Liselotte Welskopf-Henrich

Jan und Jutta


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du nichtsnutziger Hund, und schwatze nicht!« sagte Vürmann und verwischte die einzelnen Worte seines Satzes mit einem forciert heiseren Gebrumm.

      Gustav war eine brauchbare Kreatur. Er klaute dem Herrn Wachtmeister aus dem Zuchthausinventar alles, was dieser für seinen vielköpfigen Haushalt benötigte. Aber Gustav sollte seine Vertraulichkeit nicht zu Frechheiten ausnutzen. Die anderen Gefangenen brauchten von seinen Beziehungen zur Wachmannschaft nichts zu ahnen.

      Hinrich Vürmann versuchte, den abgerissenen Faden seiner Gedanken wieder anzuknüpfen. Er wollte Oberwachtmeister werden; man sollte ihn an einen besseren Platz versetzen. Er hatte eine vielköpfige Familie, sechs Kinder – alles nordische Rasse. Er war Parteigenosse. Wenn der Hauptwachtmeister …

      Der Wachtmeister lüftete die Mütze und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

      Die Gefangenen hatten die Jacken abgelegt und arbeiteten mit nacktem Oberkörper in der Sonnenglut. Manche torkelten, wenn sie einen Schritt machten. Die Spatenstiche wurden allmählich langsamer und kraftloser. Mit tödlicher Kraft brannte die Sonne auf die schwarzen Leinenkäppis, auf die gebräunten Nacken und die schwarzen Leinenhosen. Die Hände der Gefangenen waren angeschwollen von Hitze und Anstrengung; es war, als ob das Blut in den Adern dick würde. Einer seufzte leise. Sein aufgedunsenes Gesicht schimmerte grau.

      Der Wachtmeister schritt die Runde jetzt gleichmäßig ab wie eine Maschine. Aber es wurde ihm schwer, folgerichtig weiterzudenken. Das Blut wühlte auch in seinem Hirn wie kochende Brühe. Sich versetzen lassen … Oberwachtmeister … Seine Gedanken liefen im Kreis wie seine Schritte.

      Die Gefangenen beobachtete er immer noch pflichtgemäß. Der »Neue« unter ihnen war sonderbar. Hinrich Vürmann mußte doch auf ihn achten. Die Torfquadrate, die dieser Häftling ausstach, schienen wie mit einem Maß gemessen; eins glich dem andern aufs Haar, und die Spatenstiche erfolgten immer im gleichen Tempo; sie hatten immer die gleiche Kraft, eine Stunde um die andere. Der Kerl wirkte wie ein Teufel. Warum eigentlich? Schwarz das Käppi, schwarz das Haar, schwarz die Hose; dunkel, mulattenfarben der sonnverbrannte Rücken und die Arme, an denen die Muskeln vorsprangen. Nichts Weiches war an diesem Körper, der weder mager noch dick erschien; nur aus Muskelsträngen, Sehnen und Knochen bestand er. Die Augen hielt der Bursche immer gesenkt, und der Wachtmeister konnte ihre Farbe nicht erkennen. Buschige schwarze Brauen schlossen sich über der Nase zusammen, und auf der Stirn war eine gerade Falte eingegraben. Nur die angeschwollenen Hände verrieten, daß selbst dieser Körper unter der Hitze litt.

      Vielleicht ließ sich aus dem »Neuen« doch Kapital schlagen für die Karriere des Herrn Wachtmeisters. Wenn das Kommando in der Arbeit gut abschnitt, war das auf alle Fälle ein beredtes Zeugnis für den Eifer des Wachhabenden. Vürmann mußte auch diese Möglichkeit im Auge behalten.

      Bei der Versammlung vor dem Vertreter der Torffirma in der vergangenen Woche hatte sich der Neue allerdings sehr schlecht verhalten. Er hatte gesprochen, obwohl es üblich war, daß Grünlinge den Mund hielten, und er hatte Fleisch und Butter verlangt an Stelle der Tabakzuteilung für die Gefangenen. Fleisch und Butter! Man konnte dem Burschen doch nicht über den Weg trauen. Es mußte einen Grund haben, daß er keine Arbeitssabotage übte. Hinrich Vürmann nahm sich vor, am Abend einmal mit dem schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Athleten zu sprechen. Er wollte ihn kennenlernen, um sicherzugehen.

      Als die Glut ausstrahlende Sonnenscheibe endlich tiefer sank, sammelten sich die Gefangenen und schulterten die Spaten, um den Heimweg anzutreten. Der Häftling mit dem aufgedunsenen, grauen Gesicht sackte zusammen, als er sich in die Reihe stellen wollte. Er wurde von seinen Kameraden rasch aufgefangen, von jenem großen dunklen Mann und einem zweiten, fast zierlich wirkenden blonden Häftling, den die anderen Christoph nannten. Diese beiden faßten den Erschöpften rechts und links und nahmen ihn mit; es schien, daß er wieder laufen konnte, aber in Wahrheit wurde er eher getragen.

      Der Weg über die Heide wurde an diesem Abend allen lang.

      Am Ende des Wegs wuchs vor den Augen das umzäunte Gebäude mit den vergitterten Fenstern auf, dem die Gefangenenabteilungen von den Wachmannschaften zugetrieben wurden.

      Hinrich Vürmann atmete auf, als er endlich in der Wachstube angelangt war, die er mit zwei Kollegen teilte. Er hing die Mütze an den Haken, zog die Jacke aus und spritzte sich erfrischendes Wasser über Gesicht und Nacken. Als er gegessen und getrunken hatte und sich aufs Bett warf, den »Völkischen Beobachter« in der Hand, war sein Wohlbefinden wieder vollständig hergestellt. Über die Zeitung weg schaute er nach seinen Kollegen.

      »Na?«

      Vürmann war der Stubenälteste. Wenn er »Na?« sagte, war das der Auftakt zur Erfindung neuer und zum Aufwärmen alter Zoten. Aber sein »Na?« löste sich an diesem Abend in der warmen Luft auf wie schwindender Wasserdampf. Die Kollegen rauchten und schwiegen.

      Neben der Wachstube lag der Schlaf- und Aufenthaltsraum von 25 Gefangenen. In die Zwischenwand war ein Fenster eingelassen, das der Wachmannschaft erlaubte, das Tun und Treiben der Gefangenen ständig zu beobachten. Die Geräusche aus dem Gefangenenraum waren in der Wachstube zu hören; Schritte, das Klappern der Eßnäpfe und Löffel, das Rücken der Hocker und Bänke, leise Stimmen. Allmählich stieg jenes dumpfe Summen auf, das wie ein Chor wirkte und das Wachtmeister Vürmann schon in der Heide hatte aufhorchen lassen. Da bei der Wachmannschaft Schweigen herrschte, vernahmen alle das rhythmische Summen der Gefangenen, das sich endlich zu den Worten eines Liedes formte:

       »Wohin auch das Auge blicket,

       Moor und Heide rings umher,

       Vogelsang uns nicht erquicket,

       Eichen stehen kahl und leer.

       Wir sind die Moorsoldaten

       und ziehen mit dem Spaten

       ins Moor …«

      »Hört ihr das?« fragte Vürmann und knisterte mit dem Papier des »Völkischen Beobachters«. »Die singen! So gut geht’s der Bande, wahrhaftig!«

      Die Kollegen grinsten, nickten und horchten. Das Lied wurde lauter, und die Wachtmeister vernahmen deutlich, daß es jetzt auch in anderen Gefangenenstuben des Hauses angestimmt wurde.

       »Manche Brust ein Seufzer dehnet,

       weil wir hier gefangen sind.«

      »‘ne Krankheit«, knurrte Vürmann und dachte wieder daran, daß er gern versetzt werden wollte, »… wirkt immer ansteckend.«

      Dann sprang er plötzlich auf, warf die Zeitung fort und lief in Socken zum Kontrollfenster. Er wollte feststellen, welche Stimme der »Neue« in diesem Chor sang und ob die Gefangenen sich etwa zusammengerottet hatten.

      Die Gefangenen hatten sich nicht zusammengerottet. Sie saßen umher; ein paar rasierten sich; einige lagen schon auf den Betten.

      Hinrich Vürmanns Augen mußten lange suchen, ehe sie den gebeugten Rücken des Gefangenen fanden, den er beobachten wollte. Der große dunkle Mensch saß auf einem niedrigen Hocker, vom Kontrollfenster abgewandt, und schien einen Knopf an seine Jacke anzunähen. Sang er mit? Sang er nicht mit? Es war eine tiefe, klangvolle Stimme im Chor zu hören, eine feste, führende Stimme. Aber Hinrich Vürmann konnte nicht sehen, ob jener Gefangene den Mund bewegte.

      »Man muß sich ja auch mal um den Menschen kümmern«, sagte Vürmann.

      Er suchte die Blätter des »Völkischen Beobachters« wieder zusammen und ging über den Korridor hinüber in den Gefangenenraum.

      Als er eintrat, war sofort der Stubenälteste, von Beruf ein gewiegter Ganove, zur Stelle und meldete in strammer Haltung:

      »Fünfundzwanzig Gefangene anwesend, Herr Wachtmeister!«

      Vürmann nickte kaum merklich, und der Stubenälteste trat ab.

      Die anderen Gefangenen nahmen nach außen hin nicht viel Notiz von dem Wachtmeister, aber Vürmann wußte genau, daß er heimlich beobachtet wurde.

      Er