Hans-Hermann Diestel

Weiberröcke und Leichen


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vor allem die Schiffsführung, auf keinem höheren Niveau. Der Kapitän wurde von der Reederei völlig zu Recht zum Ersten Offizier degradiert. Vielleicht ist ihm in einer ruhigen Minute der Spruch unserer Vorfahren En Schipp oewer See to bringen, dor hüürt väl to eingefallen. Seine Seemannschaft reichte jedenfalls dafür nicht aus. Die erst acht Jahre alte Bark brachte auf einer außerordentlich langen Reise von 192 Tagen Kohle von Sunderland nach Valparaiso. Am 19. Dezember 1885 versegelte sie nach Tonala am Golf von Tehuantepec. Unterwegs übernahm sie in Callao noch 300 t Steine als Ballast, die weder durch Längs- noch durch Querschotten gesichert waren. So etwas konnte nur ein außerordentlicher Dummkopf oder ein Lebensmüder machen. 260 sm vor dem Bestimmungsort warf der Erste Offizier eigenmächtig Ballast aus der sich an Backbord befindenden Ballastpforte. Wenn es dunkel wurde, schloss der Erste sie, dichtete sie aber nicht ab. Dadurch drang Wasser ein und der Ballast ging über. Erst nach drei Wochen wurde die Pforte wieder abgedichtet. Am 13. Januar hatte man sich bis auf 80 sm Tonala genähert, wurde aber durch flaue Winde abgetrieben. Am 25. Januar sichtete man zum ersten Mal die Küste und am 30. hatte man sich bis auf sechs Seemeilen dem Ziel genähert. Der Wind frischte auf und am 4. Februar waren es sieben bis acht Seemeilen bis Tonala. Am nächsten Tag hatte man sich dem Land so weit genähert, dass das Schiff mit einem Boot davon wegbugsiert werden musste. Am 7. Februar stürmte es, der Ballast löste sich. Das Schiff wurde vor den Wind gebracht und war am 8. Februar über 260 sm vom Ziel entfernt. Als sich Sturm und See legten, wollte man Acapulco zur Reparatur anlaufen. Nachdem der Kurs für kurze Zeit geändert worden war, wollte der Kapitän auf einmal Guayaquil ansteuern. Er wollte wohl unbedingt Napoleons Spruch Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit bestätigen. Mit NO-Wind segelte man nun nach Süden. Es setzte der S-Passat ein und der Kapitän segelte mit ihm bis zum 22. Februar nach Südwest. Dann entdeckte die Besatzung, dass die Wassertanks leck gesprungen waren. Da sie befürchtete, dass das Wasser knapp werden könnte, wurde der Kurs nach Hawaii abgesetzt, wo man am 24. März in Honolulu einlief. Die Besatzung hatte die Nase endgültig voll und verweigerte die Weiterreise. Das wurde damals als Meuterei eingestuft, woraufhin der Konsul die gesamte Mannschaft ins Gefängnis brachte. Die Mannschaft begründete ihre Haltung damit, dass der Schiffer Groth nachts nicht an Deck gewesen wäre, der Erste häufig auf seiner Wache geschlafen hätte usw. Irgendwann kamen die „Lords“ wieder aus dem Gefängnis, was einige nutzten, um zu desertieren. Ein amerikanischer Kapitän brachte das Schiff nach San Francisco, wo es ein neuer, von Hamburg geschickter Kapitän übernahm. Der vorherige „Alte“ blieb als Erster Offizier an Bord und der vorherige Erste wurde gefeuert. Nicht umsonst hatte Harry Morton in seinem Buch „The Wind Commands“ geschrieben: Genaue Navigation war für den Tiefwasser-Seemann auf allen Ozeanen wichtig. Aber auf dem Pazifik war sie durch seine Größe, die selbst die Breite des Atlantik unbedeutend erscheinen lässt, lebenswichtig. Aber selbst auf dem weniger großen Atlantik konnten die Seeleute böse Überraschungen erleben. 1957 berichteten die Schifffahrtszeitungen „De Zee“ und „Hansa“ über einen ungewöhnlichen Seeunfall. Im Februar 1956 strandete ein neuer Tanker rund 200 sm von seinem Loggeort. Hätte sich die Besatzung an den Spruch Der Pessimismus der Überlegung ist die Vorbedingung zum Optimismus der Tat gehalten, wäre ihr zweifellos in den Sinn gekommen, dass ein Kompass versagen kann. Dagegen hilft immer die optimistische Tat der Kompasskontrolle, die der Kapitän angewiesen, die aber nicht einer seiner drei Wachoffiziere durchgeführt hatte. Anscheinend kannte der Kapitän auch Lenin nicht, von dem der folgende Spruch stammen soll: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die unterlassene Kontrolle dürfte der Kapitän bereut haben. Das Schiff verließ den Delaware River und begab sich auf die Reise nach Südamerika. Gegen Mittag wurde letztmalig ein Schiffsort festgestellt und das Schiff auf den Kurs von 118 Grad eingesteuert. Zehn Minuten später gab es in der Übertragung der Signale vom Mutter- auf die Töchterkompasse eine unbemerkt gebliebene Unterbrechung. Nach einer Viertelstunde setzte die Übertragung, ebenfalls unbemerkt, wieder ein. Der Rudergänger hatte zwar mit Verwunderung bemerkt, dass das Schiff die ganze Zeit eisern auf dem Kurs von 118º lag, dies aber nicht seinem Wachoffizier gemeldet. In der Viertelstunde änderte sich der Kurs des Schiffes um 111º. Die Kreiseltochter am Ruder nahm ihren Dienst mit 118º wieder auf, steuerte aber in Wirklichkeit 7º. Dieser Kurs führte sie direkt auf Fire Island, das der Insel Long Island bei New York vorgelagert ist. Am Tage hatte man durch das verhangene Wetter, das die Sonne verdeckte, die Kursänderung nicht bemerkt. In der Nacht müssen die Wachen tief und fest geschlafen haben, denn es wurde nicht vermeldet, dass die US-Küste an dieser Stelle abgedunkelt gewesen wäre. Um 1.50 Uhr in der Nacht kam dann das große Erwachen und beendete alle Träume vom schönen Südamerika.

      Die Beachtung des lateinischen Seemannsspruches

       Glücklich, wen fremde

       Gefahren vorsichtig machen

      hätte viele Seeunfälle sowohl früher als auch heute verhindern können. Außerdem haben die Seeleute nicht umsonst über Jahrhunderte das Wetter beobachtet und ihre Beobachtungen den mit Wind, Wetter und Strom beschäftigten Instituten, wie der Deutschen Seewarte von 1875 bis 1945, zugeschickt, damit diese sie verallgemeinern und den Seeleuten in Segelanweisungen und Monatskarten zur Verfügung stellten. Diese Daten, neben den aktuellen Wetterberichten, sind wichtige Grundlagen für die Reisevorbereitung einschließlich des zu wählenden Kurses. Das galt auch für das 2001 in Hamburg von Blohm & Voss gebaute Kreuzfahrtschiff EXPLORER, das gelegentlich schon Warnemünde angelaufen hat. Es befand sich im Januar 2005 auf der Reise von Vancouver nach Hakodate auf dem Nordpazifik. Am 23. Januar hatte die EXPLORER bei Bft. 8 schon leichte Seeschlagschäden erlitten. In der Nacht vom 26. zum 27. des Monats geriet es mit 681 Studenten, 113 zum Lehrbetrieb gehörenden Personen und 196 Besatzungsmitgliedern südlich der Aleuteninsel Adak in sehr schweres Wetter (Bft. 9 – 10). Mehrfach kam es zu kleineren Schäden. Um sie zu beseitigen und um die Lage des Schiffes zu verbessern, wurde der Kurs zeitweise von 285º auf 30º und auf 80º geändert. Nachdem der Kurs am frühen Morgen auf 240º geändert worden war, wurde das Schiff durch zwei Wellen von etwa 16 m Höhe getroffen.

       Die EXPLORER in Warnemünde

       Vergleich der Höhe der Brücke zwischen der EXPLORER und der QUEEN VICTORIA

      Sie schlugen die Fenster der Brücke ein und fluteten die Schiffsführungszentrale, als das Schiff mit 7 Knoten gegen die See anging. Durch das eingedrungene Wasser kam es zu einem Kurzschluss und einem zeitweiligen Ausfall der Maschinen. Der Kapitän ließ den Notruf „Mayday“ senden und löste den Generalalarm aus. Alle Personen an Bord versammelten sich mit ihren Rettungswesten an den Bootsstationen. Mit Hilfe von Reserveanlagen konnte das Schiff seine Reise wieder aufnehmen, den Kurs ändern und mit 14 kn in Richtung Hawaii laufen. Die Untersuchung des Seeunfalls erinnerte daran, dass das Schiff für das Mittelmeer und nicht für Winterreisen auf dem Nordatlantik oder Nordpazifik gebaut worden war. Der Kapitän des Schiffes, das eher an eine Jacht als an ein für schweres Wetter gebautes Passagierschiff erinnert, hatte einen für die Jahreszeit zu nördlichen Kurs gewählt. Seine miserable Reisevorbereitung führte das Schiff in das Gebiet mit den durchschnittlich höchsten Wellen auf den Nordpazifik. Das hätte er, wenn er die amerikanische Pilot-Chart für den Nordpazifik studiert hätte, erkennen können und erkennen müssen. Der chinesische Philosoph Laotse hat nicht umsonst gesagt: Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Das gilt ganz besonders für die Reisevorbereitung. Heute wird diese Aufgabe meistens dem Zweiten Offizier übertragen. Der Kapitän soll dann den in die Seekarte (Papier oder elektronisch) eingetragenen Kurs kontrollieren und sanktionieren. Solange mir die Rotation des Schiffes genug Zeit für diese Aufgabe gewährte, habe ich sie immer selbst erledigt. Das deshalb, weil dies einerseits eine wichtige Aufgabe ist und sie mir andererseits Spaß gemacht hat.

      Dies hat der Kapitän der RENA, die der griechischen Reederei Costamare gehörte und 1990 als ZIM AMERICA in Kiel gebaut worden war, offensichtlich anders gesehen. Das Containerschiff, das 236 m lang war und 3351 TEU befördern konnte, befand sich am 5. Oktober 2011 auf der Reise von Napier nach Tauranga in Neuseeland, als es um 2.20 Uhr in der Bay of