aber noch nicht hermetisch abgesperrt und in beiden Richtungen durch Flüchtlinge, Umsiedler, große und kleine Schieber ziemlich stark frequentiert. Demzufolge war auch der Bahnsteig, von dem der nächste Zug in Richtung Halle abfahren sollte, dicht belegt mit Menschen aller Altersstufen, die danach trachteten, sich eine günstige Ausgangsposition für den zu erwartenden Ansturm auf den einfahrenden Zug zu sichern.
Der Leipziger Hauptbahnhof
Die Bahnhofshalle – hier im März 2014 menschenleer
Als es dann soweit war, verwandelte sich der Bahnsteig in einen brodelnden Hexenkessel. Von beiden Seiten, durch Türen und Fenster, versuchten sie die Waggons zu erstürmen, blieben mit ihrem Gepäck in den engen Türen hängen, die Nachdrängenden fluchten, Kinder heulten, und wer nicht rücksichtslos seine Ellenbogen gebrauchte, blieb draußen. Zweimal gelang es mir, von der dem Bahnsteig abgewandten Seite aus, über die Gleise, hineinzukommen, zweimal wurden wir von der Bahnpolizei wieder hinausgejagt. Auch Puffer und Trittbretter mußten unter Androhung polizeilicher Gewalt wieder geräumt werden. Mit erheblicher Verspätung fuhr der Zug ab, ohne mich.
Beim nächsten Anlauf gehörte ich zu den Glücklichen, die in letzter Minute noch einen Stehplatz erkämpfen konnten. Die kurze Fahrt bis nach Halle war qualvoll: Auf einem Bein stehend, die Fenster mit Brettern vernagelt, die Luft zum Ersticken. Erst am Abend ging es von Halle aus unter ähnlichen Bedingungen weiter in Richtung Nordhausen. Unterwegs schloss ich mich zwei Grenzgängern an, die in Leipzig zu Hause waren. Der eine war ein gebürtiger Sachse, der andere Franzose. Der Franzose war nach dem Kriege hier hängengeblieben. Er sprach perfekt Deutsch, und so erfuhr ich, daß er in Leipzig eine Frau hätte. Die Russen wären aber verrückt, meinte er, denn sie hätten schon mehrere Male versucht, ihn abzuschieben. Jetzt wolle er nach Hamburg, um seinen Schnaps gegen Heringe einzutauschen. Dieser Zug nach Nordhausen war kein gewöhnlicher Zug, denn unzählige Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität hofften jenseits der Grenze auf ein besseres Leben. Mit einem Berliner kam ich ins Gespräch. Er berichtete, dass sein Beruf Friseur wäre, aber er hätte schon als Koch, Maler, Kellner, Tischler, Maurer, Bergmann und Heizer gearbeitet. Er war drei Jahre in russischer Gefangenschaft, jetzt mußte er aus Berlin türmen, da er einen Russen niedergeschlagen hat, der sich an seiner Frau vergreifen wollte.
Trotz nächtlicher Stunde war der Bahnhof von Nordhausen überfüllt mit Menschen, die aus den unterschiedlichsten Motiven von drüben kamen oder nach drüben wollten. Im Warteraum waren nicht nur Tische und Stühle, sondern auch die Fußböden belegt. Dort hatte sich, wer noch ein freies Fleckchen gefunden hatte, ausgestreckt, um ein paar Stunden zu ruhen. Die meisten wollten am Morgen mit der Bahn weiter nach Ellrich, um dort über die Grenze zu gehen. Angesichts der vielen Menschen, die mit uns die gleiche Absicht und das gleiche Ziel hatten, überkamen uns doch einige Zweifel, ob das der richtige Weg mit den besten Erfolgsaussichten sein würde. Im Gespräch mit Ortskundigen wurden wir auf eine andere, offenbar günstigere Möglichkeit hingewiesen.
Noch in der Nacht fuhren wir deshalb mit der Bimmelbahn von Nordhausen aus in Richtung Zwinge bis zum Bahnhof Stöckey, ganze 40 Kilometer in vier Stunden. Dort verließen mit uns noch etwa 30 weitere Personen den Zug, die sich alle in einer bestimmten Richtung in Bewegung setzten. Wir waren noch zu dritt und folgten in angemessenem Abstand, um schnell untertauchen zu können, falls das erforderlich werden sollte. Die Sonne war gerade aufgegangen. Zunächst führte der Weg an einem Waldrand entlang, dann ein Stück über freies Feld, hinter dem Weiler Weilrode, ständig ansteigend wieder durch den Wald. Überall tiefster Frieden, trotzdem waren die Sinne angespannt und darauf vorbereitet, daß irgendetwas passieren könnte. Auf dem Kamm des Höhenzuges erreichten wir den jenseitigen Waldrand und damit die Zonengrenze. Der Grenzverlauf war nicht markiert, ich konnte ihn aber auf meiner Reichskarte eindeutig ausmachen und verfolgen.
Seit dem Abmarsch vom Bahnhof Stöckey vor zwei Stunden, waren wir keinem Menschen begegnet. Ungesehen und unbehelligt wechselten wir aus der sowjetischen in die britische Besatzungszone hinüber. Aber erst in Osterhagen, eine halbe Stunde jenseits der Grenze, fühlte ich mich sicher vor übereifrigen Grenzwächtern und vor den mit der Übergabe der Arbeitsverpflichtung angedrohten Strafen für den Fall des „Nichterscheinens“. In Osterhagen kamen wir mit einem Grenzgänger ins Gespräch. Von Ellrich kommend hatte er es erst beim zweiten Versuch geschafft, die Grenze zu überwinden. Das erste Mal hatten ihn die Russen ergriffen. Zur Strafe mußte er zwölf Stunden im Gipswerk Ellrich arbeiten. Auch beim zweiten Versuch fiel er wieder den Russen in die Hände. Mit einer Flasche Schnaps konnte er sich schließlich freikaufen.
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DIE DRITTE GESCHICHTE
Wie und weshalb ich in der Neujahrsnacht 1947/48 abermals über die grüne Grenze ging, diesmal aber in west-östlicher Richtung.
Um mich einer unbefristeten Arbeitsverpflichtung in den Uranbergbau zu entziehen, hatte ich im Juli 1947, nicht ganz freiwillig, die sowjetische Besatzungszone verlassen und war in die britische Besatzungszone über gewechselt. Dort erreichte mich, von meinen Eltern nachgesandt, ein Schreiben mit folgendem Wortlaut:
„Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Sie für den III. Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium im Herbst 1947 nicht zugelassen werden konnten. Grund: Sie scheinen sich am Neuaufbau nicht aktiv zu beteiligen, da Sie weder der FDJ noch einer der antifaschistischen Parteien angehören.“5
Bereits im Frühjahr, lange bevor an die Arbeitsverpflichtung zu denken war, hatte ich mich an der Universität Leipzig um Teilnahme an diesem Lehrgang beworben. Das war nun die Reaktion darauf. Mir blieb damals nichts weiter übrig, als der Stelle, die mich nicht für würdig befunden hatte, meine Verwunderung wegen dieser eigenartigen Auswahlkriterien zur Kenntnis zu geben. Statt einer Antwort erhielt ich eine Aufforderung, mich Anfang Januar 1948 in Leipzig zum Unterricht einzufinden.
Trotz der Möglichkeit, daß die angedrohten Strafen wegen Nichtbefolgens der Arbeitsverpflichtung jederzeit noch wirksam werden könnten, entschied ich mich, das Risiko auf mich zu nehmen und in die SBZ6 zurückzukehren. In den letzten Monaten hatte ich meinen Lebensunterhalt als Waldarbeiter bei einer britischen Firma verdient, deren Anliegen es war, den deutschen Wald zu dezimieren und die ihren Sitz in Ringelstein, Kreis Büren in Westfalen hatte. Von dort aus machte ich mich also in den Abendstunden des 31. Dezembers 1947 auf den Weg, um in der Neujahrsnacht zwischen Eichenberg und Arenshausen im Eichsfeld über die Grenze zu gehen. Zweifellos war das ein Zeitpunkt, der das Unternehmen außerordentlich begünstigte. Das neue Jahr wurde eingeläutet, als der Zug in Hedemünden an der Werra einlief, und kurz nach Mitternacht stand ich, zunächst ziemlich einsam, in der Schalterhalle des Bahnhofes Eichenberg, mit den besten Vorsätzen für das neue Jahr und in der Hoffnung auf einen glücklichen Grenzübergang. Offenbar war nicht schwer zu erkennen, welches Vorhaben mich zu so außergewöhnlicher Stunde an diesen Ort verschlagen hatte, denn es dauerte nicht lange, da hatten sich ein paar Schicksalsgenossen zusammengefunden, die wie ich, die Gunst der Neujahrsnacht für ihre Zwecke nutzen wollten.
Es war eine ruhige, mondhelle Nacht, der Boden war hart gefroren, stellenweise lag noch etwas Schnee, und wir schienen tatsächlich weit und breit die einzigen Menschen zu sein. Bis Hohengandern, bereits in der Ostzone, marschierten wir an einem Bahndamm entlang, der keine Gleise mehr trug, unbehelligt von Grenzwächtern beider Seiten.
Von Arenshausen, der ersten Bahnstation jenseits der Grenze, hofften wir, im Laufe des Tages mit der Eisenbahn weiterzukommen. Aber der Fahrplan besagte, daß an Sonn- und Feiertagen der Zugverkehr ruhe, daß wir demzufolge noch über 26 Stunden warten müßten. Am Neujahrsmorgen gegen 3 Uhr mußten wir diese herbe Enttäuschung hinnehmen. Zum Glück war der Schalterraum des kleinen Bahnhofes nicht abgeschlossen. Es gab dort ein paar Bänke, die zur Nachtruhe einluden, in meinem Gepäck hatte ich eine Wolldecke, und ein Gefährte dieser Nacht fand in den Zäunen benachbarter Grundstücke geeignetes Brennmaterial für den eisernen Ofen, der offenbar gemäß Eisenbahnbau-