Horst Bosetzky

Turnvater Jahn


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Er kam aus Pommern, hatte in Göttingen und Halle Theologie und Philologie studiert, war längere Zeit durch Frankreich, England und Holland gezogen und hatte im Hause des Prinzen Ferdinand von Preußen als Hauslehrer gewirkt. Jetzt unterrichtete er die Fächer Griechisch und Hebräisch.

      »Warum müssen wir eigentlich Hebräisch lernen, Herr Professor?«, fragte ihn Jahn eines Tages.

      Spalding stöhnte auf. »Um zumindest das Alte Testament im Original lesen zu können.«

      Jahn ließ nicht locker. »Können wir der Schrift auf Hebräisch etwa etwas anderes entnehmen als auf Deutsch?«

      »In Nuancen schon.«

      »Und das lohnt die ganze Mühe?« Jahn schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns lieber mit der Sprache beschäftigen, in der unsere Vorfahren miteinander gesprochen haben, und Althochdeutsch lernen.«

      »Griechisch und Hebräisch gehören zum Kanon eines Bildungsbürgers«, betonte Spalding.

      »Wer legt das denn fest?«

      »Die geistige Elite eines Landes.«

      »Und zu der gehört auch Ihr?«

      Spalding war am Ende seiner Kräfte. »Das haben andere zu entscheiden. Und Ihr, Jahn, verbringt den Rest der Stunde auf dem Flur, damit ich meinen Unterricht ordentlich abhalten kann.«

      Jahns Feinde in der Unterprima freuten sich stets, wenn der Besserwisser der Klasse verwiesen wurde. Reinhold von Angereck, an sich ein Muttersöhnchen, fragte einmal, ob der Begriff Dummerjan auf seinen Klassenkameraden, den dummen Jahn, zurückzuführen sei. Jahn hatte das gehört und rächte sich, indem er dem Mitschüler unbemerkt glühende Kohlen in den Pelzmuff steckte. Als Angereck sich nur wenig später die klammen Finger in seinem Muff wärmen wollte, stieß er einen tierischen Schrei aus.

      Ein anderer Mitschüler, mit dem Jahn ständig in Fehde lag, war Robert Lankkord, Spross einer angesehenen Kunstgießerfamilie. Der hatte bis zu Jahns Auftauchen das Sagen gehabt, sah sich nun in seiner Rolle als Anführer gefährdet und hetzte gegen den Neuen, wo immer es ging. »Die Urmenschen sind zurück!«, tönte er auf dem Schulhof. »Friedrich Ludwig Jahn ist da!« Oder er fragte die anderen: »Was ist der Unterschied zwischen Jahn und Janus? Janus hat zwei Gesichter, Jahn gar keins, der hat nur ’ne Visage.« Das französische Wort für Gesicht war bei den Berlinern seit der Einwanderung der Hugenotten langsam zu einem Synonym für dumme Fresse geworden. »Beim Jahn merkt man schon am Geruch, dass er frisch aus’m Stall kommt«, wiederholte Lankkord des Öfteren. Auch regte er einen Schüler der unteren Klassen, der für seine künstlerische Begabung bekannt war, dazu an, Jahn als Gorilla zu zeichnen. Dessen Name war Karl Friedrich Schinkel. Jahn verzichtete darauf, ihn zu verprügeln, denn an Jüngeren und Schwächeren vergriff er sich nicht. Aber Robert Lankkord sollte nicht ungeschoren davonkommen.

      Jahn dachte lange darüber nach, womit er ihn treffen konnte. Mehrere Tage lang wartete er vergeblich auf einen Einfall. Die Streiche, die er in Salzwedel ausgeheckt hatte, ließen sich in Berlin nicht ohne weiteres wiederholen. Was ihn schließlich weiterbrachte, war eine gewisse Unpässlichkeit seines Quartiersgebers, des Königlichen Akzisebeamten Karl Friedrich Klotz. Den hatte er schon seit Tagen mit einem verkniffenen Gesicht herumlaufen sehen. »Was ist Euch eigentlich widerfahren?«, fragte er schließlich.

      »Eine Obstipation.«

      »Habt Ihr verdorbenes Obst gegessen – jetzt, im Winter?«

      Klotz quälte sich ein Lächeln ab. »Eine Obstipation ist eine ganz gewöhnliche Verstopfung. Ich gehe heute noch zum Arzt und hole mir ein Pülverchen.«

      Das Mittel war von einer solch durchschlagenden Wirkung, dass er es kaum auf den im Hof gelegenen Abort schaffte. Es war auch noch die Hälfte davon übrig. Diesen beträchtlichen Rest des Abführmittels konnte sich Jahn ohne große Mühe verschaffen. Jetzt musste er nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten, um es Robert Lankkord unbemerkt ins Essen zu schütten. Als ein Teil der Unterprima, unter ihnen Jahn als Pfarrerssohn und Lankkord als Klassenprimus, zum Berliner Hofprediger und Oberkonsistorialrath Friedrich Samuel Gottfried Sack eingeladen wurde, war es so weit. Bei einer einfachen, aber liebevoll zubereiteten Mahlzeit sollte über den Schulalltag, die Zukunftspläne jedes Einzelnen und ganz allgemein über Gott und die Welt geplaudert werden.

      »Ob der alte Sack auch zu Tisch gebeten wird?«, hatte Jahn gefragt, und Spalding hatte ein böses Gesicht gemacht, ihn aber für diese Worte nicht bestrafen können, denn auch Sacks Vater war Hofprediger gewesen.

      »August Friedrich Wilhelm Sack ist bereits 1786 vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt worden.«

      Als Entree wurde eine Bärlauchsuppe aufgetragen. Die duftete so verführerisch, dass die Jungen kaum das Ende des Tischgebets abwarten konnten, um zum Löffel zu greifen. Doch kaum hatten sie ihn zum Munde geführt, drangen von der Straße her Hochrufe ins Zimmer.

      »Der König kommt vorüber!«, rief Sack, und alles eilte ans Fenster.

      Da war der Moment gekommen, in dem Jahn seinem verhassten Mitschüler unbemerkt das Abführmittel ins Essen schütten konnte. Schnell verrührte er es. Als Lankkord seine Bärlauchsuppe ausgelöffelt hatte, verspürte er ein heftiges Bauchgrimmen und schaffte es, auch wegen der fremden Umgebung, nicht mehr bis auf den Abort. Obwohl ihm die Dienstboten bei der Säuberung seiner Hose behilflich waren, ließ sich eine gewisse olfaktorische Nachwirkung nicht ganz vermeiden.

      »Riechst du nun eher nach Kuh- oder eher nach Schweinestall?«, fragte ihn Jahn. Er war auf diesen Streich sehr stolz und erzählte gleich am darauffolgenden Tag seinem Freund Philipp Pulvermacher davon, der mit seinem Vater nach Berlin gekommen war, um den siebzigsten Geburtstag eines nahen Verwandten zu feiern. »Ist das der Geburtstag des reichen Bierbrauers?« Jahn hatte schon ein paar Mal von dem Mann gehört.

      »Ja, Onkel Joachim Friedrich feiert, der ältere Bruder meines Vaters. Die beiden sind sich nicht besonders grün, mich aber hat er in sein Herz geschlossen.«

      Die beiden Freunde redeten nun über ihren Schulalltag.

      »Hast du mit den Lehrern hier in Berlin weniger Zank als mit denen in Salzwedel?«, wollte Philipp Pulvermacher wissen.

      »Eigentlich nicht«, musste Jahn gestehen.

      Wenig später gelang es ihm sogar, auch Franz Steinhauser zu verärgern, der bislang immer auf seiner Seite gestanden hatte.

      »Wir schreiben das Jahr 1795 seit Christi Geburt«, begann Steinhauser, als es um das Thema eines Aufsatzes ging, der an diesem Vormittag zu schreiben war. »Bis heute hat es auf der Welt schon viele große Männer gegeben.«

      »Die Frauen nicht zu vergessen!«, rief Jahn dazwischen. »Zum Beispiel Maria, die Mutter unseres Herrn Jesus Christus. Oder die Königin Dido, die Karthago gegründet hat. Kleopatra, Hildegard von Bingen, Katharina die Große … «

      Steinhauser blieb ruhig. »Danke für die Belehrung, Jahn! Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das Euren Mitschülern bei der Wahl ihres Vorbildes hilft. Das Thema unseres Aufsatzes lautet: Welcher große Mann wärt Ihr gern gewesen? Mit Begründung!«

      Das löste schallendes Gelächter aus, und Jahn war blamiert. Er überlegte, ob er nicht Maria Theresia nehmen und schreiben solle, er habe in geheimen Unterlagen gelesen, dass sie eigentlich ein Mann gewesen sei, ließ es dann aber, weil er Steinhauser eigentlich gern hatte. Als er auf die Konzeptblätter der anderen sah, konnte er die Namen des Philosophen Sokrates, des Feldherrn Miltiades und des Königs Friedrich des Großen lesen. Aber das gefiel ihm alles nicht. Ich bin ich, dachte er, das reicht vollkommen. Ich will mir nicht vorstellen, ein anderer zu sein. Und so schrieb er statt eines langen Aufsatzes mit vollständiger Gliederung nur einen Satz auf sein Blatt: Ich kann und will diese Wahl nicht treffen, weil darin ein moralischer Selbstmord liegt.

      Franz Steinhauser musste den ganzen Abend darüber nachdenken, was Jahn wohl damit gemeint hatte. Wenn jemand von Selbstmord sprach, schreckte er ein jedes Mal auf, zu deutlich stand ihm Goethes Werther vor Augen. Friedrich Ludwig Jahn war zwar seines Wissens nicht unsterblich in eine Frau verliebt,