Grashalm, steckt das Näschen in ein Mauseloch, hüpft durch mein Staudenbeet, reißt dort einen Blütenstängel ab und tollt damit ausgelassen durch den Garten, während ich fröstelnd auf der Terrasse stehe und auf ihn warte.
Aus den Augenwinkeln sehe ich schemenhaft einen großen Schatten von einem Zaunpfahl auffliegen. Völlig lautlos gleitet ein gedrungener Körper mit fast rundem Kopf in Bodennähe auf meinen King zu. Das ist sie, die gefürchtete Nacht-Jägerin, die in der Lage ist, eine davonhuschende Maus bei der Bodenjagd einzuholen. Sie hat offensichtlich von ihrem Ansitz aus King fixiert. Eulen töten immer auf die gleiche Weise. Den Flug wird sie abrupt abbremsen, sobald sie den Kleinen erreicht hat, und zeitgleich die dolchartigen Klauen nach vorne strecken. Darauf folgt der Tötungsbiss in den Nacken und das Opfer wird mit den kräftigen Fängen durchgewalkt. Ihre Flügel nehmen dabei die Fangstellung ein und werden weit über die Beute gespreizt.
Wie versteinert erlebe ich die Sekundenbruchteile, in denen sich der Angriff abspielt, kann meinen Blick nicht von den dramatischen Ereignissen lösen. Mit weit aufgerissenen Augen erkenne ich, dass die Eule knapp über King, der sich ängstlich auf den Boden drückt, hinweggleitet, ohne ihn zu berühren, und in Richtung Wald abdreht. Im letzten Moment hat sie glücklicherweise wohl erkannt, dass mein Airedale-Baby keine überdimensionale Maus ist.
Altersunabhängige Großmäuligkeit
Großmäuler gibt es wahrlich genügend: Großmaulantennenwelse, Großmaulmakrelen, Großmaulhaie, Großmaulkampffische. Auch Krokodile, Schlangen, Flusspferde, Löwen und Co. zeigen beim Aufreißen ihrer Mäuler Respekt einflößende Großmäuligkeit. Sie tritt selbst beim Homo sapiens auf, der dieses Attribut aber nicht wegen der beachtlichen Größe seines Mundes zuerkannt bekommt. Zweifelsfrei gehört auch der Airedale zu den Großmäulern. Er hat ein beachtlich großes Maul und zuweilen riskiert er auch ein solches! Gezeigt hat mir mein King seine bewundernswerte Großmäuligkeit bereits im zarten Welpenalter.
Kaum habe ich den Kleinen in mein Auto gepackt, mit einem extralangen Ochsenziemer ausgestattet, um ihm die mehrstündige Urlaubsfahrt zu versüßen, ertönt aus dem mit einem großen Handtuch gepolsterten Fußraum vor dem Beifahrersitz eine alarmierende Mischung aus Ächzen, Stöhnen und Würgen. Eine Vollbremsung ist die Folge meines kurzen Seitenblicks in den Fußraum. Der Ochsenziemer ist bis auf ein kleines Stück vollständig in meinem Welpen verschwunden. Ein mindestens 30 Zentimeter langes, spitzes Exemplar in meinem Miniatur-Airedale! Grausige Bilder laufen vor meinem inneren Auge ab, während ich hektisch um den Wagen herum zur Beifahrerseite renne. Schwer verletzt muss er sein, mein Kleiner, vielleicht unrettbar verloren wegen Perforationen von Magen und Darm.
Keine Hilfe in Sicht, Landschaft, so weit das Auge reicht, und eine schnurgerade Straße, auf der nur ich unterwegs zu sein scheine. Die Beifahrertür aufreißen, King schnappen und den Ochsenziemer herausziehen, geschieht beinahe instinktiv und dann harre ich der Dinge, die da kommen müssen. Es kommen aber keine, jedenfalls keine, die mich in weitere Ängste versetzen. King stellt sein Würgen ein, die Rute wird wieder fröhlich getragen und er hüpft vor meinen Füßen hin und her und bettelt darum, den Ochsenziemer zurückzubekommen. Ich dagegen bin immer noch fassungslos, schaue ratlos Ochsenziemer und meinen Welpen an und gebe dann seufzend auf herauszufinden, wie King es geschafft hat, das lange Ding zu 90 Prozent in sich hineinzuwürgen. King verhilft die Kunst des Ochsenziemerschluckens glücklicherweise nur dazu, dass ich ihm nie wieder einen zum Kauen gönnen werde. Bei den zukünftigen Ausmaßen meines Hundes bliebe noch nicht einmal ein winziger Rest sichtbar, an dem ich zwecks Sofortrettung ziehen könnte, da bin ich sicher.
Am Ziel angekommen, nimmt der Winzling spornstreichs sein neues Revier in Augenschein. Unerschrocken marschiert er auf noch kurzen, stämmigen Beinchen mit überdimensionalen Pfoten durch den Garten des Ferienhauses. Ganz verzückt schauen zwei Kuvasz-Hündinnen vom Nachbargrundstück durch den Zaun und jeder ihrer Blicke sagt: »Ein Baby, wie niedlich! Komm her, kleiner Mann, wir adoptieren dich!« Das Baby ist jedoch keineswegs auf der Suche nach Müttern, zumal es der seinen vor nicht allzu langer Zeit entronnen ist und bereits weiß, wie sich Erziehung auf Hundeart anfühlt! Also wächst mein kleiner König über sich hinaus, indem er seine Vorderpfoten auf einen Blumenkübel setzt, starrt die großen Weißen herausfordernd an und bringt den gestandenen Hündinnen wütend seine helle Welpen-Stimme zu Gehör. David gegen zwei Goliaths, so etwas nenne ich Selbstbewusstsein und Schneid. In Anbetracht des stabilen Zaunes vielleicht auch Großmäuligkeit!
Erstaunliche Affinität
Der menschliche Zeigefinger dient zum Zeigen, das sagt bereits der Name. Zeigen kann man auf viele Dinge, auch auf Welpen. Das ist zunächst einmal ungefährlich. Ungefährlich ist es auch, den Zeigefinger zu Kommunikationszwecken mit dem neuen Familienmitglied als moralischen zu erheben. Anders sieht die Sache aus, wenn man mit besagtem Zeigefinger eine Welpenannäherung vornimmt.
Will ein Hundekundiger einen ersten Kontakt zu einem ausgewachsenen Lebewesen der Gattung Canis lupus familiaris aufnehmen, hält er ihm die Hand hin, um dem Vierbeiner Gelegenheit zu geben, ihn auf Hundeart kennenzulernen. Hundewelpen erzeugen auch beim Menschen durch das Kindchenschema das unbedingte Bedürfnis, sie zu streicheln, zu verhätscheln und zu beschützen. Welpen sind natürlich noch klein und das ist wohl der Grund dafür, dass zum Kennenlernen nicht die ganze, im Verhältnis zum Welpen überdimensional große Hand hingehalten wird, sondern nur ein Zeigefinger und zu diesem entwickelt mein King schon am Tag des Kennenlernens meiner engsten Freunde eine erstaunliche Affinität.
Sein erster Besucher ist unser Nachbar Wolfgang, genauso airedale-verliebt wie ich, und so gerät er bei dem Anblick des neuen Familienmitglieds sofort in Verzückung. Das muntere Fellknäuel liefert im Moment eine bühnenreife Vorstellung mit Buddelarbeiten und Phantom-Hetzjagden in meinem Garten, Kings heißgeliebtem Abenteuerspielplatz. Noch ist der Neuankömmling für den Kleinen uninteressant. Irgendwann haben sich Wolfgangs Augen aber sattgesehen und sein Wunsch nach näherem Kontakt in Form von Streicheleinheiten wird übermäßig. Also hockt er sich auf die Terrasse und lockt King. »Ja, du bist ja niedlich! Komm doch einmal her! Ja, King, komm schnell, komm zu Wolfgang!«, säuselt er in den höchsten Tönen und hat Erfolg. King unterbricht das Totschütteln seines Plüschesels und wackelt auf seinen Bewunderer zu.
Und jetzt kommt er ins Spiel, der bereits erwähnte Zeigefinger. Wolfgang streckt ihn aus und King, der sich nicht mit Beschnüffeln aufhält, locht ihn umgehend mit einem nadelspitzen Fangzähnchen. Wolfgang starrt fassungslos die blutende Bisswunde an und verlangt nach sofortiger Desinfektion. Jod & Co. habe ich nicht im Hause, aber den guten 80-prozentigen, aus Österreich importierten Strohrum. Der tötet mit Sicherheit alle Krankheitserreger, hat allerdings eine schmerzhafte Nebenwirkung bei Wundkontakt. Ich verzichte trotzdem darauf, Wolfgang wie im Wilden Westen als schmerztherapeutische Hilfe ein Stück Kaminholz zum Hineinbeißen anzubieten, und träufele vorsichtig den Rum auf den lädierten Zeigefinger. Wolfgang zieht geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen und zeitgleich blitzschnell den Finger ein. Natürlich schütte ich dadurch den Rum ins Leere. Mein Airedale-Baby, das zu Wolfgangs Füßen sitzt und interessiert die Prozedur verfolgt, öffnet das kleine Mäulchen, streckt die winzige Zunge hervor, fängt geschickt ein paar Tröpfchen Rum auf und findet sie offensichtlich so sehr schmackhaft, dass die Terrassenplatten nach dem Geschmackstest akribisch rumfrei geleckt werden.
An diesem Tag sind noch drei weitere medizinische Rum-Desinfektionen bei Besuchern nötig und dadurch hat sich jetzt unverbrüchlich etwas in dem kleinen Hunde-Hirn verknüpft: ein ausgestreckter Zeigefinger ==> Aufforderung zum Anbeißen ==> Rumkur ==> zungenunterstützter Putzeinsatz mit Partyflair. Ich überlege ernsthaft, ob ich nicht spätestens morgen an der Haustür ein Schild anbringe, das ein Ausstrecken des Zeigefingers Richtung King kategorisch untersagt. Man stelle sich nur vor, die nächsten Zeigefinger-Opfer bestehen auch noch auf innerer Anwendung des Hochprozentigen. Der dann regelmäßig notwendige Import von österreichischem Strohrum würde für mich in Anbetracht der langen Wegstrecke und stets steigender Benzinpreise unerschwinglich.
Kleiner Ausbrecherkönig
»Du