Liselotte Welskopf-Henrich

Jan und Jutta


Скачать книгу

du dich ja aus, Franz. Das hast du mir doch schon ein paarmal erzählt.«

      »Erzählt, ja, erzählt. Ich hab’ da schon meine Verbindungen, ich hab’ nicht geflunkert. Aber wenn die Streifen unterwegs sind?«

      »Wie lange werden sie suchen?«

      »Was heißt, wie lange? Was willst du damit sagen?«

      »Daß wir erst nach der entgegengesetzten Seite gehen, in Richtung Hamburg. Dort muß uns der Christoph Papiere beschaffen. Bis wir an die Grenze kommen, haben sie das Suchen dort schon aufgegeben.«

      »Jan, du bist gar nicht so dumm. Aber unsere Personalbeschreibung wird doch bekanntgemacht. Wenn sie von uns dreien auch nur einen wiedererkennen, ist es aus. Wir mit unseren Zuchthausjacken fallen überall auf.«

      »Zivil bekomme ich in Hamburg für uns alle, Franz. In Hamburg trennen wir uns dann. Wenn wir Papiere haben und eingekleidet sind, trennen wir uns und fahren einzeln. Die Fahrkarten werden uns die Hamburger Genossen schon bezahlen. An der Grenze treffen wir uns wieder, an einem Punkt, den du bestimmen sollst.«

      »Hm. An der Grenze, wie gesagt, da wüßte ich schon, wo und wie etwas zu machen ist … wenn es mit dem Christoph und den Papieren nur klappt – und wie kommen wir raus aus dem Bau hier?«

      »Das laß nur meine Sorge sein. Es geht.«

      »Nächsten Sonnabend? Weißt du … hör mal … du hast die Bande ja auch am eigenen Leibe kennengelernt. Ob sie nicht unsere Familien verhaften und sich an denen rächen?«

      »Und wenn?«

      »Ich hab’ eine Frau, Jan, und Kinder.«

      »Du mußt es wissen.« Jan stand auf und brachte seinen geflickten Strohsack auf sein Bett. Es war nie gut, wenn sich zwei Gefangene zu lange miteinander unterhielten. Das fiel nur auf. Franz mußte mit seinem Entschluß allein fertig werden. Nur wenn er allein damit fertig wurde, konnte er ein zuverlässiger Gefährte bei dem kühnen Unternehmen sein.

      Von diesem Wochenende an betrachtete Jan, der Gefangene, seine Umgebung mit anderen Augen als bisher. Er betrachtete sie mit den Augen eines Mathematikers, der sich vorgenommen hat, eine schwierige Aufgabe mit Genauigkeit zu lösen. Jede Örtlichkeit, jede Entfernung prüfte er mit den Augen wieder und wieder. Das Gitter und die sechs Holzschrauben, mit denen es außen am Fachwerk angebracht war, hätte er schon halb im Schlaf aufzeichnen können. Mehr als einmal schaute er vom Fenster in den Hof hinab und schätzte, daß drei aneinandergeknüpfte Laken genügten, um sich hinunterzulassen. Wenn er an der Ecke vorbeiging, in der der eiserne Ofen stand und in der noch einiges Holz aufgeschichtet war, das zum Feuern diente, falls Kaffee gewärmt oder Wäsche getrocknet werden sollte, so musterte Jan die Holzscheite, und als er das für seine Zwecke geeignetste einmal unbemerkt an sich nehmen konnte, tat er es und versteckte es bei seinem Bett.

      Eines Abends hielt auch der Schlosser Wort und brachte den Schraubenschlüssel. »Jetzt bin ich neugierig«, sagte er dabei nur.

      Jan steckte das Werkzeug zu sich.

      Als Christoph wieder einmal des Abends mit Jan am Fenster stand und Jan in seiner gewohnten Schweigsamkeit irgendwohin schaute, vielleicht nach der Tür, vielleicht nach einem Mitgefangenen, vielleicht nach dem »Spionenfenster« der Wachstube … wer wußte es? …, konnte Christoph nicht an sich halten. »Wie du nur so gleichgültig sein kannst, Jan«, meinte er. »Als ob wir am nächsten Sonnabend zum Kegelschieben verabredet seien. Schließlich …«

      »Schließlich …?«

      »Also schließlich ist es doch etwas anderes!«

      »Wägen und zielen muß man da und da!«

      Es war dämmrig. Die meisten Gefangenen schwatzten oder aßen noch. Jan lehnte mit dem Rücken gegen das geöffnete Fenster. In seiner Rechten, in dieser großen, muskulösen, dunkelgebräunten Hand, hielt er den Schraubenschlüssel. Christoph stand so, daß die anderen Gefangenen das Werkzeug nicht hätten sehen können, auch wenn sie nach Jan hinblickten. Aber sie schauten gar nicht hin. Jan betrachtete noch einmal die Holzschrauben, mit denen die Gitter am Fachwerk festgemacht waren. Gitter und Schrauben waren verrostet, und Jan fürchtete, daß die Schrauben quietschten, wenn sie gelöst wurden. Darum mochte er nicht nachts daran arbeiten, wenn in der Stille jedes Geräusch auffiel. Er wollte lieber die Abendstunden benutzen, in denen es im Saal noch unruhig war. Mit unauffälligen, wie selbstverständlichen Bewegungen setzte er den Schraubenschlüssel an und lockerte die eine, dann auch eine zweite Schraube ein wenig.

      »Geht’s?« fragte Christoph gespannt.

      »Wird schon. Wir haben ja noch ein paar Abende Zeit.« Jan steckte den Schraubenschlüssel wieder zu sich. »Haltet euch bereit – du und Franz. Nächsten Sonnabend. Nach Mitternacht, wenn der Vürmann und seine Kumpane und der Hauptwachtmeister eingeschlafen sind. In der Nacht zum Sonntag schlafen sie fester als sonst, und morgens merken sie später, daß wir weg sind.«

      Christoph trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett.

      »Das wird ein Ding. Na schön.«

      Die Woche ging dahin. Den Gefangenen war es immer erschienen, als ob die Tage unendlich langsam vorwärts krochen. Aber jetzt hatte sich in der Vorstellung von Jan, Christoph und Franz das Tempo des Zeitablaufs geändert. Die Stunden und Tage schienen trotz Hitze und Mühsal zu fliegen. Montag, Dienstag – Mittwoch – Donnerstag. Am Freitag hatte Jan die vierte Schraube locker gemacht.

      Der 30. August brach an.

      Am Morgen dieses Tages wurde ein Gefangener, genannt Hannes, aus der Strafzelle, die sich im Keller des Gebäudes befand, entlassen und trat wieder mit den anderen zur Arbeit im Moor an. Hannes gehörte nicht zu den »Politischen«; er büßte für einige gemeine Vergehen, wußte der Teufel, was er eigentlich angerichtet hatte. Jan, Christoph und Franz hatten sich früher kaum nach Hannes umgesehen. Als er mit seinem losen Mund den Wachtmeister Hinrich Vürmann reizte, ohne sich selbst dessen recht bewußt zu sein, hatten die drei Freunde nur mit dem Kopf geschüttelt. Aber heute schauten sie verstohlen immer wieder nach dem Köll’schen jung. Wie verändert erschien er! Sein Gesicht war blutleer, die Augen dunkel umrändert. Er ging krumm, und als er anfing, Torf zu stechen, lahmte er in der Schulter. Dennoch hastete er bei der Arbeit. Hin und wieder blickte er dabei scheu nach Vürmann, in dessen Zügen der Hohn glänzte.

      »Den Hannes hat der Vürmann fertiggemacht«, sagte Christoph zu Jan. »Der Vürmann, der Schuft, der prügelt …«

      Jan nickte.

      »Der Hannes ist nicht der erste, den er geprügelt hat …«, bemerkte ein Gefangener, der Christophs Worte mitgehört haben mußte. »Der macht mit uns, was er will!«

      Die Gefangenen verstummten, denn der Wachtmeister kam näher.

      Die Gefangenen arbeiteten weiter. Geduckt, wie ein mißhandeltes Tier, schuftete Hannes.

      Als die Sonne dieses Tages sank und die Gefangenen im Saal ihre Suppe in Empfang nahmen, war die allgemeine Stimmung noch gedrückter und mißmutiger als in der Woche zuvor. Zwar hatte die Augusthitze nachgelassen und einem milden Herbstwetter Platz gemacht. Aber die Erschöpfung, die die Körper in den schwülen Tagen gequält hatte, wirkte noch nach. Hoffnungen waren wie vertrocknet, kleine Freuden abgeblättert, abgefallen wie Blätter von den verdorrten Bäumen im Moor. Wachtmeister Vürmann fühlte sich in jener Laune, in der er bereit war, um nichts einen Menschen totzuschlagen. Die Gefangenen waren gereizt; dem einen schien es, daß er den anderen hassen müsse, und der Anblick eines Zigarettenstummels konnte die Ganoven unter den Gefangenen bösartig machen. Aber plötzlich sackte dieser oder jener zusammen und hätte am liebsten geweint. Der Sommer war vorbei. Der nasse Herbst stand bevor und der Winter mit Schnee und Kälte. Wann sollte dieses Leben ein Ende nehmen? Wieder ging ein Summen durch den Saal, und es formten sich die Worte:

       »Auf und nieder gehn die Posten

       , keiner, keiner kann hindurch …

       Flucht wird nur das Leben kosten.

       Vierfach ist umzäunt