Roman Sandgruber

Traumzeit für Millionäre


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Amerika gegangen und todkrank zurückgekehrt. Man unterhielt sich glänzend, in der Hofoper und im Burgtheater, auf den Flaniermeilen am Ring und auf den Rennplätzen im Prater, in den Separées im Sacher und bei der Heurigenmusik in Grinzing. „Die Frauen sind schön und elegant. Und überhaupt alles ist verteufelt elegant“, schrieb Anton Tschechow anlässlich seines Aufenthalts über das Wien des Fin de Siècle.1 Die Wortwahl „verteufelt“, beim Wortsinn genommen, lässt die dunkle Ahnung von einem bevorstehenden Verderben mitschwingen.

      Der Glanz der Ringstraßengesellschaft blendet. Ihre Leistungen beeindrucken. Die damit verbundenen Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und Fehlentscheidungen müssen nachdenklich stimmen. Es sind etwa 1.000 Millionäre, die die Spitze dieser Gesellschaft bildeten: das Kaiserhaus, hohe Adelige und Rentiers, Bankleute, Großhändler und Industrielle, einige Baumeister, ein paar Künstler, Wissenschaftler und Ärzte, kaum Politiker und Beamte, eine Reihe von Witwen und reichen Erbinnen und ein Kardinal. Wie und von wem diese „verteufelte“ Eleganz finanziert wurde, darüber hat sich die österreichische und internationale Geschichtsforschung, die zum Fin de Siècle und seinen kulturellen und sozialen Oberschichten hervorragende und zu Recht berühmte Studien präsentiert hat, wenig Gedanken gemacht. Die österreichische Wirtschaftsgeschichte hat sich 50 Jahre lang vorwiegend mit Fragen des Wirtschaftswachstums beschäftigt. Die Sozialgeschichte hat sich in Richtung der Kulturgeschichte bewegt. Die zwei informativen und ambitionierten Teilbände über die sozialen Strukturen der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 heißen zwar „Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ und „Von der Stände- zur Klassengesellschaft“. Dass „Klassen“ auch etwas mit Einkommen und Vermögen zu tun haben, kommt in den fast 2.000 Seiten, die sich mit den „sozialen Strukturen“ und der sozialen Frage beschäftigen, aber nicht zum Ausdruck.2 Fragen nach Einkommen und Vermögen sind in Österreich offensichtlich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in historischer Perspektive in hohem Maße tabuisiert. Was verdienten die Habsburger, der Hochadel, die Bankiers und Industriellen, die Freiberufler, Künstler oder auch die Frauen, die die Ringstraßengesellschaft bildeten? Was waren die Ursachen der extremen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen? Wer gehörte zu jenem Kreis der reichsten Wienerinnen und Wiener, die die „erste“ und „zweite“ Gesellschaft der untergehenden Habsburgermonarchie bildeten und gleichzeitig deren kulturellen und alltäglichen Glanz und Nachklang formten?

      Die vorliegende Studie hat mehrere Ziele: zum ersten eine Analyse der Einkommensverteilung und der Spitzeneinkommen, die sich heute wieder den Verhältnissen vor 100 Jahren angleichen, nicht nur in den USA und in Westeuropa, sondern auch in Österreich, zweitens eine Analyse der Sozialstruktur dieser obersten Oberschicht und der sozial- und wirtschaftshistorischen Triebkräfte des Wiener Fin de Siècle und drittens eine biographisch-prosopographische Erfassung der Zugehörigen dieser Ringstraßengesellschaft. Mit insgesamt 929 Familien wird der Blick von den fünf bis zehn großen, geistesgeschichtlich herausragenden Persönlichkeiten, die meist stellvertretend für das Wien des Fin de Siècle genommen werden3, auf jenes oberste Promille erweitert, das die finanzielle und wirtschaftliche Oberschicht der Superreichen dieser Stadt ausmachte.

      Das Projekt wurde ohne öffentliche oder private finanzielle Förderungen und Drittmittel durchgeführt. Dennoch ist der Autor vielen Personen zu Dank verpflichtet. Gerhart Bruckmann gab den Anstoß, als er dem Autor die Kopie einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 überließ.4 Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl haben mit ihren Forschungsprojekten zum Bürgertum im 19. Jahrhundert und zu Armut und Reichtum viel wissenschaftliche Vorarbeit geleistet, ebenso die Akademie der Wissenschaften mit dem Biographischen Lexikon und Helmut Rumpler mit der Herausgabe der Monumentalreihe zur Geschichte der Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Dass sich amerikanische Historiker in besonderem Maß für das Wiener Fin de Siècle interessiert haben, hat die internationale und innerösterreichische Aufmerksamkeit für die Thematik sehr gesteigert. Georg Gaugusch hat mit seinen genealogischen Studien zu den 500 wichtigsten jüdischen Familien Wiens nicht nur eine wichtige Grundlage geliefert, sondern auch den Autor selbstlos mit Rat und Tat bei der Erstellung der Biographien unterstützt und die Kurzbiographien einer akribischen Korrektur unterzogen. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv war bei Datenrecherchen im Melderegister sehr behilflich, ebenso das Stadtarchiv St. Pölten. Ich danke zahlreichen Forschern und Nachkommen der damaligen Familien, die mich durch Informationen und Materialbeistellung unterstützt haben: Jens Budischowsky, Michael John, Petrus Kaserer, Oliver Kühschelm, Albert Lichtblau, Dieter Lutz, Michael Pammer, Georg Ransmayr, Wolfgang Reitzi, Markus Riccabona, Elmar Samsinger, Georg Sayer, Gertraud Vonwiller, Alexander Zerkowitz und vielen anderen. Ich danke Norbert Loidol, der mit seinem großen Wissen die Erstellung des Namensregisters besorgt und manche Fehler korrigiert hat. Gerlinde Hinterhölzl hat den biographischen Teil lektoriert. Der Dank gilt nicht zuletzt dem Styria Verlag und Johannes Sachslehner, der das gesamte Buchprojekt betreut hat, und der Johannes Kepler Universität Linz, in deren wissenschaftlichem Feld die Forschungen erfolgen konnten. Vor allem aber danke ich meiner Frau Margith und meiner Familie für die langjährige Geduld, die ein derartiges neben dem Universitätsalltag laufendes Forschungsprojekt erfordert.

       Linz, im Juli 2013

       Ball der Stadt Wien: Karl Lueger und die „zweite“ Gesellschaft. Aquarell von Wilhelm Gause, 1904.

      Hermann Horwitz war einer der sonderlichsten Bankleute Wiens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er litt, obwohl äußerst wohlhabend, an einer Verarmungsneurose. Nach Berichten sei er immer wieder, manchmal sogar mitten in der Nacht, aufgestanden, um sich über sein Vermögen zu vergewissern und Bilanz zu legen, in der Angst, am Hungertuch nagen oder seine Familie mittellos zurücklassen zu müssen. Schlussendlich führte dieser Wahn zu seinem völligen Zusammenbruch und Selbstmord. Seine Ärzte, Dr. Carl Bettelheim und der junge Sigmund Freud, hatten vergeblich versucht, seinen Ängsten mit Kuraufenthalten, Medikamenten und Analysen zu begegnen.5

      Auch Sigmund Freud lebte in der ständigen Angst vor Verarmung. Der aus Wien gebürtige Nestor der amerikanischen Betriebswirtschaftslehre Peter Drucker, dessen Eltern Freud gut kannten und dem er daher des Öfteren begegnet war, glaubte bei Freud eine „Geld- und Verarmungsneurose“ diagnostizieren zu können. Freud fühlte sich ein Leben lang unterbezahlt. Er beklagte sich unaufhörlich über seinen imaginären Geldmangel, obwohl er ausgesprochen gut verdiente und zu den sehr wohlhabenden Wienern gehörte. Peter Drucker meint, dass derartige Neurosen in Wien um 1900 relativ häufig gewesen seien.6

      Reich zu sein und arm zu werden beherrschte die Träume und Ängste des Fin de Siècle. Reichtum wurde seither nie mehr so unverhüllt und demonstrativ zur Schau gestellt wie um 1900: mit riesigen Villen, vielen Dienstboten, großen Autos, teuren Pferden, weiten Reisen. Geld bestimmte auf Länder- und Gemeindeebene immer noch das Wahlrecht. Das Geld kämpfte mit dem ererbten Adel um die Position in der Gesellschaft. Wien um 1910 war ein Traumland für Millionäre. Die schmale Oberschicht dieser Millionäre teilte sich in zwei Gruppen, die sich gegenseitig belauerten und konkurrenzierten: die Hofgesellschaft zum einen, das Großbürgertum zum anderen, die einen ausgestattet mit viel symbolischem Kapital und großem Erbe, die andere mit noch größerem realen Kapital und rasch wachsenden Zukunftsaussichten. Der Adel verstand sich als die „erste Gesellschaft“, als „die“ oder „eigentliche“ Gesellschaft. Sozial gab er immer noch den Ton an. Ökonomisch stand er längst im Schatten der „zweiten“ Gesellschaft, der alten und neuen Großbürger, auf die sich der Großteil des Reichtums konzentrierte.

      Es war die „gute, alte Zeit“. Die Kaiserzeit. Aber war es auch eine gute Zeit? Die sozialen Probleme waren übergroß und die Schatten lang. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag immer noch bei etwa 60 Stunden. Die soziale Absicherung war ungenügend, die Wohnungsnot nicht gelöst. Urlaub gab es kaum, eine Krankenversicherung nur für Industriearbeiter, Handelsangestellte und Staatsbeamte, eine Altersversicherung überhaupt nur für Angestellte und Staatsdiener, eine Arbeitslosenversicherung für niemanden. Was aus bürgerlicher Sicht als „Zeitalter der Sicherheit“ erschien, war für die Arbeiter immer noch