1989 – Mauerfall
EINE ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNG
aus dem Jahre 1988 unter dem Motto Ein Sachse ist immer dabei
VORBEMERKUNG
Geboren im Jahre 1926 hat mir das Schicksal in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten bis in die jüngste Gegenwart hinein, die kostenlose Teilnahme an der europaweiten, zeitweise weltumspannenden Nonstop-Live-Supershow, „Die törichten Streiche der Menschheit im 20. Jahrhundert“, ermöglicht.
Ein besonderes Privileg war das nicht. Schließlich haben alle in unseren Breiten und um diese Jahre Geborenen das gleiche Spektakel, wenn auch aus unterschiedlichen Blickrichtungen erlebt, die meisten, wie ich, aus der Sicht des kleinen Mannes. In all diesen Jahren habe ich aufgeschrieben, was mir diesbezüglich an Bemerkenswertem widerfuhr und auch, was ich an Bemerkenswertem in Erfahrung bringen konnte, ohne besondere Absicht und deshalb auch mehr oder weniger lückenhaft. Immerhin verfüge ich damit über Aufzeichnungen, die schon deswegen interessant sind, weil sie in den meisten Fällen unmittelbar nach den betreffenden Ereignissen niedergeschrieben wurden und so ziemlich getreu widerspiegeln, wie das damals war. Ich bin also nicht darauf angewiesen, Vergangenes mühsam zu rekonstruieren oder durch freie Erfindungen abzurunden, wenn ich in den folgenden Kapiteln ein begrenztes Thema aus dem Gesamtrahmen herauslöse, Episoden, Begebenheiten, Geschichten, die eine Zeitspanne von 44 Jahren umfassen, beginnend im Mai 1945 bis in die Novembertage des Jahres 1989, Geschichten, die mir an den Grenzen und durch die Grenzen in und um Deutschland widerfuhren: GRENZGESCHICHTEN. Es sind Geschichten aus der einstigen sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, wie sie sich tausendfach in ähnlicher Weise zugetragen haben, es sind alltägliche Geschichten.
Für unsere Verwandten aus dem Westen hatten die Grenzen schon frühzeitig ihren trennenden und abschreckenden Charakter verloren, denn die westliche Welt bot Bewegungsfreiheit in überreichem Maße. Es fiel ihnen deshalb nicht schwer, die letzte, noch unbehagliche Gefühlte weckende Grenze, die Trennungslinie zwischen Ost und West am „Eisernen Vorhang“, als gegeben hinzunehmen, zumal eine landläufige Meinung besagte, daß hier ohnehin die Welt zu Ende sei, und dahinter nur Kommunisten und Russen ihr Unwesen trieben. Für den gewöhnlichen DDR-Bürger dagegen blieben die ihn umschließenden Grenzen bis zuletzt nur schwer zu überwindende Hindernisse, die seine Oberen aufgetürmt hatten in dem Wahn, nur dadurch ihre und ihres Staates Existenz bis in alle Ewigkeit sichern zu können. Erst mit der „Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland“ vom 30. November 1988 gab es eine gesetzliche Grundlage, die regeln sollte, wer, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Richtung die Grenze überschreiten und das Vaterland verlassen durfte. Bis dahin war staatliche Willkür oberstes Gesetz. Auch davon wird in den Grenzgeschichten die Rede sein.
Die Grenzgeschichten schreibe ich auf...
1.weil es sein könnte, daß meine Kinder, Kindeskinder oder wer auch immer, später einmal, wenn die Gegenwart Geschichte geworden ist, gern mehr darüber wissen möchten, wie das damals war, und was ihren Eltern, Großeltern, Urgroßeltern u.s.w. widerfuhr,
2.weil mir dazu, wie bereits erwähnt, einiges Material zur Verfügung steht, und
3.weil Grenzgeschichten in Verbindung mit dem „Reiseverbot“ dazu beitrugen, daß sich manch Bewohner der DDR von seinem Staat lossagte, sei es gedanklich oder die Gedanken in die Tat umsetzte.
Soweit die Vorbemerkung und nun die Grenzgeschichten, vierzehn an der Zahl.
Aufgeschrieben im Jahre 1993
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ERGÄNZENDE GEDANKEN
Diese Geschichten schrieb mein Vater Anfang der 1990er Jahre auf. Punkt 1 kann schon bestätigt werden, denn ich wollte nicht nur mehr über die Geschichte wissen, sondern auch einige Grenzgeschichten aus meinem eigenen Erfahrungsschatz ergänzen.
Die damaligen innerdeutschen Grenzen sind heute nicht mehr vorhanden. Auch Berlin ist wieder von allen Seiten zugänglich. Die sogenannte Freundschaftsgrenze zur damaligen ČSSR hat heute ebenfalls ihren trennenden Charakter verloren. Ganz wie es beliebt, können Wanderungen grenzüberschreitend unternommen werden. Im Vertrag von Eger im Jahr 1459 wurde die Grenzfestsetzung zwischen Sachsen und Böhmen besiegelt. Diese Grenzlinie regulierte die Gebietsansprüche beider Länder bzw. der Herrscherhäuser der Wettiner und der böhmischen Könige, hatte also keinen nationalen oder sprachlichen Hintergrund. Die Grenzfestlegung hat sich übrigens bis heute kaum verändert und ist somit die am längsten bestehende Grenze Europas.
Das Jahr 1961 war ein einschneidendes Jahr bezüglich Grenzschließung und deshalb habe ich in diesem Kapitel Eindrücke und Wahrnehmungen meiner Verwandten zur Sprache gebracht, welche sich während eines Briefwechsels vorsichtig zum Thema Mauerbau äußerten. Die große Politik kann in diesem Büchlein nicht erörtert werden, dazu findet man in der Fachliteratur genügend Informationen. Doch wie haben sich die Menschen vor allem in der DDR mit der Abriegelung zum westlichen Ausland abgefunden? Auch die Westdeutschen waren die ersten Jahre von der Grenzregelung mit betroffen, denn ihnen verwehrte man die Einreise in den anderen Teil Deutschlands.
In den 1980er Jahren spitzten sich die politischen Verhältnisse zu, denen die DDR-Regierenden am 9. November 1989 nichts mehr entgegensetzen konnten außer den Schlagbaum an der Bornholmer Brücke in Berlin zu öffnen – für immer!
Ein neues Kapitel der deutschen Geschichte begann. Diese und andere Episoden werden in dieser kleinen Publikation erzählt.
Die deutsch-tschechische Grenze auf dem ehemaligen Fremdenweg in der Sächsisch-Böhmischen Schweiz
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DIE ERSTE GESCHICHTE
Wie ich im Mai 1945 ganz unvermutet auf eine Grenze stieß, die es bis dahin in Deutschland noch zu keiner Zeit gegeben hatte, und wie ich ebenfalls ganz unvermutet, die Sowjets von ihrer allerbesten Seite kennenlernte.
Am 11. Mai 1945, drei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation, die in Deutschland den Zweiten Weltkrieg beendete, stand ich als junger Soldat, der mit gemischten Gefühlen seine Flinte ins Korn geworfen, der die Wirren der letzten Wochen ohne Schaden zu nehmen überstanden und dessen Einheit sich sang und klanglos aufgelöst hatte, ganz unvermutet an einer Grenze, die es erst seit wenigen Tagen gab, an der Demarkationslinie zwischen den amerikanischen und den sowjetisch besetzten Teilen Deutschlands. Diese Grenze verlief damals an der Zwickauer- und vereinigten Mulde bis zu deren Einmündung in die Elbe, dann weiter stromabwärts, war bereits in jenen Tagen nicht mehr frei passierbar und wurde, besonders auf der westlichen, amerikanischen Seite, scharf bewacht.
Erst