ist.
Daher konnte ich jenem besagten Mann helfen, der zu mir kam, damit ich mir sein krankes Herz ansehen sollte. Es war aber nicht sein Herz, das die Beschwerden verursachte.
Und „helfen“ ist ein Schlüsselbegriff. Ein Osteopath glaubt, dass der Körper die Fähigkeit hat, sich selbst zu heilen. Wir erledigen alle diese Arbeit nicht selbst. Wenn wir fertig mit unserer Arbeit sind, übernimmt der Körper das Kommando.
Auch wenn Osteopathen und Mediziner1 viele vergleichbare Behandlungsmethoden wie beispielsweise Arzneimittel, Röntgenstrahlen und Chirurgie anwenden, behandeln wir Osteopathen den menschlichen Körper darüber hinaus mit unseren Händen in einer Weise, die Dr. Still Manipulation2 genannt hat.
Jenen Teil des Körpers, den wir behandeln, bezeichne ich als Knochengerüst (obwohl dieser Tage viele Menschen ihn Bewegungsapparat nennen). Er besteht aus Knochen, Muskeln, Sehnen, Gelenken und Geweben. Dieses System bildet den Stützapparat für den übrigen Körper. Wenn man ein Haus baut, müssen die Dachsparren fertig gestellt und stabil sein, bevor das Dach gedeckt werden kann. Ebenso kann man sich ohne ein gut abgestimmtes, kräftiges Knochengerüst keiner guten Gesundheit erfreuen, denn Defekte in dieser Struktur haben Auswirkungen auf die natürlichen Funktionen des Körpers.
Wie reagiert der Körper aber nun auf osteopathische Manipulationen? Die manuellen Techniken stimulieren den Fluss der zerebrospinalen Flüssigkeit, welche die Oberfläche des Gehirns und des Rückenmarks umspült. Sie steigern auch die Körperatmung, wobei mehr Sauerstoff in den Blutstrom gelangt, und regen die Verdauung an, wodurch die Energie viel effizienter in den Körper gelangt. Osteopathische Techniken stellen somit die Balance zwischen Verdauung, Atmung, Kreislauf und Gehirnfunktionen wieder her.
Wahrscheinlich war der Hauptgrund dafür, dass ich Osteopath wurde, den allopathischen Ärzten zu beweisen, dass sie einen Fehler begangen hatten, als sie mir die Zulassung auf ihrer medizinischen Schule verweigerten. Die Fakultät der University of Louisville, gegenüber von jenem Flussufer des Ohios, an dem ich aufwuchs, hatte versprochen mich aufzunehmen, falls ich einen Kurs in organischer Chemie belegen würde. Und so tat ich dies. An meinem letzten Kurstag schickte mich mein Professor jedoch zum Dekan der medizinischen Ausbildungseinrichtung. Ich kam in sein Büro, er bat mich Platz zu nehmen, redete ein bisschen um den heißen Brei herum und teilte mir schließlich mit, dass er glaubte, ich würde einen viel besseren Zahnarzt abgeben als einen Arzt.
Bis heute habe ich nicht herausgefunden, wie er zu diesem Schluss gekommen war, aber ich wusste, dass damit gemeint war, ich wäre nicht mehr länger an dieser Schule willkommen.
Diese Ablehnung war schmerzlich, aber ein paar Jahre später erzählte mir ein Freund, der zuvor die Kansas City School of Osteopathic Medicine besucht hatte, von Dr. Stills Fachgebiet und seiner Philosophie. Kurz entschlossen packte ich meine Sachen und erschien zwei Wochen nach Kursbeginn in Kansas City.
Das Lehrerkollegium schaute in meine Akte und alles, was sie dazu sagten, war, dass ich den Kurs in organischer Chemie nicht zu belegen bräuchte.
Zu dieser Zeit legte das Kansas City College besonderes Gewicht auf die Entwicklung der sensiblen Palpation, welche die Studenten benötigen um die osteopathischen Techniken geschickt auszuüben.
Um uns dabei zu helfen, nahmen unsere Professoren menschliche Knochen, wickelten sie in Decken ein und übergaben uns das Bündel.
Wir wurden aufgefordert zu beschreiben, was wir erfühlten, ohne dabei hineinzusehen. So entwickelten wir die Fähigkeit, mit unseren Händen dasjenige im Körper zu erspüren, was die Osteopathen als Läsionen oder Störungen bezeichnen.
Diese Art von Training bestimmte einen erheblichen Teil unserer Ausbildung. Zum Zeitpunkt meiner Ausbildung absolvierten die medizinischen Ärzte 3.800 Stunden und die Osteopathen 4.200 Stunden. Diese zusätzlichen Stunden wurden der Vermittlung osteopathischer Techniken gewidmet.
Meine Klassenkameraden und ich haben oft miteinander geübt. Ich war ziemlich robust, aber wir lernten sehr schnell vorsichtig zu sein, sobald wir eine derart mächtige Technik anwandten. Eines Tages probierte ein Klassenkamerad eine bestimmte Technik an meiner linken Schulter aus und löste damit bei mir eine schreckliche Grippe aus. Es stellte sich heraus, dass er fälschlicher Weise die Lymphbahnen zu meinem linken Lungenflügel blockiert hatte.
Bei einer anderen Unterrichtsübung nahmen wir ein menschliches Haar, legten es auf ein leeres Blatt Papier und legten ein weiteres Blatt darüber. Es durften sich weder Schrift noch Linien, die uns führen konnten, auf dem Blatt befinden. Dann wanderten wir mit allen Fingern über das Papier, bis wir jene kleine Erhöhung, die das Haar verursacht hatte, ertasten konnten. Und sobald wir dazu mit allen zehn Fingern in der Lage waren, legten unsere Professoren ein weiteres Blatt Papier auf das andere und wir übten weiter und weiter, bis es nicht mehr weiter ging.
Mein Ruf, jemand zu sein, der die geringste Unebenheit durch Papier hindurch erspüren konnte, wuchs, bis ich eines Tages eine Vorlesung im Krankenhaus von Tucson, Arizona, hielt. Ein Arzt unter den Zuhörern zupfte der Dame, die neben ihm saß, ein Haar aus ihrem Kopf – ich konnte sehen, wie sie zusammenzuckte, als er das tat – und kam dann hoch zum Podium. Er legte das Haar unter achtzehn Blatt Papier und forderte mich vor dem Publikum auf, es zu erfühlen.
Nun, natürlich gelang es mir, aber ich konnte Zeit meines Lebens nicht herausfinden, warum er sich nicht ein Haar von seinem eigenen Kopf gerupft hatte.
Ich habe niemals damit aufgehört diesen Tastsinn weiter zu entwickeln. Heute sind meine Hände sensibel genug um festzustellen, wo ein Knochen vor Dutzenden von Jahren gebrochen sein könnte. Ich lasse nur meine Hand an der Extremität herunterwandern, bis ich einen kleinen rauen Vorsprung fühle, einen Widerstand in der Muskulatur und das aufgelagerte Kalzium, das sich bei der Heilung des Knochens geformt hatte.
Nach meiner Promotion in Kansas City kam ich zum Praktizieren nach Ohio. Mit den Jahren sah ich Tausende von Patienten im Alter von drei Tagen bis zu fünfundachtzig Jahren. Jetzt, wo ich meine zehnte Dekade beginne, bevorzuge ich es ausschließlich mit jungen Leuten zu arbeiten. Das liegt nicht daran, dass ich sie lieber mag, obwohl ich das Strahlen eines Kindes doch sehr genieße. Stärker wiegt, dass ich einfach nicht mehr das körperliche Stehvermögen habe, um Tag für Tag mit Erwachsenen zu arbeiten. Erwachsene strahlen weniger Energie aus als Kinder; während man ihnen alles gibt, geben sie nur wenig zurück, was verursacht, dass ich mich erschöpft fühle. Kinder, die mehr ausstrahlen, absorbieren meine Energie nicht so sehr.
Als ich meine Praxis eröffnete, konnte ich die osteopathischen Techniken noch nicht so oft ausüben, wie ich gerne wollte. Da die meisten allopathischen Ärzte im Zweiten Weltkrieg in Übersee dienten, musste ich zwischen achtzehn oder zwanzig Stunden am Tag arbeiten, in denen ich alles Mögliche tat um jedem zu helfen, der mich brauchte. Zu alledem hatten wir nicht genügend Ärzte um den Bedarf der Patienten zu decken. So mussten wir behandeln, wenn uns ein Patient rief, egal zu welcher Tageszeit.
Als die anderen Ärzte nach dem Krieg zurückgekehrt waren, ließ ich mich als Osteopath in Cincinnati nieder. In den ersten drei Monaten schaute überhaupt niemand bei mir vorbei. Ich saß einfach nur da, wartete und las Dutzende von Büchern. Dann besuchte ein Prediger aus der Nachbarschaft den Herrensalon gegenüber und fragte den Barbier, was er über mich wüsste. Dieser erwiderte, dass er überhaupt nichts über mich wisse.
Daraufhin kam der Prediger herüber und stellte sich mir vor. Wir wurden bald Freunde und verbrachten einige Abende zusammen in den Lokalen auf der anderen Seite des Flusses in Kentucky. Der Prediger schien die Tür für meine Praxis zu öffnen, denn dank seiner Empfehlungen hatte ich nie wieder Zeit für mich selbst. Schließlich nahm ich zu viele Patienten an und musste sie einem Assistenzarzt übergeben, mit dem ich die Praxisräume teilte.
Zweifelsohne war das Highlight meiner Karriere die positive Reaktion meiner Patienten. Jede Woche erhalte ich Karten und Briefe von Menschen, die für meine Arbeit dankbar zu sein scheinen. Nichts kann mir ein besseres Gefühl verschaffen als die Gewissheit, dass die Leute, die ich betreut habe, diese Leistung anerkannt haben.
In den Jahren des politischen Kampfes der Osteopathie um offizielle Anerkennung begann unser Metier der allopathischen Medizin