Jan Eik

Katzmann und das schweigende Dorf


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seiner Kindheits- und Jugendtage in Wulkersbach. Beinahe erschrocken erkannte er Konrad. «Mensch, Feierhänd, desderwegen schickt dich extra deine Zeidung her?», fragte er erstaunt.

      Wie alle im Ort sprach Robert den kehligen, schwer verständlichen Dialekt der Gegend, der stärker als das gewöhnliche Sächsisch die Konsonanten aufweichte und die Vokale verfälschte. Eine Form des Osterländisch-Vorvogtländisch-Erzgebirgischen mochte das sein. Jedes Dorf redete in einer anderen Variante. Die meisten davon verstand Konrad ganz gut. Er hieß hier eben Gunnrahd und unter den alten Freunden Feierhänd.

      Er zog Robert zur Seite. «Unsinn!», sagte er. «Ich bin eigentlich ganz zufällig hier und weiß nicht mal, was wirklich passiert ist. Erzähl mal!»

      Robert sah sich um, als fürchte er, jemand könne ihn dabei beobachten, ein Geheimnis zu verraten. «Der Ferdinand», murmelte er, «ist draußen am Rauber erstochen worden. Hat euer Blatt das nicht gemeldet?»

      «Kann sein …» Lokale Schreckensmeldungen - und deren gab es genug in diesen schlimmen Zeiten - las Konrad nicht sonderlich aufmerksam, solange sie nicht die Umgebung von Dresden betrafen. Der Name Wulkersbach aber wäre ihm aufgefallen. Das Dorf war so etwas wie eine zweite Heimat. Er war ein schwächliches Kind gewesen, mit dem die Mutter sich der gesunden Landluft und der frischen Milch wegen auf dem Hof ihrer entfernten Cousine Anni und deren Mann Ferdinand einquartierte, in der Hoffnung, Konrads beängstigende Erstickungsanfälle wirksam zu kurieren. Mit den Jungen im Dorf, die den Großstädter anfangs bis zu Tränen der Wut hänselten, hatte ihn nach erstaunlich kurzer Zeit eine feste Kameradschaft verbunden, die er seiner gründlichen Kenntnis der grünen Bände eines gewissen Karl May verdankte. Im Dorf las man außer der Bibel kaum ein Buch, doch die Abenteuer des angeblichen Weltenbummlers aus dem nahen Hohenstein-Ernstthal, der noch dazu im benachbarten Waldenburg studiert hatte, waren auch bis zu den Wulkersbacher Jung-Apatschen gedrungen.

      Großmütig hatten sie Konrad als kränkliches Bleichgesicht mitspielen lassen, das sie am Marterpfahl zu quälen gedachten. Bald jedoch hatte dieses städtische Greenhorn ihnen tausenderlei Fehler in ihren dürftigen Stammesriten nachgewiesen und sie anschließend mit nie gelesenen Abenteuern aus Leben und Werk Old Shatterhands vertraut gemacht. Der zu jener Zeit in den Zeitungen heftig geschmähte und von seinen Verehrern noch verbissener verteidigte Kara ben Nemsi hatte damals noch gelebt. Seitdem hatte Konrad jede Zeile von und über den großen Märchenerzähler von Radebeul gelesen und gesammelt und damit vor den staunenden Apatschen geglänzt.

      Einstimmig war er in den Wulkersbacher Stamm aufgenommen worden, dessen Jagdgründe im bachdurchflossenen Grenzwald kaum ein Erwachsener je gestört und in dem der strohblonde Rainer bis zu seinem frühen Tod unangefochten die alte Schmetterhand gespielt hatte. Siegfried Geisler, der dunkellockige Sohn von Ferdinand und Anni, die Konrad der Einfachheit halber Tante Anni nannte, hatte ebenso unangefochten den Winnetou dargestellt. Der lang aufgeschossene Robert Börner, Spross der zweitreichsten Bauernfamilie im Ort, war Old Surehand gewesen, und der Rest der zumeist kindlichen Dorfjugend hatte das Fußvolk dargestellt. Für Konrad war nach einigem Hin und Her nur Old Firehand aus Winnetou Band 4 geblieben, womit er sich großmütig abgefunden hatte.

      Leider war den Bauernlümmeln selten genug Zeit zum Indianerkampf geblieben, und den Gesindekindern erst recht nicht. Immerhin hatte sich ein harter Kern von vier, fünf Jungen gehalten, die Blutsbrüderschaft miteinander geschlossen und feierlich geschworen hatten, sich gegenseitig ein Leben lang beizustehen. An jenem Tag, mindestens zwei Jahre nach Rainers Tod, war Robert der Ehrentitel Old Shatterhand zuerkannt worden, worauf Konrad zu Old Surehand aufsteigen sollte, es jedoch vorgezogen hatte, Old Firehand zu bleiben. Jochen Hainich, nur ein Jahr jünger als Konrad, war der neue Surehand geworden. Der Franke-Alfred hieß natürlich Hobble-Frank, wenn auch nicht Heliogabalus Morpheus mit Vornamen wie sein Urbild, und der untersetzte Gerstner-Ludwig war Sam Hawkens - wenn ich nicht irre, hi-hi-hi.

      Das alles ging Konrad durch den Sinn, während er in seiner Lederkluft ein wenig verloren vor Hainichs Heuboden stand, auf dem die Apatschen einst herumgetobt hatten und in dem das Dorf nun Ferdinand Geisler die allerletzte Ehre erwies.

      Für einen Augenblick verfluchte Konrad die Idee seines zufälligen Besuchs. So viele seines Jahrgangs waren an der Marne und sonst wo in Europa gefallen - in seiner engeren Umgebung war der Tod eher ein seltenes Ereignis geblieben. Jetzt seinem Freund Siegfried und seiner lieben Tante Anni entgegenzutreten und ihnen sein Beileid auszusprechen war eine höchst unangenehme Vorstellung. Ganz zu schweigen von Siegfrieds Schwester Lydia, mit der ihn ein besonderes Verhältnis verband. Vielmehr verbunden hatte. Sie war hoffentlich längst über die Enttäuschung hinweg, die er ihr - wie mancher anderen, wenn auch nicht in Wulkersbach - bereitet hatte.

      Doch das half nun nichts, er musste hinein in den hohen Saal mit der gewaltigen U-förmigen Tafel, an der die Familie Geisler saß, dem Torflügel gegenüber, in dem Konrad einen Moment verharrte. Heinrich Geislers freien Platz hätte man leicht für den von Ferdinand halten können. Die Geislers ohne Ferdinand - das war eine befremdliche Vorstellung. Konrad wurde bewusst, welch eine starke Persönlichkeit Tante Annis Mann gewesen war.

      Gunther, Annis und Ferdinands zwölfjähriger Nachkömmling, entdeckte ihn zuerst und stürzte mit einem unangemessenen Freudenschrei auf ihn los. «Dr Gunnrahd!», jauchzte er, bevor ihm der Ernst des Augenblicks wieder zum Bewusstsein kam und er mit betretener Miene Konrads Hand schüttelte. Der tat, was er sich bei Opa Heinrich nicht getraut hatte: Er umarmte den Jungen und drückte ihn fest an sich. An der Tafel erhob sich Siegfried langsam und ungläubig von seinem Platz zwischen seiner apathisch vor sich hin starrenden Mutter und der auffallend munteren Großmutter Ernestine. Lydia, zur Linken der Witwe, senkte den Blick auf den Tisch, als wolle sie den unerwarteten Ankömmling vorerst nicht bemerken.

      Erst als Konrad auch ihr kondolierte, blickte sie ihm plötzlich fest in die Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Schimmernd dunkles Haar umrahmte ihr rosiges Gesicht mit den traurigen Mandelaugen. Sie war noch genauso hübsch, wie Konrad sie in Erinnerung hatte, und die schwarze Kleidung stand ihr. Sie war zweifellos die Dorfschönste von Wulkersbach und erstaunlicherweise noch immer nicht fest gebunden, denn auf dem Platz neben ihr saß Annis Schwager Gerwald Seidel, mit dem Konrad eine ebenso herzliche Abneigung verband wie mit dessen umfangreicher Frau Gerda. Die beiden nickten ihm nur hoheitsvoll zu, nachdem sie seine Begegnung mit Lydia mit Argusaugen verfolgt hatten.

      Ihr Misstrauen alarmierte Konrad. Ahnte oder wusste etwa doch jemand in der Familie von jener Episode, die Lydia und ihn verband? Im Allgemeinen kannte Konrad kaum Gewissensbisse, was seine vergangenen Affären anging. Ausgerechnet heute und in diesem Fall jedoch war ihm die romantische Geschichte mit Lydia, die Jahre zurücklag, ein wenig peinlich. Lydia war sechs Jahre jünger als ihr Bruder Siegfried - und damit auch sechs Jahre jünger als er selber. Damals mochte sie sechzehn, siebzehn gewesen sein, eine erblühende Rose unter den unauffälligen Dorfmädchen, denen die schwere Landarbeit ein frühes Altern versprach. Schade, dass Siegfried und Konrad damals längst aus dem Alter begeisterter Apatschenkrieger heraus gewesen waren, die dunkellockige Lydia hätte allemal die ideale Nscho-Tschi abgegeben, Winnetous liebreizende Schwester, deren Namen in Wulkersbach niemand hätte aussprechen können.

      Auch ohne Winnetou war Konrad seinerzeit ihrer jugendlichen Anmut erlegen, ohne in den Folgejahren größere Gedanken daran zu verschwenden. Unter den Gutsbesitzern auf dem Lande spielten dynastische und erbrechtliche Gründe bei der Wahl der Ehepartner allemal eine größere Rolle als kurzfristige Liebeleien. Vermutlich war Siegfried deshalb zum Ärger der gesamten Familie noch immer unverheiratet und auf dem besten Wege, sein Leben als eigenwilliger Hagestolz zu verbringen. Das jedenfalls prophezeite ihm seine Mutter Anni seit Jahren, nachdem er zwei gute Partien aus Wulkersbach und dem benachbarten Guckenheim glatt ausgeschlagen hatte - beides Bauerntöchter mit erheblicher Mitgift und Erberwartung, jedoch nach Siegfrieds Urteil zu unansehnlich, ja geradezu hässlich.

      Nun war er von heute auf morgen zum Gutsbesitzer aufgestiegen. Eine Rolle, an die er sich schwer gewöhnen würde, solange Großvater Heinrich das Regiment auf dem Hof zu führen versuchte und Mutter Anni jede seiner Handlungen an denen des Ermordeten maß. Das waren die größten Bedenken, von denen er Konrad erzählte, als der endlich seinen Saalrundgang beendet und sich mit dem Freund und entfernten Verwandten in eine ruhige Ecke zurückgezogen