Strecke, weil sie vom Gesetzgeber durch den »Red-Flag-Act« ausgebremst wurden.36 Wobei die mit tierischer Zugkraft operierende Personenpost, die einen hohen Stand der Organisation und Flächenabdeckung erreicht hatte, für die frühen Eisenbahner durchaus von Nutzen war. Sie griffen bei der Gestaltung der Betriebsabläufe und der Tarife nur zu gern auf die Erfahrungen der Post mit ihren Eil- und Schnellposten zurück.
Die Eisenbahn erschloss – im Zusammenspiel mit der Dampfschifffahrt – den Raum und damit die Weltmärkte, was wiederum eine Produktivkraftsteigerung befeuerte. Sie verband Städte und Industrieregionen und bahnte dem Tourismus den Weg in entlegene Bergwelten und Küstenstriche. Sie schuf neue Städtehierarchien, Bahnknotenpunkte und Industriezentren in Agglomerationen, die zuvor geografisch eher ungünstig gelegen hatten. Sie stützte das Fabriksystem und erzwang nicht zuletzt die Vereinheitlichung der Zeit: in England seit den 1840er Jahren, im deutschen Kaiserreich mit einiger Verspätung ab 1893 – ich komme darauf zurück.
Eine wirkungsvolle technische Ergänzung des bahnmaschinellen Ensembles gewährleistete der elektrische Telegraf. Er ermöglichte die signalgesteuerte Aufteilung der Strecken in sicherheitsförderliche Blockabschnitte. Die Telegrafie beflügelte nicht zuletzt die Unternehmer Siemens & Halske; sie gründeten 1847 in Berlin eine »Telegraphenbauanstalt«, die zu einem führenden Elektrokonzern gedieh.
Die neue Transporttechnologie und -organisation revolutionierte im Laufe des 19. Jahrhunderts den Verkehrssektor wie die Mobilität. Und zwar nicht nur auf der Schiene. Auf den Flüssen und Meeren sorgten Dampfboote und -schiffe für verkürzte Fahrtzeiten, höhere Transportleistungen und sinkende Preise (übrigens auch für die durch das Bevölkerungswachstum zur massenhaften Auswanderung gezwungenen Europäer). Die Dampfkraft multiplizierte die Transportgeschwindigkeit zu Wasser und zu Lande bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts um gut das Zehnfache. Die modernen Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts, so zeigte sich, fuhren immer schneller, immer weiter, immer öfter und regelmäßiger und tendenziell immer sicherer.
Bemerkenswerterweise avancierte das 19. Jahrhundert nicht nur zum goldenen Zeitalter der Eisenbahn, sondern auch zu dem der Pferdewirtschaft.37 Allein von 1845 bis 1900 verdoppelte sich der deutsche Pferdebestand, stieg der Gebrauch und Verbrauch von Pferden in der Landwirtschaft ebenso wie im Straßenverkehr nachhaltig an, wo sie Omnibusse, Droschken und Kutschen aller Art zogen. Mit jeder neuen Bahnlinie und mit jedem neu erbauten Bahnhof wuchs schließlich der Bedarf an lokalen Zubringer- und Verteildiensten. Pferde blieben auch auf all den von Eil- und Schnellposten bedienten Landverbindungen unersetzlich, die von der Eisenbahn noch nicht abgedeckt wurden.
Die im Zuge der industriellen Revolution ins Rollen gebrachte Eisenbahn revolutionierte das gesamte ökonomische Geschehen. Sie forcierte nachhaltig die produktivitätssteigernde Arbeitsteilung und Spezialisierung der Betriebe. Die auf eine Beschäftigung in der Industrie hoffenden Lohnarbeitskräfte zog es wie magisch in oder in die Nähe der neuen Industriezentren, wo sie massenhaft nach Unterkunft suchten. Die dadurch zu einem rasanten und für die Bauwirtschaft höchst profitablen Wachstum verurteilten Städte sprengten gleichsam ihre traditionellen Grenzen und machten das Umland zum Einzugsbereich. Eine Stadt nach der anderen verlor ihre fußgängerfreundliche mittelalterliche Prägung. Berlin etwa wuchs zwischen 1800 und 1900 von 172 000 auf 1,9 Millionen Einwohner an. Im Zuge der von Zügen beschleunigten Industrialisierung entstanden rasterförmig angelegte Mietskasernen und spezielle Eisenbahnerviertel, Slums, Geschäftsstraßen, Büroviertel. So kam es zur Auftrennung in proletarische und bürgerliche Stadtteile.
Die Eisenbahn hob das herkömmlich übliche Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort oder in einem engen Umkreis auf und schuf den Ein- und Auspendler, der täglich oder wöchentlich für den Weg zur Arbeit seine Wohngemeinde verlassen muss. Die Transformation der Städte und Ballungszentren in Spielflächen des Massennahverkehrs ging einher mit dem Ausbau der Droschkendienste, der Straßenbahn- und Omnibusnetze sowie schließlich der Hoch- und Untergrundbahnen – Berlin entschied sich bereits 1874 für den Bau einer Hochbahn; 1902 wurde dort die erste deutsche U-Bahnlinie eröffnet. Was Wunder. Ende des 19. Jahrhunderts war der Stadtdurchmesser der Metropole bereits auf über fünfzehn Kilometer gesprungen. »Gleichzeitig nahm die Zahl der täglichen Einpendler stark zu«, verdeutlicht Hans Jürgen Teuteberg anhand der Pendlerstatistik, die für eine Reihe deutscher Städte zu dieser Zeit gut belegt ist: »1900 legten in Berlin täglich 29,8 Prozent 6–7 km, 19,7 Prozent 4–5 km, 16,7 Prozent 3–4 km und 14,5 Prozent mehr als 8 km täglich zurück. […] Die Zahlen zeigen, dass Berlin sich in drei Jahrzehnten aus einer ›Fußgängerstadt‹ in eine ›Fahrstadt‹ verwandelte. Bis 1891 kostete die billigste Fahrkarte 3. Klasse von Berlin-Mitte (Friedrichstraße) zum Vorort Steglitz auf der Stadteisenbahn noch 30 Pfg., eine Rückfahrkarte 50 Pfg. […], was für den einfachen Haushalt als regelmäßige Ausgabe nicht in Frage kam. Zudem fuhren die Züge im Abstand von 1 ½ Stunden ohne weitere Anschlussverbindungen. Erst die Einführung der verbilligten Vororttarife 1891 machte es wenigstens bürgerlichen Mittelschichtfamilien möglich, den ständig steigenden Mietpreisen im Citybereich den Rücken zu kehren und sich weiter draußen anzusiedeln.«38 Ermäßigte Vororttarife trieben ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in vielen Großstädten das Wachstum und auf den Eisenbahnen das Fahrgastaufkommen an.
Die Eisenbahn machte im Verbund mit den Nahverkehrsmitteln die Menschen nachhaltig mobil – nicht zufällig war das Wachstum des Personentransports im Verlauf des 19. Jahrhunderts quantitativ höher als das des Gütertransports.39 Sie erzwang im Gleichklang mit der Industrialisierung eine Neustrukturierung des Alltagslebens und erzeugte eine neuartige Wahrnehmung und zugleich psychische Neujustierung. Für die herkömmlich den Zeitverbrauch (eines Fußmarsches oder Tagesrittes) messenden Menschen veränderte die Eisenbahn das Zeitgefühl, weil sie plötzlich die Geschwindigkeit zum entscheidenden Kriterium machte; sie vernichtete den Raum, weil sie einst riesig erscheinende Entfernungen in Abfahrts- und Zielorte zusammenzog, indem sie sich als maschinelles Ensemble zwischen den Reisenden und die Landschaft schob und damit kein bewusstes Durchstreifen des Raums mehr erlaubte, ihn nur mehr vorbeiziehen ließ.40
Und noch etwas löste die Eisenbahn aus: eine vielschichtige Erwartungshaltung der Reisenden, der sie bis heute keinesfalls immer gerecht wird.
4. Gute alte Zeit?
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Geschwindigkeit des Menschen im Rahmen dessen, was bereits Julius Cäsar erleben konnte. Viel mehr als 150 Tageskilometer waren mit der tierisch gestützten Mobilität auf dem Landweg nicht zu bewältigen. Als die Eisenbahnen ab den 1840er Jahren zunehmend den Fernverkehr aufnahmen, bot sich den bis dahin auf Postkutschen angewiesenen Reisenden eine Alternative, die mit einer deutlich höheren Zuverlässigkeit und auch immer mehr Geschwindigkeit unterwegs war. Zu jener Zeit existierte ein europaweites Netz von regelmäßig mit Postreitern, Eil- und Kurswagen befahrenen Routen, von unzähligen Poststationen und Herbergen wie die legendären »Gasthöfe zur Post«. Die nach englischem Vorbild und mit festem Fahrplan eingerichteten Eil- bzw. Schnellposten hatten die Reisezeiten durch Pferdewechsel ohne Aufenthalt und dank Nachtfahrten immerhin deutlich verkürzt. Zudem trieben die meisten deutschen Staaten den Neu- und Ausbau gepflasterter Straßen bzw. Chausseen nach französischem Vorbild voran, und die neuartige stählerne Blattfederung ermöglichte den Bau von bequemeren Kutschen.
Fahrten mit der Postkutsche wurden von vielen Reisenden als Strapaze empfunden, weil sie Schmutz und Staub ausgesetzt waren, beengt im geschlossenen Wagen sitzen und zuweilen eine unliebsame Reisegesellschaft ertragen mussten. Gestürzte Pferde, gebrochene Räder und feststeckende Wagen gehörten zum Reisealltag. Zudem hatten sich die Passagiere den systembedingten Anforderungen des Postverkehrs zu unterwerfen, dessen Personal sich zuweilen ziemlich rüpelhaft an den als bürgerlich bezeichneten Tugenden Zuverlässigkeit, Ordnung, Disziplin und – zumindest prinzipiell – Pünktlichkeit orientierte. Der Schriftsteller, Hofmaler und Kammerherr Wilhelm von Kügelgen verdeutlichte in seinen posthum veröffentlichten Jugenderinnerungen eines alten Mannes, was ihm beim Reisen in dem von der Romantik geprägten, bahnlosen frühen 19. Jahrhundert widerfuhr: »Zwischen Leipzig und Dresden gingen damals zwei Personenposten, die sogenannte gelbe und grüne Kutsche. Die erste dieser Gelegenheiten stieß dermaßen, daß Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden,