bekam es nicht gleich zusammen. »Ja, also, dilabuntur kommt von … von … na, dilanbuntere.«
»Dieses Wort gibt es meines Wissen im Lateinischen nicht«, stellte Gedike fest.
Steinhauser war zu sehr Menschenfreund, um nicht helfend einzugreifen. »Denkt doch mal an dī-lābor, di-lābī, was auseinanderfallen oder zerfallen bedeutet.«
Mit dieser Hilfestellung schaffte Jahn nach einigen weiteren Irrwegen schließlich die richtige Übersetzung: »Durch Eintracht wächst Kleines, durch Zwietracht zerfällt das Größte.«
Das war nicht eben glänzend, und auch in der Mathematik blieb Jahn unter dem Niveau, das im Grauen Kloster als Mindestmaß galt. Gedike fragte sich, ob es bei der kargen Besoldung eines preußischen Pfarrers wirklich lohnte, für einen Sohn von diesem Format monatlich drei Thaler Schulgeld aufzubringen und dafür auf vieles zu verzichten. Nun, in Lanz hatte man sich die Sache sicher reiflich überlegt, und nur ein richtiger Schulabschluss öffnete einem jungen Menschen die Tür zu den preußischen Universitäten und damit das Thor zu einem erfolgreichen Leben.
»Nun, Jahn, vielleicht seid Ihr in der Theologie so firm, dass wir hinsichtlich Eurer offensichtlichen Mängel in den eben abgeprüften Fächer etwas nachsichtiger sein können.« Gedike überlegte einen Augenblick, um eine geeignete Frage zu finden. »Wie lautet die erste der 95 Thesen von Martin Luther?«
»Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ›Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‹, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.«
»Das kam ja überaus prompt«, lobte Gedike. »Wo finden wir in der Heiligen Schrift Passagen zum Thema Buße?«
Auch bei dieser Frage brauchte der junge Jahn nicht lange zu überlegen. »Ich denke zuerst an Matthäus, Kapitel 3, Vers 2: Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Oder auch an Markus, Kapitel 1, Vers 15: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium. Dann fällt mir noch die Apostelgeschichte ein, Kapitel 2, Vers 38: Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden.«
»Das ist phänomenal!«, rief Gedike begeistert. »Nun prüfen wir noch etwas Geschichte.« Damit wandte er sich an Steinhauser, dass der mit der Prüfung fortfahre.
»Wir wollen voraussetzen, lieber Friedrich, dass Ihr alle Kriege kennt, die Preußen geführt hat. Was aber hat unser österreichisches Brudervolk vor kurzem bewegt?«
Jahn zögerte keine Sekunde mit der richtigen Antwort. »Das war der Russisch-Österreichische Türkenkrieg von 1787 bis 1792.«
»Richtig. Und wer waren die Heerführer?«
»Grigori Alexandrowitsch Potjomkin bei den Russen, Sultan Abülhamid I. bei den Türken und Feldmarschall Laudon bei den Österreichern.«
»Sehr schön! Wer hat das Osmanische Reich schließlich gerettet?«
Jahn schmunzelte. »Unser König Friedrich Wilhelm II., indem er mit dem Sultan ein Bündnis geschlossen hat.«
Gedike kam das zwar ein bisschen verkürzt vor, dennoch zollte er dem Jungen die gebührende Anerkennung. »Nun, lieber Jahn, damit habt Ihr die Aufnahmeprüfung summa summarum bestanden und dürft Euch von nun an voller Stolz als Unterprimaner unserer Einrichtung betrachten.«
Friedrich Ludwig Jahn verfügte schon sehr früh über ein großes Selbstvertrauen. Er war nicht nur in hohem Maße von sich selbst überzeugt, sondern hatte darüber hinaus das Gefühl, am Ende einen Platz in den Geschichtsbüchern einzunehmen. Im Brief des Paulus an die Epheser stand: Er erleuchte die Augen eures Herzens, dass ihr erkennen möget, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid. Jahn glaubte fest daran, dass er vom Herrn dazu auserwählt war, Höheres zu schaffen. Deshalb ging er im Stillen davon aus, so vermessen und irrwitzig das für einen Menschen seiner Intelligenz auch war, dass man ihn in Berlin jubelnd empfangen werde, zumindest in den Hallen seines neuen Gymnasiums. Doch natürlich dachte niemand auch nur im Traum an eine solche Begrüßung. Ein bisschen empörte Jahn das schon. Als er seinem Freund Philipp Pulvermacher im ersten Brief vom grünen Strand der Spree andeutungsweise davon Kenntnis gab, antwortete der: Was willst Du eigentlich? Der erste Monat des Jahres ist doch schon nach Dir benannt worden, der Jahnuar.
Eine preiswerte Unterkunft hatte Jahn in der Stallschreibergasse, im Hause des Königlichen Akzisebeamten Karl Friedrich Klotz, gefunden. Von dort aus hatte er zwar ein ganzes Stück zur Schule zu laufen, war aber auch schnell im Grünen, auf den Schöneberger und den Rixdorfer Wiesen hinter dem Schafgraben, dem späteren Landwehrkanal.
Berlin imponierte Jahn, denn die Stadt war ein anderes Kaliber als Salzwedel, Wittenberge oder Wismar. Gleichzeitig nahm er ihr übel, dass sie von ihm so gar keine Kenntnis nahm. Nirgendwo hisste man eine Fahne für ihn, niemand hielt eine zu Herzen gehende Begrüßungsrede, und keine der Gazetten erwähnte ihn mit einer Zeile. Natürlich wusste er, dass er eigentlich ein unbeschriebenes Blatt war, dennoch spürte er eine tiefe Enttäuschung. Hätten nicht jetzt schon alle wissen müssen, was in ihm steckte? Aber bitte, brachte die Stadt ihm keinen Respekt entgegen, konnte sie von ihm auch keine Ehrfurcht erwarten!
Wie schon in Salzwedel, war die Schule für Jahn mehr Zuchthaus denn Vorbereitung auf die Alma Mater. Was ihm hier an geistiger Nahrung geboten wurde, hätte er sich auch privat und ohne jede Subordination aneignen können.
Das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster lag, wenig überraschend, an der Klosterstraße und blickte stolz auf über zweihundert Jahre Geschichte zurück. Am 13. Juli 1571 war es am Standort eines alten Franziskanerklosters, das Graues Kloster hieß, gegründet worden. Die Farbe im Namen erinnerte an das graue Gewand der Franziskanermönche. Nach dem Tod des letzten Mönches hatte der brandenburgische Kurfürst Johann Georg beschlossen, aus dem Kloster ein Gymnasium zu machen. Die Bildungsanstalt genoss einen ausgezeichneten Ruf und hatte vor einigen Jahren ein neues repräsentatives Schulgebäude erhalten.
Jahn fühlte sich in diesem Haus von Anfang an nicht wohl, weil er sich darin so klein und unscheinbar vorkam. In Lanz war er allgemein bekannt gewesen, in Salzwedel hatte er immerhin noch einiges Gewicht gehabt, hier aber ging er in der Masse unter. Unter diesem Umstand litt er wie unter einer Krankheit, denn sein Geltungsdrang war groß. Was blieb ihm anderes übrig, als alles zu tun, um aufzufallen?
Er lieh sich das Gewehr seines Wirtes aus und schoss damit am Floßgraben auf Wasserratten. Auch streunte er gern am Ufer herum und stieg noch im Oktober zum Schwimmen ins Wasser. Beides wurde dem Rektor hinterbracht.
»Jahn, das Schießen überlassen wir den Soldaten!«, belehrte ihn Gedike.
»Das ist ein Fehler«, entgegnete Jahn. »Wenn Preußen wieder einmal Krieg führt und Österreicher, Russen oder Franzosen auf unser Territorium vorrücken, dann haben wir größere Aussicht auf einen Sieg, wenn das Volk aus den Fenstern auf sie feuert. Die Amerikaner hätten ihren Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer niemals gewonnen, wenn die Bürger nicht so gut mit dem Gewehr vertraut gewesen wären.«
»Nun gut, zum zweiten Eurer Delikte. Ihr wisst, dass allen Schülern das Schwimmen im Floßgraben wie auch in allen anderen Gewässern wegen der gefährlichen Strömungen verboten ist!«, schimpfte Gedike.
»Das mag für die anderen zutreffen, aber nicht für mich. Ich bin ein so vortrefflicher Schwimmer, dass ich unertrinkbar bin.«
»Ein solches Wort gibt es in der deutschen Sprache nicht.«
»Dann sollten wir es einführen.«
Diese lakonische Bemerkung brachte Jahn den ersten Kerkeraufenthalt im Gymnasium zum Grauen Kloster ein. Er nahm ihn hin wie einen Ritterschlag. Die zweite Arreststrafe bekam er aufgebrummt, als er nicht über die Treppe in sein Klassenzimmer gelangte, sondern über das Fallrohr der Regenrinne, an dem er hinaufkletterte. So machte er sich langsam bei seinen Schulkameraden wie auch bei den Lehrern einen Namen. Den Pädagogen ging er allerdings mit seiner Haarspalterei wie seinem Hang zu langen Diskussionen auf die Nerven.