbst als die einzig feststehende Tatsache nennen … dick unterstrichen gering … alles andere ist gewollte Schwarzmalerei …
Mit dem suggestiven Strich auf der zweiten Seite gingen die Blätter zum Herrn Staatssekretär. Aber dieser Kleinigkeitskrämer war von Boschhofers Schwung nicht so rasch mitzureißen. Bedenklich, mit der Hartnäckigkeit des Ängstlichen malte, nein, stach er ein grünes Fragezeichen.
War es so gewesen?
Die Bilder standen eindringlich vor Wichmanns Augen. So mußte es gewesen sein.
Und nun? Sollte der Ministerialrat Grevenhagen seinem Feind und Vorgesetzten, Herrn Boschhofer, Josef Boschhofer, versichern: Der Herr Staatssekretär haben nicht die Ausführungen des Exposés, sondern haben Ihren dicken Strich beschnüffelt und bezweifelt, Herr Ministerialdirektor?
Lieber Himmel! Aber Grevenhagen würde ja wissen, was er zu tun hatte.
Wichmann legte die Unheil kündenden Blätter wieder sorgsam in die Mappe und fuhr aus den Federn, um die Stehlampe auszuschalten und die Gardinen aufzuziehen. Der Wecker, dem der Triumph seines Tages entrissen worden war, hatte sich gerächt und war heimlich in erstaunlichem Tempo vorangeeilt. Wichmann mußte sich schleunigst fertigmachen.
Die kühle Morgenluft, die zum offenen Fenster hereinströmte, und das kalte Wasser, das in der Wanne über ihn hinwegrieselte, zogen seinen Körper zusammen und strafften ihn.
Er hatte nach dem wohltuenden Frühstück einen lächerlichen Einfall und steckte dem barocken Heiligen eine Zigarette zwischen die übriggebliebenen Finger, auf die Gefahr hin, von der Geheimratswitwe künftig als ein ruchloser Charakter verabscheut zu werden.
Heute mußte die Aktenmappe aus Schweinsleder, Abschiedsgeschenk der älteren Schwester, der der »kleine Bruder« entkommen war, zum Dienst antreten. Die Blätter mit dem grünen Fragezeichen waren ihr erster Inhalt.
2
Ein Motor lief an und verursachte ein Geräusch in der Morgenstille der Kreuderstraße. Wichmann, schon in Hut und Handschuhen, warf noch einen Blick durch das Fenster. Ein dunkles Kabriolett entschwand eben in Parkrichtung.
Nun aber schnell. Es war acht Minuten vor halb neun Uhr. Er wollte nicht die Manieren der Lotte Hüsch annehmen.
Der Weg ließ sich angenehm gehen, wenn die Morgensonne um die erhobene Nase spielte. Der Assessor betrat am zweiten Tage seines Dienstes das helle Gebäude mit eiligen Schritten durch den Nebeneingang in der Ottostraße und begab sich in seine möblierte Zelle.
Hut und Aktentasche gehörten in den Schrank, die blaue Mappe in den Schreibtisch. Das Fenster konnte etwas weiter geöffnet werden. Auf dem »Eingangsplatz« des Aktenbocks hatten sich heute schon viele Mappen angefunden; die Amtsgehilfen begannen den Dienst eine halbe Stunde früher. Der Assessor blätterte die Eingänge flüchtig durch. Blaustift: »Herrn Wi z. K … G.« – »Herrn Wi z. K … G.« Der Ministerialrat gab seinem Mitarbeiter Verordnungen, Erlasse und Schriftstücke, die mit einem vorzubereitenden Gesetz zusammenhingen, »zur Kenntnis.« Wichmann las und machte sich Notizen, während er die blaue Mappe in der Mittelschublade seines Tisches wußte. Er war sich nicht schlüssig, ob er sich zur Berichterstattung über seine kriminalistischen Denkergebnisse bei dem Ministerialrat anmelden oder ob er dessen Anruf abwarten solle. Seine Unentschlossenheit führte dazu, daß er wartete.
Das Telefon rief.
»Wichmann.«
»Vorzimmer Ministerialdirektor Boschhofer. Der Ministerialdirektor bittet Sie, in einer Viertelstunde zu ihm zu kommen.«
»Jawohl. Danke.«
In einer Viertelstunde. Na schön.
Sollte er Grevenhagen oder wenigstens Fräulein du Prel davon unterrichten? Vielleicht suchte der Ministerialrat seinen Assessor und die blaue Mappe eben in den fünf Minuten, die dieser sich zur Vorstellung bei Boschhofer aufhalten würde.
Der Apparat von Fräulein du Prel war besetzt.
Wichmann blätterte in den Schriftstücken, die er vor sich hatte, ohne Aufmerksamkeit weiter. Der Anruf war um neun Uhr fünfundvierzig erfolgt. Drei Minuten vor zehn Uhr wollte der Assessor sich auf den Weg in den ersten Stock machen.
Der Apparat von Fräulein du Prel war noch immer oder schon wieder besetzt. Er würde der Sekretärin im Vorbeigehen Bescheid sagen. Den Schlüssel zur mittleren Schreibtischschublade steckte er zu sich.
Es war an der Zeit. Wichmann verließ sein Zimmer, ging den dunklen Korridor entlang und unterrichtete Fräulein du Prel, die schwarz gekleidet, zart und unnahbar wie am Vortag in ihrem hellen Zimmer saß. Der Zinnienstrauß am Fenster blühte noch frisch.
Wichmann ging die Vordertreppe zum ersten Stock hinunter.
Nr. 69, Front gegen den Königsplatz; braun gebeizte Türen mit den Namensschildchen. Vorzimmer … Wichmann machte eine sehr leichte Verbeugung, der mit entgegen kommendem Lächeln gedankt wurde. Laura Lundheimer war in dem Alter, in dem man die Jugend zu schätzen beginnt. Der herzförmige Ausschnitt ließ die Ansätze des Busens erkennen; um das gepuderte