mit Händen« ausbilden. Und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Dieses enorme Interesse hat viele Gründe, wovon hier nur die wichtigsten genannt werden sollen1:
– Das theoretische Gerüst basiert fast ausschließlich auf den soliden Pfeilern funktioneller Anatomie und Physiologie. Die alte medizinische Weisheit, dass Struktur und Funktion sich wechselseitig beeinflussen, wird hier – anders als in den medizinischen Universitäten – praxisrelevant und von Anfang an interdisziplinär gelehrt und von Mensch zu Mensch im direkten Kontakt durch Berührung ausgeübt.
– Aufgrund der funktionellen Ausbildung steht nie nur eine Struktur, ein Organ oder ein Körpersystem im Mittelpunkt des Interesses, sondern stets der gesamte Mensch. Die unübersehbaren Defizite der Schulmedizin in diesem Bereich, insbesondere in Bezug auf chronische und psychosomatische Beschwerden, bereiten alternativen Methoden, wie etwa der Osteopathie, zu Recht den Boden.
– Osteopathie spannt den Bogen über fast 2500 Jahre hin zum hippokratischen Idealarzt, der zugleich Körperarzt, Philosoph und Seelsorger war. Dadurch werden Osteopathinnen und Osteopathen auch in dem Bewusstsein ausgebildet, dass es keine vergleichbaren »Pathologien« gibt, sondern jede Beschwerde eines jeden Menschen zu jedem Zeitpunkt vollkommen individuell ist. So spielen Normen und Ideale bei der Therapie keine Rolle, was die Patienten enorm entlastet, da sie ja nicht »versagen« können.
– Der Mensch wird als Teil einer übergeordneten, vollkommenen und wohlwollenden Schöpfung so respektiert, wie er ist. Sämtliche »Läsionen« oder »somatischen Dysfunktionen« werden in der Osteopathie daher nicht korrigiert
– schließlich ist der Mensch ja schon vollkommen – sondern so angepasst, dass alle Teile wieder in Harmonie mit dem Ganzen stehen.
– In der Osteopathie wird der Natur bis ans Ende vertraut, d. h. den Patienten wird kein theoretisches Konzept übergestülpt, sondern der Körper selbst gibt vor, was zu tun ist und wie das immer vorhandene Potenzial der Selbstorganisation oder Selbstheilung optimal wirksam gemacht werden kann. Hierbei spielt die Palpation (Ertasten) eine überragende Rolle.
– Der Mensch wird ausführlich und wirklich mit vollem Interesse berührt. Da nicht wenige Organmediziner mehr an ihrer Medizin als am Menschen selbst interessiert sind und Patienten daher schnell als »Patientengut«, »die Schulter auf Zimmer 7«, »Simulantin« etc. abgestempelt werden, ist es nur allzu verständlich, wenn sich Patienten zunehmend dorthin wenden, wo sie respektvoll wahrgenommen und behandelt werden und nicht nur als Erfüllungsgehilfen eines zweifelhaften therapeutischen Egos dienen.
– Osteopathie erhebt nie den Anspruch zu heilen. Es werden lediglich optimierte Rahmenbedingungen geschaffen, in denen die inhärente Selbstheilungskraft über das Medium der Körperflüssigkeiten besser wirken kann. Diese Entmachtung des therapeutischen Egos und die Zerstörung der Therapeut-Patienten-Hierarchie ist unabdingbar, um einen freien und unverstellten diagnostischen Blick zu entwickeln. Das merken und schätzen auch die Patienten.
– Jeder Mensch hat sein individuelles Tempo und Potential, wenn es um die Heilung geht. Daran können auch noch so viele wissenschaftliche Studien seitens der Medizin und statistische Erhebungen der Kostenträger ändern. Osteopathinnen und Osteopathen vertrauen daher auf das, was ihnen der Körper erzählt und welche individuellen Lösungen er selbst »vorschlägt«. Insofern werden Patienten weder starre Konzepte noch Idealziele übergestülpt.
– Anders als immer wieder von Kritikern behauptet wird, steht die wissenschaftliche Forschung innerhalb der Osteopathie sehr hoch im Kurs. Und es wird hart daran gearbeitet diese Qualitätsstandards weiter zu etablieren und auszubauen. Die geplante Akademisierung der Osteopathie in den kommenden Jahren ist hierbei nur der Anfang. Auch die Patienten merken sehr schnell, dass seriöse Osteopathie alles andere ist als »unwissenschaftliche Quacksalberei«.
– Osteopathie ist offen für alle neuen Erkenntnisse, die der Philosophie natürlicher Heilung entsprechen. Sie schottet sich daher nicht ab, sondern verfährt auch mit anderen Medizinformen ganz gemäß einer der berühmtesten Aussagen Ihres Entdeckers, Andrew Taylor Still (1828 – 1917):
»Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes. Krankheit kann jeder finden. 2
– Osteopathie ist (Lebens-)Philosophie, Kunst und Wissenschaft, wobei alle drei Aspekte sich harmonisch ausbalancieren und keiner zugunsten des anderen geopfert wird. Dies erst ermöglicht die Ausübung einer ganzheitlichen Medizin – und das und nicht weniger praktizieren gut ausgebildete Osteopathinnen und Osteopathen – im besten Sinn des Wortes.
Was aber ist Osteopathie?
Schon wenige Jahre nach Gründung der ersten Osteopathieschule (1892) kam es zu Streitigkeiten innerhalb unter den Osteopathen. Hier standen sich die sogenannten lesionists und broadists gegenüber. Während erstere bedingungslos Stills »reiner Lehre«. (Behandlung ausschließlich mit den Händen & keine Medikamente) folgten, forderten letztere vehement eine Öffnung der Osteopathie auch gegenüber neuen Forschungsergebnissen. John Martin Littlejohn (1866 – 1947), eine Generation jünger als Still und anders als der von ihm hoch geschätzte Still hochgebildet und vielseitig belesen, galt hier als treibende Kraft.
Diese Spaltung und noch weitere historische Ereignisse haben dazu geführt, dass die Osteopathie sich international sehr heterogen präsentiert. Ein bis heute international verpflichtendes Glossar und Kurrikulum dürften hier eine große Rolle spielen. So erhält man auf die Frage, was denn Osteopathie eigentlich sei, abhängig von der durchlaufenen Ausbildungsstätte und ihrer Fakultät teilweise vollkommen unterschiedliche Auskünfte. Um hier eine befriedigende und umfassende Antwort zu erhalten muss, man in die Gründerzeit zurückgehen, jene Zeit, in der die Osteopathie als vollständige und vollwertige Medizin auch bei Akutfällen praktiziert wurde.
John Martin Littlejohn
Kein anderer Vertreter der Osteopathie hat es geschafft, die Osteopathie annähernd so klar und umfassend zu beschreiben wie John Martin Littlejohn, der wohl bedeutendste Vertreter der Osteopathie im 20. Jahrhundert. Ausgestattet mit einem brillanten analytischen Geist hat er Stills noch stark von der romatischen Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts geprägte Philosophie der Osteopathie in die moderne Wissenschaftssprache übersetzt. Damit ist er nicht nur legitimer Erbe Stills, sondern zugleich auch die Brücke zwischen ihm und der modernen Osteopathie auch unserer Tage. Allein schon deshalb lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Biografie dieses außergewöhnlichen Menschen zu werfen:
John Martin Littlejohn wurde am 15. 02. 1866 in Glasgow als Pfarrerssohn geboren. Er war ein hochintelligenter und wissbegieriger, aber auch kränklicher junger Mann. Trotz bitterster Armut war das Elternhaus vom geisteswissenschaftlichem Studium erfüllt, und so begann seine sprachwissenschaftliche Ausbildung bereits mit 16 Jahren an der Akademie Colraine in Nordirland. Nach dem Studium der Theologie an der Universität in Glasgow ging er 1886 als Pfarrer nach Nordirland, um schon bald darauf wieder nach Glasgow zurückzukehren. Dort erwarb er mehrere Abschlüsse und Auszeichnungen in Jura, Theologie, Medizin, Philosophie und Soziologie und hielt 1886/87 seine ersten Vorlesungen.
Das raue Klima und seine Konstitution hatten ihn zu einem ebenso introvertierten wie brillanten und vielseitig gebildeten Analytiker geformt. Nach einem Unfall in der Universität, bei dem er sich eine Schädelfraktur zugezogen hatte, litt Littlejohn an mehrfach täglich rezidivierenden Blutungen im Hals, die ihn zum Klimawechsel zwangen. Eine große Universitätskarriere fand damit ihr jähes Ende.
AUSZUG AUS DER FAMILIENBIBEL DER LITTLEJOHNS (1865)
Hier ist das Geburtsjahr Littlejohns auf 1865 datiert. Laut Martin Collins, einem der renommiertesten Littlejohn-Kenner, dürfte es sich aber hier um einen Fehler in der Bibel handeln, da mehrere Originaldokumente jener Zeit das Geburtsjahr auf 1866 festlegen.
1892 siedelte er mit seinen Brüdern James und William nach Amerika über und