Eisenbahn in Deutschland bestehen, rücke ich im letzten Drittel dieses Buches ins Blickfeld.
Wie ergeht es einer Gesellschaft, die die dramatisch ändernden Umweltbedingungen nicht zum Anlass für mindestens ebenso dramatische Änderungen am überbordenden und fossil geprägten Verkehrswesen nimmt? Was passiert, wenn die deutschen Eisenbahnen den Anschluss im politisch verordneten und zugleich neoliberal verzerrten »Wettbewerb« mit Pkws, Bussen und Flugzeugen verlieren? Und was passiert, wenn der Staatskonzern Deutsche Bahn AG den Anschluss an das gerade in Fahrt kommende postfossile und digitalisierte Mobilitätssystem verpasst?
Was passiert, wenn die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung einer Staatsbahn schiefläuft, lässt sich jenseits des Ärmelkanals studieren. Die Mehrheit der Briten gibt seit 2016 bei Umfragen an, sie wünsche die Wiederverstaatlichung der diversen Eisenbahnverkehrsunternehmen, deren Service, Fahrplan- und Preisgestaltung unzumutbar seien. Bezeichnenderweise berichtete die britische Boulevardpresse im Sommer 2017 über ein Preisgefälle zwischen Schienen- und Luftverkehr, das in vielerlei Hinsicht gewaltig zu denken gibt. Die Geschichte geht so:
Als die in Newcastle lebende Lucy Walker und ihre in Birmingham lebende Freundin Zara Quli beschlossen, mal wieder ein Wochenende miteinander zu verbringen, offerierte Lucy, mit dem Zug nach Birmingham zu kommen. Als die 27-jährige Lehrkraft herausfand, dass das Bahn-Rückfahrticket für die 320 Kilometer lange Strecke 105 Pfund Sterling kosten würde, war sie »schockiert« und begann eine Internetrecherche. Diese endete mit dem Ergebnis, dass eine Hin- und Rückflugkarte nach Málaga für weniger als zwanzig Pfund zu haben war. Für Zara sollte der Hin- und Rückflug von Birmingham aus rund 55 Pfund kosten. Und da an der Costa del Sol eine Nacht im Hostel für nur zehn Pfund zu haben war, verlegten die beiden Freundinnen ihr Treffen für ein langes Wochenende nach Südspanien – was statt auf insgesamt 640 Zugkilometer auf insgesamt 7840 Flugkilometer hinauslief, jedoch immer noch billiger als die Bahnfahrt war.11
Und was lehrt dieses Exempel? Nun, solange ein umwelt- und klimaschädlicher Flug über große Distanzen deutlich preiswerter als eine zwölfmal kürzere und das Klima kaum in Mitleidenschaft ziehende Eisenbahnfahrt ist, liegt offenbar ein gesellschaftlich willentlich in Kauf genommenes Politik- und Marktversagen vor. Und zwar gewiss nicht nur in Großbritannien.
2. Ihre nächste Reisemöglichkeit
Das Faltblatt Reiseplan gab es 1907 noch nicht, als ein gewisser Hans Castorp in seiner Heimatstadt Hamburg den Zug bestieg, um für drei Wochen seinen Cousin in einem Davoser Sanatorium zu besuchen. Der 23-Jährige hatte gerade sein Examen bestanden und bei einer Schiffswerft eine Stelle in Aussicht. Castorp ist der Held in dem bewegenden Roman Zauberberg von Thomas Mann. Von Verspätungen ist in der Beschreibung seiner Reise von Norddeutschland in das Schweizer Hochland keine Rede, von erreichten Anschlusszügen aber schon:
»Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise […]. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres [Bodensee] und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten. Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht zu enden wollen scheint.«12
Als Thomas Mann 1913 mit der Arbeit am Zauberberg begann, war das deutsche Kaiserreich ein Eisenbahnparadies, vernetzten die Hauptbahnen Städte und Regionen miteinander, verbanden verästelte Neben- und Kleinbahnen selbst abgelegene Dörfer sowie touristische Zentren mit den Hauptlinien und gab es so viele Bahnknotenpunkte wie in keinem anderen europäischen Land. Die von Thomas Mann beschriebene lange Bahnfahrt würde dieser Tage aufgrund der auf den Hauptstrecken mit viel höherer Geschwindigkeit fahrenden ICEs im Idealfall zwar weniger Zeit als 1907 kosten, aber eine ähnliche Reiseerfahrung bieten. Denn die mangelhafte Vertaktung des Schienennah-, Regional- und Fernverkehrs sowie das damit verbundene Herumstehen auf nicht selten wenig einladenden kleinen Bahnhöfen und Haltepunkten gehören schließlich nach wie vor zum Alltag vieler Fahrgäste. Eine Nebenwirkung, die für Thomas Mann bzw. seinen Protagonisten auf der Eisenbahn quasi noch naturgegeben war, hat sich allerdings in Luft aufgelöst, nämlich die Verunreinigung der Reiselektüre durch den »hereinstreichende[n] Atem der schwer keuchenden Lokomotive […] mit Kohlenpartikeln«13.
Während Thomas Mann am Zauberberg schrieb, machten in Deutschland gut 33 000 Lokomotiven Dampf. Ihr Aussterben begann Anfang der 1970er Jahre, und ein Slogan der Bundesbahn verkündete: Unsere Lokomotiven haben sich das Rauchen abgewöhnt. Das Dampfzeitalter endete in Westdeutschland im Oktober 1977, als die letzten ölbefeuerten Dampflokomotiven auf der Emslandstrecke durch Dieselloks ersetzt wurden. In Ostdeutschland wurde der letzte planmäßige Dampfbetrieb auf vollspurigen Gleisen im Oktober 1988 auf dem Umlauf Halberstadt–Magdeburg–Thale–Halberstadt offiziell eingestellt. Bücher können heute in den Fern-, Regional- und Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn und anderer Eisenbahnverkehrsunternehmen getrost gelesen oder zur Seite gelegt werden, ohne die Verschmutzung durch Kohlepartikel fürchten zu müssen. Eher schon durch überschwappende Getränke oder Sandwichmayonnaise. Bei der jederzeit möglichen Durchsage: »Nächster Halt … ach, Sie sehen es selbst, wir stehen schon«, schaufelt der außerplanmäßige Stillstand zumal mehr Zeit für die Zuglektüre frei.
Gelesen wird in der Eisenbahn, um Monotonie und Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen und um sozusagen hinter einer Zeitung das kleine Sitzterritorium für die private Autonomie zu retten. Inzwischen bieten digitale »Begleiter« erheblich erweiterte Möglichkeiten. Dass das Lesen im Waggon anders als in einer rumpligen Postkutsche kein Problem sein würde, hatte bereits 1833 ein Zeitgenosse mit Verweis auf die englischen »Dampfwagen« verdeutlicht. Ihre Bewegung sei »so leicht, sanft und bequem«, betonte er, »daß man nicht nur vollkommen dabei lesen, sondern sogar schreiben kann«.14 Nun erzwangen schon die Verhältnisse in den lange üblichen Abteilwagen mit ihrer der Postkutsche nachempfundenen Sitzanordnung ein Visavis-Verhältnis, das vielen Fahrgästen unangenehm erschien und so manchen unerträglich war. Der Griff zur »abschirmenden« Lektüre lag da mehr als nahe, zumal mit der rasch wachsenden Gewöhnung an das neue Verkehrsmittel und dessen größer werdender Geschwindigkeit der Blick aus dem Abteil- bzw. Coupé-Fenster an Reiz einbüßte. Da die bei schwachem oder dämmrigem Tageslicht in den Personenwagenabteilen zu jener Zeit entzündeten Öllampen nur einen kläglichen Lichtschein abgaben, mussten Leseratten freilich mit Augenschmerzen rechnen. Erst nach der Einführung der ersten Durchgangsabteilwagen Ende des 19. Jahrhunderts, die die gänzliche Isolation im Coupé aufhoben, und nicht zuletzt der Gasbeleuchtung, die das Lesen sehr erleichterte, kannte bei den bürgerlichen Passagieren der Wunsch nach Lektüre schließlich fast keine Grenzen mehr.
Fehlten nur noch die das Lesebedürfnis spezifisch bedienenden »Reise- und Eisenbahnbibliotheken« von Verlagen wie Reclam und natürlich die Händler für Zeitschriften und »Reiseliterarien«. Sie bereicherten hierzulande peu à peu ab 1847 das Bahnhofsleben in Nürnberg, Würzburg, München, Stettin und andernorts – übrigens durchaus später als etwa in England, wo sie ab Beginn der 1840er Jahre üblich geworden waren. 1854 ließ der ungemein produktive Berufsschriftsteller Karl Gutzkow in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd denn auch wissen: »Es ist auffallend, dass sich unsere deutschen Buchhändler, die doch sonst so unternehmerisch sind, noch nicht auf die Eisenbahnen gewagt haben. Sollten sie von dem strengen officiellen Tone, der auf unseren Bahnen herrscht, zurückgeschreckt worden sein? Ein Buchladen auf Stationen, wo sich, wie z. B. in Halle, zwei Linien kreuzen, müsste gute Geschäfte machen; denn mit dem Bücherkaufen geht es in Deutschland doch wie mit dem Einkaufen in Versicherungsanstalten. Man denkt immer und immer daran, will und will und plötzlich hat uns die Gefahr getroffen, wenn