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Tote wie Sand am Meer


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Noch eine Stunde bis zur Schließung blieb ihm, um seiner Jenny das Genick zu brechen.

      Heimvorteil hatte er ja, ließ er doch seit Jahren in der Therme seine Herrenwochenenden ausklingen. „Gehen wir ins Außenbecken!”, bestimmte er jetzt, und seine Stimme klang klarer als sonst. Jenny folgte ihm durch die Gummiklappen, die den Innenbereich vom Außenbecken trennten, hinaus an die Luft. Menschenleer. Er liebte den Kontrast: Unten umspülte das Wasser sonderbar warm seine Brust und oben blies der eisige Wind alle Bedenken aus dem Kopf. Der Dampf, der in Kapriolen über der Sole tanzte, schien weit nach oben bis zu Gott aufzusteigen. Gott würde zusehen, wie Jenny zu ihm in den Himmel aufbrach, und Gott würde nicken, denn er liebte alle Dummen, oder nicht?

      Lächelnd drückte sie ihren Rücken gegen eine sprudelnde Massagedüse und quiekte, drehte sich um, klammerte sich an den Beckenrand und ließ den Strahl, der aus der Düse schoss, in ihren Ausschnitt sprudeln. Gönn dir das, Jenny, gönn dir das, dachte er. Er hatte ausgeharrt, immer gehofft, sie finge sich, suchte sich einen Kurs, Typberatung vielleicht, wo sie hätte lernen können, wie man spricht, und das nicht nur über die Grimaldis. Oder Englisch, das wäre gegangen. Aber sie suchte nur das, was sie selbst inzwischen, nach einigen Jahren des Überganges, war: Nichts.

      „Auf zum Springbrunnen“, sagte er, zur Mitte der Anlage deutend, wo der wuchtige Steinkoloss emporragte. Ein Ungetüm, von dem die Wassermassen nur so herunterschossen und einem auf den Nacken brachen, als würde man von allen Seiten verprügelt. Wasser, Wasser, ringsum Wasser, wie in einer Waschanlage, es würde rauschen, donnern, um sich schlagen, es würde Jenny umschließen, und er bräuchte nur ihren Hals zu packen und umzuknicken, zack, das wäre schon alles und niemand sähe die kleine Bewegung. Sie stellte sich immer dämlich an, immer, es konnte sein, dass sie sich in den Fluten ungeschickt bewegte und ihr Hals dem nicht standhielt, schließlich war ihr Unfall erst eine Woche her – man fasse das einmal, ein Unfall mit dem Rad! Wegen einer Taube! – und warum sollte der Orthopäde nicht einen angeknacksten Halswirbel übersehen haben. Wer hätte es denn beweisen wollen. Fingerabdrücke im Wasser? Zeugen an einem Freitagabend in Bad Saarow, kurz vor Schluss?

      Aber nein! … Sie ließ den Beckenrand los und steuerte die Gummiklappen an, offensichtlich, um hineinzugehen.

      „Jenny, ich möchte noch bleiben!“

      Über die Schulter hinweg rief sie herüber: „Lass uns etwas ausprobieren, man lebt nur einmal.“

      Grundgütiger, sie musste alles ruinieren, selbst seine letzten großen Pläne mit ihr. Er konnte sie schlecht zum Brunnen zerren, ohne aufzufallen, und schon schlüpfte sie durch die Klappen und er musste ihr folgen. Wie sie die Stufen für die alten Leute hinaufwatschelte, statt die Leiter zu nehmen, wie sie sich bückte, das Gesäß entblößt, um ihre Füße in die Adiletten zu quetschen, wie sie ungelenk über den nassen Boden schlurfte und an der Liege nach seinem Bademantel griff. Jenny, dachte er, ich kann nicht anders.

      Fünf Minuten später lagen sie in der Wohlfühl-Oase, einem winzigen fensterlosen Raum voller Sand, in der Mitte einige Scheinwerfer, die die Sonne simulierten. Sonnenaufgang, Tag, Sonnenuntergang. Absurd, aber Jenny freute sich auf den Untergang. Sie schwadronierte über die romantischen echten Hieroglyphen an der Rigipswand. Er zwang sich, an Politik zu denken. An die Partei, die ihn übergangen hatte. An die Liste, auf der er nicht stand. Da war Sophie. Sie schloss die Tür seines Büros. Sie drehte den Schlüssel herum. Sophie. Niemals hätte er sich auf dieses Mädchen eingelassen, wenn Jenny eine Frau gewesen wäre. Was er hier vorhatte, hatte nichts mit Sophie zu tun. Mit Sophie läge er in keiner stickigen Innenraum-Oase. Sophie, das war Strand, das war Ägypten, Sophie, das war ein Anwesen, ein Ambiente, Anlässe, Buffets und ihr Paps, der Senator.

      Klack! Das Wüstenlicht wich sehr europäischen sechzig Watt. Jenny rubbelte den Sand von ihren behaarten Beinen, nahm seinen Bademantel und sagte: „Folgen Sie mir unauffällig. Haha.“

      Sie schlenderten durch die Gänge zurück zum Saal wie friedliche Touristen und passierten problemlos das Drehkreuz. Die Oase hatte ihn zwanzig Euro extra gekostet, aber es war seine letzte Ausgabe für sie, wenn sie nicht noch auf die Idee kam, einen Cappuccino zu bestellen. Jetzt bitte nicht hoch ins Restaurant, es blieb nur eine Viertelstunde.

      „Also zum Springbrunnen”, sagte Jenny von ganz allein, breit lachend mit ihren gelben Zähnen.

      Sie nahmen wieder die Stufen und glitten ins Wasser. Jenny hängte ihren Leib huckepack an seine Schultern und er wusste, ohne sich umzudrehen, wie sie grinste. Er stapfte los, teilte das Wasser mit groben Händen und steuerte sein Ziel an, das Ziel seines Lebens. Schnell, solange der Springbrunnen eingeschaltet war.

      Er schob die Gummiklappen zur Seite. Kalter Wind.

      Er zog Jenny tiefer ins Außenbecken. Ganz leicht kitzelten winzige Tröpfchen Schneeregen seine Nase.

      Er bog um die Ecke.

      Er bog um die nächste Ecke. Nein!

      Hardy Schneider. Ausgerechnet ihr Nachbar. Hardwig Enno Schneider, der ständig die Nase hochzog, der, der es irgendwie bis zur Mordkommission geschafft hatte. Auf seinen Schultern wuchsen dichte Haarbüschel. „Hallöchen“, sagte Schneider.

      „Guten Abend. Meine Frau und ich haben es eilig, Sie verstehen, die letzten Minuten im Bad ausnutzen.“

      Schneider schwamm mit einem „Tschüssi“ Richtung Ausgang.

      Jenny in seinem Rücken sagte nichts. Er zog sie weiter zum Brunnen. Nur ein kleiner Ruck. Krrrk, Spätfolge des Radunfalles.

      Niemand sonst war im Becken zu sehen, Schneider verschwunden. Sie waren allein. Er bog um die letzte Ecke und machte einen letzten fordernden Schritt in die Nische. Die Fluten, die gewaltigen Mächte, riefen nach Jenny, wummerten, forderten, stampften wütend auf, und für einen Moment klopfte Gott ihm auf die Schulter, schubste ihn fast und grölte in das Getöse hinein: „Erlösung!“ Ja, ein Missgeschick, ein Unfall, so wie das Leben mit Jenny ein Unfall war, dachte er und packte ihr Handgelenk, zerrte an ihrem elenden Arm, wuchtete ihren schweren Körper … den schweren Körper?

      Hardy Schneider.

      Nicht Jenny. Nicht Jenny. Hardy Schneider.

      Verdammt.

      Schneider lachte. „Sollte Jenny jemals, verstehst du, jemals was passieren, finde ich dich. Und ich verspreche dir, bis zum Knast wirst du es nicht schaffen. Du Idiot hast leider nur eine einzige Fahrkarte für die Rückfahrt bestellt und Jenny ist ja nicht dumm. Geiz ist dumm“, sagte Hardy Schneider und schniefte.

      Am selben Abend zog Jenny zu ihrer Schwester.

      Drei Wochen später schloss er die Haustür auf in Schmargendorf, einer anständigen Gegend in diesem rohen Berlin. Das Licht schaltete sich automatisch ein. Und da lag sie, neben einem großen Koffer und ihrer Lieblingslampe. Jenny glotzte durch ihn hindurch, den Hals quer, die Zunge draußen. Vielleicht lebte sie noch.

      Er stellte seine Tasche ab, ging zwei Schritte, im Haus roch es nach Kohl. Das ungeschickte Ding. Sie lag auf den letzten Treppenstufen unten, ihr Rock war hochgerutscht und die Strumpfhosen hatten Löcher, genau drei Löcher. Sie musste an einem Nagel hängengeblieben sein, auf den Stufen. Doch wo war er, der Nagel? Das Licht erlosch ebenso automatisch mit einem Knacken. Er selbst konnte nichts mehr tun, weder automatisch noch gewollt. Er wollte kandidieren für den Senat, und er wollte Sophie, doch Sophie hatte jemanden kennengelernt, der Porsches verkaufte.

      Was wollte er jetzt?

      Im Schloss der Haustür klackte es, das Licht ging an. Ein Nachbar, glaubte er, bis er den Mann erkannte. „Nein, Herr Schneider, ich war das nicht, wirklich nicht.“

      Susanne Rüster

      KURSWECHSEL

      Der Wind wehte ungewöhnlich sanft über die Kieler Bucht. Marion Kaempf, Kriminalkommissarin außer Dienst, stand vor ihrer reetgedeckten Kate und bewunderte das Wachstum der Sonnenblumen und ihre Fähigkeit, die goldgelben Köpfe zum Sonnenlicht zu