damit nicht. Die Stimmung im Haus war auch in den folgenden Tagen wie das nasse Märzwetter über der Flur geblieben: nahe dem Gefrierpunkt. Großvater Heinrich hatte seinen Groll in sich hineingefressen und ihn ganz gegen seine Art mitunter an den Hühnern oder sonst einem widerspenstigen Tier ausgelassen. Ferdinand war allen aus dem Wege gegangen und hatte verbissen vor sich hin gearbeitet. Siegfried hatte wortlos seine Pflichten erledigt, bemüht, keinen Anlass zu Klagen zu bieten. Selbst Lydia hatte sich in dieser Zeit verändert, von ihrer üblichen Lebenslust war nichts mehr zu spüren. Unverändert geblieben waren nur das unbeschwerte Küken Gunther und die Großmutter Ernestine in ihrem Küchenreich, das sie zäh und beharrlich gegen die Schwiegertochter Anni verteidigte, seit deren zunehmende Gelenkbeschwerden ihre Arbeitsmöglichkeiten im Stall und auf dem Feld immer stärker einengten.
Niemand außer ihr selbst machte Anni jemals einen Vorwurf wegen der Behinderung - als Bauerntochter wusste sie am besten, was man auf einem Hof wie dem Geisler’schen von einem kranken oder nutzlosen Esser hielt, und das bestimmte ihre Befindlichkeit seit langem. Die restlichen Leute auf dem Hof, allen voran die derbe Magd Elsa, gingen ihr lieber aus dem Weg. Nicht einmal die eigene Schwester Gerda, die mit ihrem Angetrauten Gerwald in den ursprünglich für Siegfried und seine nicht vorhandene Familie ausgebauten Stuben über dem Schweinestall wohnte, hatte ein besonders inniges Verhältnis zu ihr, was an Gerdas Arbeitsunfähigkeit infolge ihrer Fettsucht liegen mochte, vielleicht auch an Gerwalds Überheblichkeit und Ungeschick. Der hatte zeitweise in der Patentpapierfabrik in Penig gearbeitet und hielt sich für einen halben Ingenieur. In schlechten Zeiten diente er auf dem Hof als Knecht und Mädchen für alles. Die schlechten Zeiten hielten seit 1917 an, seit Gerwald mit einem Nervenleiden behaftet vom rumänischen Kriegsschauplatz zurückgekehrt war. Als leiblicher Schwager der Hofeigentümerin gab er sich gerne für so etwas wie der Geisler’sche Gutsinspektor aus. Seinem Kommando beugten sich allerdings nur der gutmütige Trottel Gottlieb und gelegentlich der ebenfalls kriegsbeschädigte Bernhard Gräfe, ein entfernter Geisler’scher Cousin, der neben Gottliebs Knechtskammer über dem Pferdestall schlief. Von Elsa, der resoluten weizenblonden Mittdreißigerin, die seit zwölf Jahren dem Gesinde vorstand und kaum ein anleitendes Wort für die Arbeit brauchte, genügte eine einzige Schimpfkanonade, um Gerwald den nötigen Respekt beizubringen und ihr auf ewig Gerdas tödliche Feindschaft einzutragen.
So sah es also auf dem Gehöft der Geislers aus, einem großzügig angelegten Vierseitenhof, wie es sie in der Gegend zahlreich gab. Konrad kannte den Hof wie seine Westentasche. Das langgestreckte Wohngebäude stammte aus dem Jahr 1796, im Kern ein stabiler Fachwerkbau mit einem tiefen Keller unter der quadratischen Küche, mit roten Sandsteinbögen im Kuhstall am anderen Ende und zwei geräumigen Oberböden. Dem imposanten Gebäude gegenüber erhob sich die mächtige hölzerne Scheune mit Bansen, Tenne und zwei Einfahrten, einer der bevorzugten Spiel- und Versteckplätze der Kindheit. Die Nordseite des Hofes schloss ein Stallgebäude mit Heuboden, Taubenschlag, Schafstall und einem Kartoffelkeller ab, über dem im Winkel neben der Scheune die Kutschenremise lag, nur von außen zugänglich, wie die uralte Feldscheune an der Toreinfahrt. In der Remise stand neben zwei Kutschen auch der zweispännige Schlitten für den gewöhnlich schneereichen Winter.
Zwischen dem Haupt- und dem südlichen Wohnstallgebäude, in dem sich der Schweinestall und der Stall für die sechs Pferde befanden, führte die Gartenpforte über einen kiesbestreuten Weg hinaus auf die abschüssige Weide. Aus ihrer Küche und dem Wohnzimmer genossen Gerda und Gerwald einen weiten Blick über Dorf und Tal bis fast nach Meffersdorf. Im Hof, und damit zu Gerdas Ärger unmittelbar unter den Fenstern ihres Schlafzimmers über dem Schweinestall, befand sich der morgens und abends frisch dampfende Misthaufen. Vor den Häusern war er säuberlich mit quadratischen Sandsteinplatten umrahmt, von der grob gepflasterten Hofseite aus mit Laufbrettern befahrbar und in der Ecke mit einer Saugeinrichtung für die Jauche versehen. Die hatte Ferdinand noch vor dem Krieg installieren lassen, zusammen mit der Jauchepumpe draußen vor der Futterkammer am Kuhstall. Darüber waren Siegfried und er ganz einer Meinung gewesen, im Gegensatz zu Heinrich, der von derlei neumodischem Kram wenig hielt und sich gegen den Elektrizitätsanschluss wehrte. Auch dabei hatte sich Ferdinand mit Siegfrieds Unterstützung durchgesetzt. Die Elektrizität versprach nicht nur das weniger gefährliche Licht im Haus und in den Ställen, sie lieferte auch Kraft für Pumpen und Maschinen. Ferdinand war nun mal fürs Moderne und Praktische gewesen. Insgeheim hatte er von einer elektrisch angetriebenen Dreschmaschine geträumt. Im Dorf besaß nur der reiche Marquardt ein fahrbares, von einer Lokomobile betriebenes Dreschwerk, das er nur äußerst ungern und gegen entsprechend hohe Arbeitsleistungen der Bittsteller verlieh.
Der Motor für die elektrische Dreschmaschine anstelle des alten, von zwei Pferden angetriebenen und höchst anfälligen Ungetüms von Göpelwerk, für den Ferdinand bereits den Platz im Mittelteil der Scheune vorgesehen hatte, war einer der Streitpunkte der letzten Monate gewesen. Mit seinem ganzen Altersstarrsinn hatte sich Heinrich gegen Ferdinands Absicht gestemmt, am besten gleich und sofort alles Bargeld in eine solche Maschine und in weitere, einen Garbenaufzug beispielsweise oder gar einen Trecker, zu stecken, zusätzliches Vieh zu kaufen oder das Geld wenigstens in amerikanische Dollar umzutauschen. Das war dem Alten entschieden zu weit gegangen. Immerhin hatten die Amerikaner im Krieg zu den Feinden gehört, und von denen nahm man nichts, schon gar nicht ihr Geld.
Selbst Siegfried hatte seinen Vater einen Schwarzseher genannt. Er hatte Ferdinands Beziehungen zu diesem ominösen Rogowski in Penig missbilligt, über den allerlei Gerüchte im Umlauf waren. Der geschickte Händler malte den Landwirten die Schreckensbilder einer kommenden Inflation, wie er das nannte, an die Wand und versuchte, ihnen Vieh und allerlei anderes zu verkaufen, solange die Papiermark noch einen gewissen Wert besaß. Von der Goldmark war nur noch in der Theorie die Rede.
Dabei war die schleichende Geldentwertung auch in Wulkersbach seit langem spürbar, aber deren Ende war nach Siegfrieds Meinung abzusehen. Die Preise würden sich spätestens nach der nächsten Ernte stabilisieren, und alles kam ins Lot. Außerdem brauchte man das Geld, um die lange Durststrecke bis zur Ernte oder wenigstens bis zum Verkauf des ersten Gemüses und Obstes zu überbrücken.
«Wir werden nicht verhungern», hatte Ferdinand abgewehrt. Irgendeine Idee war ihm im Kopf herumgespukt, doch er hatte mit niemandem darüber gesprochen.
Am Dienstag voriger Woche war er dann plötzlich verschwunden. Anfangs hatte das keinen beunruhigt. Er hatte so seine Eigenheiten, und dazu gehörte eine gelegentliche Abwesenheit. Nur Anni war noch verbissener herumgelaufen, als sie ihn nirgends finden konnte. Die Pferde hatten alle im Stall gestanden, kein Fuhrwerk hatte gefehlt. Also musste er sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben. Wohin? Erst am Abend hatten sie begonnen, sich das zu fragen, denn dass Ferdinand über Nacht ausblieb, war bis dahin kaum je vorgekommen.
Als er auch am Mittwochmorgen noch nicht heimgekehrt war und ihnen die Stallarbeit am Morgen alleine überließ, hatte sich allgemeine Unruhe ausgebreitet. Üblicherweise wurde beim Frühstück der endgültige Arbeitsablauf für den Tag festgelegt. An jenem Morgen hatten alle wie verlorene Kinder herumgesessen, bis sich Heinrich besonnen und das Kommando übernommen hatte.
Erst hinterher war Siegfried eingefallen, dass es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Er war der Nächste in der Rangfolge, nicht der Altenteiler Heinrich, der noch dazu auf die unpassende Idee gekommen war, beiläufig an die Uraltgeschichte vom Mord im Rauber zu erinnern.
«Auch damals haben sie auf den Vater gewartet und geglaubt, er wäre nach Altenburg gegangen …», hatte er düster gesagt, aber nur der kleine Gunther schien die Sache ernst zu nehmen.
«Wenn er nach Altenburg wollte, hätte er eine bessere Joppe angezogen», hatte Anni eingewandt.
Und Siegfried hatte geantwortet: «Kannst ja anspannen und nach Beiern fahren. Der dicke Schmiech wird sich erinnern, ob er ihm eine Fahrkarte verkauft hat.» Schmiech war der Bahnhofsvorsteher von Beiern-Langenleuba, der sechs Kilometer entfernten Station an der Bahnstrecke in die Kreisstadt.
Ferdinand war auch am Mittwoch nicht wiederaufgetaucht. Vergebens hatte Anni auf das Postauto gehofft, das gelegentlich Passagiere mitnahm. Ferdinand hatte es nicht benutzt.
In der Rose, die zugleich die Wulkersbacher Poststation und einen Kramladen für allerlei nützliches und unnützes Zeug beherbergte, hatte Anni ihre