könnten. »Als vollkommen zuverlässig« galten den Polizeibehörden alle selbstständigen Personen, »welche innerhalb des Bahn-Rayons ihren ordentlichen festen Wohnsitz haben«. Keine die Reise erleichternden Passkarten erhielten hingegen »Gewerbegehilfen, Handwerksgesellen u. dergl.« sowie »Dienstboten oder Arbeitssuchende«. Sie alle mussten für eine Reise weiterhin einen Pass beantragen. Immerhin sah der Vertrag vor: »Kinder und Ehefrauen, welche mit ihren Eltern und Ehegatten, und Dienstboten, welche mit ihren Herrschaften reisen, werden durch die Passkarten der Letzteren legitimirt.«51
Die Passkarten wurden wie auch die üblichen Reisepässe von den Polizeibehörden ausgestellt. Kostenlos waren sie nicht. Da die grundlegende und willkürliche Einschränkung für einen Passkarten-Antragsteller, er müsse »vollkommen sicher und zuverlässig« sein, in der Wirtschaft und auch bei den Eisenbahngesellschaften auf wachsende Ablehnung stieß, wurde die Visapflicht allmählich gelockert und 1862 vom preußischen Landtag vollends aufgehoben.
Weil die Fahrpläne, Beförderungsbedingungen und Tarife der verschiedenen Eisenbahngesellschaften von Land zu Land unterschiedlich gestaltet waren, mussten Fernreisende nach dem Überqueren einer Staats- bzw. Eisenbahngesellschaftsgrenze mit Schwierigkeiten rechnen – nicht selten sogar umsteigen und neue Fahrkarten lösen. Ab dem Ende der 1840er Jahre änderten sich diese beschwerlichen, auch durch den knallharten Wettbewerb der Bahngesellschaften bedingten Zeiten des Durchgangsverkehrs allmählich. Um die wichtigen Verbindungen zwischen Berlin, Leipzig und Köln als reibungslosen Durchgangsverkehr auf die Reihe zu bekommen, schlossen sich 1848 erstmals sechs Eisenbahnverwaltungen zusammen. Im Übrigen ließen die frühen Lobbyisten von Handel und Industrie keinen Zweifel daran, dass die Zeiten für einen restriktionsfreien Personen- und Güterverkehr und die Aufhebung unnötiger Gewerbebeschränkungen ein für alle Mal gekommen waren.
Wie gut der Ausbau der Strecken vorankam und das »beschleunigte« Reisen erleichterte, wurde die Presse nie müde zu erwähnen. Ende 1847 wurde zum Beispiel berichtet: »Paris ist jetzt von Leipzig aus in zwei Tagen 13 ½ Stunden erreichbar, wobei man noch dazu zwei Nachtlager macht, in Magdeburg und Köln, und an beiden Orten zusammen 16 ½ Stunden verweilt. Man reist von Leipzig z. B. Sonntags um 5 Uhr Abends ab, übernachtet in Magdeburg, fährt von da Montags früh 3 ½ Uhr ab, kommt in Köln (Deuß) Abends 9 ½ Uhr an, reist von da am anderen Morgen, also Dienstags, früh 6 ½ Uhr ab, erreicht Brüssel Nachmittags gegen 4 ½ Uhr, verläßt es wieder nach zweistündigem Aufenthalt Abends 6 ½ Uhr und ist am anderen Morgen, also Mittwochs früh 6 ½ Uhr in Paris. Von Berlin aus dauert die Reise, da man dort Abends 10 Uhr abreist, ungeachtet der um einige Meilen längeren Entfernung, sogar fünf Stunden weniger.«52
Wenn die Beschwerden längst verblichener Fahrgäste nicht unnötig übertreiben, dann war das Fahren mit einer der deutschen Eisenbahnen im 19. Jahrhundert zuweilen kein Vergnügen. 1869 lautete eine ziemliche Breitseite gegen die Bahn so: »Nichts ist begründeter als der Vorwurf gegen die Deutschen, daß sie als Reisende die Eisenbahneinrichtungen hinnehmen, wie sie solche finden, höchstens in der Tasche eine Faust machen oder ihre Reisegefährten mit allerhand wahren oder eingebildeten Klagen behelligen, statt dieselben gehörigen Ortes anzubringen. Bevor wir Beschwerde führen, können wir nicht hoffen den Grund derselben abgestellt zu sehen. Die Barbarei, daß im Winter die Wagen nicht erwärmt werden; der Mangel jedes Zufluchtsorts für leibliche Bedürfnisse, dergleichen die Natur des nicht willkürlich zu unterbrechenden Eisenbahnfahrdienstes doch gebieterisch erheischt; die Unmöglichkeit für die Reisenden, den Schaffner herbeizurufen, auch wenn die dringendste Noth oder Gefahr dazu zwingt; der unerträgliche Staub im Sommer, der Zug im Herbst und Frühling, die Kälte im Winter, denen allen ohne Ausnahme voraussichtlich Grenzen zu ziehen wären, wenn sich der Witz der Techniker, von einem sich als Herr fühlenden Publikum gespornt, ein wenig darauf verlegen wollte – alle diese großen und kleinen Uebelstände müßten so lange, sei es direkt und privatim in Vorstellungen bei den Bahnverwaltungen, sei es öffentlich in der Presse, eigenen Versammlungen, Vereinen oder im Schooße der verschieden abgestuften Volksvertretungen zur Sprache gebracht werden, so lange man sie nicht völlig abstellt.«53
Nicht zuletzt die ungebrochene Vielfalt der Tarife erregte die Gemüter stets aufs Neue. Nachdem 1877 endlich die Ständige Tarifkommission der Deutschen Eisenbahn-Verwaltungen ins Leben gerufen war, dauerte es im Bereich des Personenverkehrs immerhin noch dreißig Jahre, bevor 1907 die lang geforderte Einheitlichkeit der Eisenbahntarife im Deutschen Reich zustande kam.
5. Alles Aussteigen
Einen bemerkenswert glaubwürdigen und empfindsampräzisen Einblick in die Welt der Eisenbahnreisenden zwischen den 1840er und 1870er Jahren vermittelt der Journalist und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer in seinen Berichten, Erzählungen und Romanen.54 In der Erzählung Reiselust rückt der auf Basis des eigenen Erlebens schreibende Autor mit dem fiktiven Oberrevisor (bzw. Chefcontroller) Schmauder einen Zeitzeugen in die Mitte des Geschehens, »dem wir folgen wollen […] denn vom Bahnhof her vernehmen wir schon zuweilen das gellende Pfeifen einer Lokomotive; wir brauchen uns deshalb aber nicht zu beeilen, denn wir sind sicher, daß der Zug erst um fünf Uhr abgeht und unsere Taschenuhr haben wir gestern auf’s Sorgfältigste gerichtet: das Gepfeife dort bedeutet die Zusammenstellung der Züge – wir kennen das und haben es oft genug erlebt: zwei Wagenlängen – eine Wagenlänge – eine halbe – einen Fuß, dann ein gelinder Anprall.«
Friedrich Wilhelm Hackländer schildert in seiner humoristischen Erzählung aus dem Jahre 1866 gleichsam exemplarisch eine Reise im Gemeinschaftsabteil der dritten Klasse. Die anschauliche Beschreibung einer sonntäglichen Fahrt mit der Eisenbahn widmet sich den Mitreisenden und ihren Geräuschen und Gesprächen untereinander sowie dem Bahnhofsleben und den strengen Eisenbahnbeamten. Es folgt eine Kostprobe aus der von mir stark eingekürzten Reiselust. Und schon verlässt Schmauder, Oberrevisor bei der Königlichen Domänenverwaltung, sein Haus und findet sich flugs im Bahnhof wieder …
»Da sind wir endlich gegenüber der Eisenbahnkasse, doch wird es noch eine Zeitlang dauern, ehe wir glücklich unser Billett gelöst haben. Eine gewaltige Menschenmenge hat sich davor zusammengedrängt: der aufgestellte Portier hat genug zu erinnern, daß man von rechts an den Schalter tritt, um nach links wieder zu verschwinden; auch ermahnt er, nicht vorwärts zu drängen, was aber ziemlich fruchtlos bleibt; denn so oft drinnen ein Glockenton erschallt, oder irgend eine Lokomotive pfeift, so preßt sich der Menschenknäuel wieder um so fester zusammen, da Jeder die Befürchtung hat, zu spät zu kommen. Herr Schmauder hat sich, bewaffnet mit dem Grundsatze, daß es ohne Mühe kein Vergnügen gibt, muthig in diesen Strudel gestürzt und steht nun da, eingekeilt zwischen einem wohlbeleibten Herrn, der noch obendrein sehr unnöthiger Weise immer etwas in seinen hintern Rocktaschen zu suchen hat, und einer umfangreichen Dame, welche ihre beiden Fäuste, mit Sonnenschirm und einem kleinen Nachtsacke bewaffnet, vor sich hält und auf diese Art in unangenehme Berührung kommt mit dem Rücken des Oberrevisors. So geht es langsam Zoll um Zoll vorwärts, und es würde viel rascher gegangen sein, wenn nur alle Leute so diskret wären, sich mit kleinem Gelde zu versehen, oder wenn sie nicht bei dem geplagten Eisenbahncassier Erkundigungen über die Länge irgend einer Fahrzeit oder anderer Dinge einziehen wollten. […]
Endlich verlangte Herr Schmauder seine Karte und händigte dafür dem Kassier mit einer rührenden Genauigkeit das abgezählte Geld in gangbarer Landesmünze ein, wofür ihn der betreffende Eisenbahnbeamte mit einem gnädigen Kopfnicken entließ. Es war doch schon etwas spät geworden und Diejenigen, welche jetzt noch mit dem Zuge fort wollten, mußten sich zu einem kleinen Dauerlaufe bequemen. […] Da saß unser Reisender endlich, tief und glücklich aufathmend und hatte einen außerordentlich schönen Platz rückwärts am Fenster, Schattenseite. – Auch war es nicht übermäßig voll, hie und da noch ein Platz frei, und lange zu warten brauchte man auch nicht: die Glocke gab ihre üblichen Zeichen, die Lokomotive pustete asthmatisch und dann ging’s aus dem dunkeln Bahnhof in den freien Sonnenschein hinaus. […]
Leider fliegen die glücklichsten Augenblicke am raschesten vorüber – kaum gedacht, war der Lust ein End’ gemacht: da pfiff schon die Lokomotive, da verminderte der Zug seine Schnelligkeit und hielt auf dem Bahnhofe einer ehemaligen Reichsstadt […]. Leute gab es genug auf dem Trottoir, doch