als innere „Stimmen“, lassen sich meist in kurze und prägnante Sätze zusammenfassen, begleiten uns – oft unbewusst – durchs ganze Leben und wirken sich maßgeblich auf unser Verhalten und unseren Charakter aus. Manchmal wurden uns diese Stimmen verbal übermittelt („Sag immer schön danke!“); manchmal haben sie sich als Reaktion auf das nonverbale Gesamtverhalten der Umwelt herausgebildet („Komm mir nicht zu nahe!“).
Der heranwachsende Mensch reagiert auf diese Stimmen, indem er bestimmte Ideale internalisiert („Ich bin gut, wenn ich …“), Vermeidungsstrategien entwickelt, um Strafen oder anderen unangenehmen Folgen des „Fehlverhaltens“ zu entgehen, und spezifische Abwehrmechanismen aufbaut. Schuldgefühle treten immer dann auf, wenn man dem eigenen Ideal und Anspruchssystem nicht gerecht wird. Die eigentliche Fehlhaltung, die sich im Enneagramm in neun „Leidenschaften“ oder „Wurzelsünden“ manifestiert, bleibt dagegen meist verborgen. Sie gehören ja gerade zu den Mitteln, die wir bei der Verfolgung unserer falschen Ideale einsetzen. Das Enneagramm deckt diese illusionären Ideale und falschen Schuldgefühle auf und hilft uns, unserem wahren Dilemma ins Auge zu sehen.
Wir gehen davon aus, dass wir zugleich von „ererbten“ Anlagen, von familiären (systemischen) Konstellationen und von Umwelteinflüssen geprägt sind. Wichtiger als die Ursachenforschung (die Frage nach dem „Woher“) ist die Frage nach dem Ziel unseres Lebens („Wohin?“). Als Jesus und seine Jünger einem Blindgeborenen begegnen, fragen sie den Meister: „Wer hat gesündigt, er selbst oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Jesus antwortet: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm sichtbar werden!“ (Johannes 9,1 ff.). Das Enneagramm kann uns helfen, einen Blick für unsere Zukunft und Bestimmung zu bekommen, für jenes wahre Angesicht, das wir noch nicht „haben“, das aber bereits in unserer Tiefe schlummert.
Das Enneagramm (von griechisch ennea = neun und gramma = Zeichen oder Figur) wird als Kreissymbol dargestellt. Er symbolisiert die Ganzheit, aber auch eine energetische Bewegung im Uhrzeigersinn. An der Peripherie des Kreises befinden sich im Abstand von jeweils 40 Grad neun Punkte, die von EINS bis NEUN durchnummeriert werden, wobei NEUN der „obere“ Ausgangspunkt ist. Die Punkte DREI, SECHS und NEUN sind durch ein Dreieck miteinander verbunden, die Punkte ZWEI, VIER, EINS, SIEBEN, FÜNF, ACHT (und ZWEI) durch einen unregelmäßigen sechseckigen Stern. Jeder der Enneagrammpunkte bezeichnet einen bestimmten Energiezustand, die Übergänge zwischen den Zuständen sind fließend. Die Verbindungslinien verweisen auf die Dynamik zwischen bestimmten Energiepunkten. Aber bevor wir uns diesen Energien und ihrer Dynamik detailliert zuwenden, sind noch eine Reihe weiterer Vorinformationen nötig, die insbesondere die Entstehungsgeschichte dieses Symbolsystems betreffen.
Figur 1: Das Enneagramm
Das Geheimnis der Zahl 153
Die Ursprünge des Enneagramms lagen lange wie hinter einem Schleier verborgen. Das machte die Sache einerseits besonders geheimnisvoll – andererseits nährte es Spekulation und Skepsis und trug kaum zur Glaubwürdigkeit oder gar zu einer ernsthaften akademisch-wissenschaftlichen Würdigung des Systems bei. Es waren ja keinerlei schriftliche Quellen bekannt, aus denen man hätte nachvollziehen können, dass es sich tatsächlich um eine „uralte Weisheitslehre“ handelt, wie die beiden „Entdecker“ oder „Erfinder“ des Enneagramms behauptet haben. Auch wir mussten 1989, als unser Buch erschien, dieses Manko bekennen. Man wusste zunächst nur, dass das Enneagramm im Abendland erstmals 1916 von George Iwanowitsch Gurdjieff (1866 oder 1872 bis 1949, selbst sein Alter verschleierte er!) vorgestellt wurde – und zwar als umfassendes Symbol der harmonischen Struktur und der Dynamik des Kosmos, als kosmisches Prozessmodell – und nicht als Charaktertypologie. Gurdjieff gab niemals explizit Auskunft über seine Quellen. J. G. Bennett, einer der prominentesten Schüler Gurdjieffs, vertrat die Ansicht, Gurdjieff hätte das Enneagramm von asiatischen Sufis gelernt. Oscar Ichazo, der in den frühen 70er Jahren das „Enneagramm der Fixierungen“ entwickelte, benutzte Gurdjieffs Modell und verwies in mehreren – zum Teil sehr kryptischen – Aussagen ebenfalls auf geheime sufistische Quellen, aber auch auf Engelsvisionen und Ähnliches. Das macht die Sache nicht schlüssiger. Auch Ichazo (geb. 1931) hält seine Quellen bis heute letztlich geheim.
Die gängige Entstehungslegende des Enneagramms, die in der Zeit des ersten Enneagrammbooms in den 70er Jahren kolportiert wurde, lautet in etwa: Die Ursprünge des Enneagramms reichen viele Jahrtausende zurück bis in den Nahen Osten, wo die Wiege der großen Menschheitsreligionen stand. Dieses Wissen, das alle großen Religionen beeinflusst habe, sei im Lauf der Jahrtausende von vielen angereichert und tradiert worden. Bennett nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die „Magi“, jene morgenländischen Weisen des ersten vorchristlichen Jahrtausends, die zugleich Priester, Philosophen, Astronomen, Astrologen, Psychologen, Theologen und Magier waren. (Nach Auskunft des Matthäusevangeliums kamen solche Magier nach der Geburt Jesu nach Jerusalem, um dem neugeborenen Heiland zu huldigen!)
In die Schule der Magi war auch Pythagoras eingeweiht, der große Universalgelehrte, Mathematiker und spirituelle Meister aus Samos (ca. 569 – 496 v. Chr.). Er war als junger Mann Priester geworden und hatte lange Jahre in den großen religiösen Zentren seiner Zeit, insbesondere in Ägypten und Babylonien, zugebracht. Am Ende seines langen Lebens gründete er in Süditalien eine Weisheitsschule, die in eine „exoterische“ und eine „esoterische“ Abteilung gegliedert war. In der exoterischen Schule wurde Lebensweisheit für jedermann gelehrt; in der esoterischen Abteilung wurden die Adepten in die geheimen Zusammenhänge des Kosmos eingeweiht, über die sie strengstes Stillschweigen bewahren mussten. Eine entscheidende Rolle im Weltbild des Pythagoras spielten – wie in der späteren jüdischen Kabbala – die Zahlen von eins bis neun, während die Zahl zehn den Kosmos als Ganzen bezeichnete. Diese Zahlen hatten für Pythagoras sowohl eine quantitative Bedeutung als auch einen qualitativen, symbolischen Sinn, der in der Antike weithin Common Sense war, von uns aber mühsam entschlüsselt werden muss.
Nun klafft in der Legende eine Zeitspanne von 1000 Jahren. Es handelt sich immerhin um jene geschichtlich bedeutenden 1000 Jahre, in denen das Römische Reich aufstieg und unterging und in denen das Christentum entstand, zunächst verfolgt wurde und sich schließlich als Staatsreligion etablierte.
Nach dem Entstehen des Islam (etwa 1000 Jahre nach Pythagoras) – so die bisherige Legende weiter – sei das alte Geheimwissen insbesondere durch eine Sufischule aufbewahrt, entwickelt und tradiert worden. Der „Sufismus“ bezeichnet die große mystisch-asketische Bewegung innerhalb des Islam. Die Sufimeister hätten das Enneagramm nie als Ganzes weitergegeben, sondern einer/einem Ratsuchenden jeweils nur diejenigen Teile offenbart, die für die spirituelle Entwicklung dieses Menschen nützlich gewesen seien. In der gesamten sufistischen Literatur findet sich allerdings nicht der leiseste Hinweis auf das Enneagramm. Das wurde von den Anhängern dieser Legende in der Regel damit begründet, dass es sich um Geheimwissen gehandelt habe, das ausschließlich mündlich weitergegeben werden durfte.
1995 stieß ich (Andreas Ebert) auf einen Text des altchristlichen Wüstenvaters Evagrius Pontikus, der mich verblüffte. Auch wenn ich nicht alles verstand, hatte ich sofort das Gefühl, dieser Text müsste etwas mit dem Enneagramm zu tun haben. Handelte es sich womöglich um die erste und einzige alte schriftliche Quelle, die auf die Entstehung des Enneagrammsymbols hindeutete? Im Januar 1996 veröffentlichte ich meine Entdeckung in Heft 11 des „Enneagram Monthly“, einer internationalen Enneagrammzeitschrift („Are the Origins of the Enneagram Christian after all?“). Im April und Mai 1996 folgte in derselben Zeitschrift ein großer Aufsatz von Lynn Quirolo („Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram“), die unabhängig von mir zur selben Zeit dieselbe Entdeckung gemacht hatte. Lynn Quirolo ist eine Absolventin von J.G. Bennetts „International Academy for Continuous Education“ in Sherborne (England). Ihrem Artikel habe ich eine Reihe von zusätzlichen Erkenntnissen zu verdanken, insbesondere die Entschlüsselung der pythagoräischen Zahlensymbolik (siehe unten). Der Text, der uns synchron zugefallen war, enthält allem Anschein nach wesentlich klarere Hinweise auf die Ursprünge