Margot Wilke

Schulzeit – eine Zeit schöner Erlebnisse?!


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herausquetschen: „Entschuldigen sie, ich habe verschlafen“ oder „Meine Mutter hat mich nicht geweckt.“ Was sollte es denn auch sonst sein? Und das jahraus und jahrein!

      Da fällt mir ein Schüler vergangener Jahre ein, der ständig morgens zu spät kam, aber jedes Mal eine andere Entschuldigung hatte. Fehlte er zu Unterrichtsbeginn, war die gesamte Klasse auf seine Ausreden gespannt. So auch eines Morgens. Der Ordnungsschüler meldete, dass er fehle und ergänzte, da er ihn immer abhole, dass niemand gehört und er einige Male geklingelt hätte.

      Der Unterricht begann. Nach längerer Zeit wurde langsam und leise die Tür geöffnet und er schob sich langsam mit dem Kopf zuerst, dann schrittchenweise herein. Die Spannung erhöhte sich, was kommt jetzt? „Entschuldigen sie mein zu spätes Kommen, aber ich bin am Fernseher eingeschlafen.“ Unterdrücktes Kichern in der Klasse. „Wieso sitzt du am frühen Morgen schon am Fernsehgerät? Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Eltern das erlauben?“

      „Ich, ich, ich habe die Olympischen Spiele geguckt und die werden doch bis morgens früh gesendet. Meine Mutter hatte mich geweckt, aber danach bin ich doch noch einmal vor dem Fernseher eingeschlafen!“

      Was sollte ich dazu noch sagen?

      Diese Episode vergangener Tage regte mich zu Folgendem an: Die nächste Schlafmütze gab mir die Gelegenheit. „Tschuldigense, hab verschlafen!“

      „Wenn euch nichts Besseres einfällt als abgedroschene Entschuldigungen zu stammeln, trage ich euch in Zukunft in das Klassenbuch ein. Ich akzeptiere nur noch solche Ausreden, die etwas aussagen und vom Sinn her möglich sein könnten.“ Hier nun einige Beispiele von einfallsreichen Schülerphantasien:

      „Entschuldigen sie meine Verspätung,

      - als ich die Haustür aufschloss, brach der Schlüssel ab.

      - ich kam nicht raus, meine Mutter hatte den Schlüssel zur Arbeit mitgenommen.

      - ich musste meinen Opa ins Krankenhaus bringen, er war vom Fahrrad gefallen.

      - meine Mutter hat aus Versehen meine Schultasche mit zur Arbeit genommen.

      - bei uns war ein Rohrbruch und ich kam nicht aus der Haustür heraus.

      - meine Mutter hat mich eingeschlossen.

      - ich habe meine Lehrbücher nicht gefunden (er brauchte keine, denn es waren Klassensätze vorhanden).

      - bei meinem Fahrrad ist der Rahmen durchgebrochen.“

      „Deine Mutter hat doch auch eins!“

      „Da war der Rahmen auch gebrochen!“

      - ein Auto hat mich angefahren und ich musste erst medizinisch versorgt werden.

      - unserer Nachbarin ist der kleine Junge aus dem Kinderwagen gefallen. Ich habe ihr erst geholfen.

      - bei der Kaufhalle hat ein Lieferwagen die Kohlköpfe verloren. Da kam ich nicht vorbei und musste einen Umweg gehen.

      - ich habe keine Unterrichtsbücher mit dabei, ich wusste nicht, dass ich noch am Unterricht teilnehme werde.“ (Die Schülerin hatte einen Arztbesuch und kam zur 6. Stunde)

      Ich habe hier nur einige Beispiele genannt.

      Mit Beginn des Schulweges mussten die Langschläfer nachdenken und somit war ihre Müdigkeit vergessen. Originell und glaubhaft wollte ich die Entschuldigung haben.

      Und das Ergebnis? Wenn einer zu spät kam, wurde die Klasse munter und erwartungsvoll. Durch diese skurrilen Ausreden kam frischer Wind in die mufflige Morgenstimmung und der Unterricht konnte heiter beginnen.

      Ich aber konnte nur hoffen, dass das Erfinden der verrückten Ausreden nicht zu Verspätungen animierte.

      Es bringt auch Vorteile, wenn sich der Lehrer bei bestimmten Situationen den Schülern einmal anpasst.

      Der Schulalltag beginnt mit dem Schulweg. Dieser war für Schüler und Lehrer sehr lang.

      Bis 1976 war unsere Schule auf drei Ortsteile aufgeteilt. Der mittlere Ortsteil, zentral gelegen, war für die erste bis vierte Klasse vorbehalten. Die fünfte und sechste Klasse besuchte den 2,5 Kilometer entfernten Ortsteil und die siebente bis zehnte Klasse den 2,5 km entfernten anderen Ortsteil. So legten die Schüler ab fünfter Klasse täglich einen Schulweg von fünf Kilometer zurück, also täglich zehn Kilometer. Dies bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte, bei Sturm und Regen – jahrein und jahraus. Wen wundert es, wenn zu Schulbeginn in der begehrten Zuckertüte auch eine Regenbekleidung zu finden war. Abgehärtet durch Wind und Wetter waren unsere Kinder immer gesund. Stellten andere Schulen ihren Lehrbetrieb wegen Grippeerkrankungen ein, wir nicht. Allerdings wiederum zum Ärger unserer Kinder, die dadurch nicht in den Genuss zusätzlicher Ferientage kamen. Aber auch die Lehrer, die Fachunterricht erteilten, gingen diesen Weg, allerdings in den Pausen. In zwanzig Minuten mussten sie diesen Weg nicht gehen, sondern hetzen.

      Dieser Schulweg war kein gewöhnlicher Schulweg. Er führte zum größten Teil durch eine reizvolle Landschaft. Nicht nur der jahreszeitliche Wechsel war zu erleben und die Pflanzen- und Tierwelt kennen zu lernen. Nein, der kleine Bach, der sich durch die Wiesen schlängelte, bot viele Möglichkeiten für wagehalsige Unternehmen und ließ den Schulstress schnell vergessen.

      Meine Gedanken wandern noch einmal diesen Weg. Erinnerungen werden wach.

      Nach kurzer Wegstrecke führte der Weg über die Werrabrücke. Das Ufer an den äußeren Brückenpfeilern war damals von einem dichten Erlengebüsch überwuchert. Manch ein Passant wird sich über die zartblauen Nebel gewundert haben, die aus dem Erlengestrüpp aufstiegen. Ein Naturphänomen?

      Doch nach kurzer Zeit krochen einige Bengel mit fahlem Gesicht und Bauchschmerzen hervor. Andere kamen nicht so weit. Ihr Mageninhalt war schneller und etliche Büsche wurden wohl gedüngt. Ihre ersten Zigaretten hatten ungeahnte Wirkungen zur Folge.

      Von der Brücke biegt ein Weg ab und eine unendlich schöne Landschaft breitet sich aus – die endlosen Wiesen des Werratals und am Horizont der Thüringer Wald.

      Jeder Tag ein anderer eindrucksvoller Anblick. Aber blühende Wiesen und die dort lebenden Tiere kümmerten wohl kaum. Eine Baustelle reizte viel mehr. Das versprach Abenteuer pur. Große Geräte und tiefe Löcher lockten mehr als Blumen und Vögel.

       Der Mutsprung

      Am Wasserwerk wurde gebaggert. Einsam und verlassen stand der Bagger am Wegrand. Niemand in Sicht, Verbotsschilder interessierten nicht, die Absperrung war kein Hindernis.

      Die jungen Techniker besichtigten ihn eingehend, kletterten auf das schwere Gerät, begutachteten und fachsimpelten. Jeder wusste mehr und prahlte mit seinem Wissen. Die Neugier war befriedigt. Doch dann entdeckten sie die tief ausgebaggerten Löcher, voll mit gelblich-trüben, lehmigen Wasser. Jetzt erwachte der sportliche Instinkt. Diese Löcher überspringen. Das war es! Die Technik des Anlaufs war aus dem Sportunterricht bekannt. Die Weite wurde abgeschätzt und für möglich befunden. Die gelb-braune Brühe war kein Hindernis. Der Sportlehrer hätte bei diesen Weitsprungversuchen seine wahre Freude gehabt. Einer nach dem anderen schaffte es und die Sprünge wurden immer wagehalsiger. Nur einer stand abseits - der Kleinste der Gruppe. Mit dem Ranzen auf dem Rücken stand er und staunte, wie alle ihre Sprünge bewältigten. Dann bemerkten ihn die anderen. Sie forderten ihn zum Sprung auf. Aber er traute sich nicht und Hänseln war die Folge. Jetzt war er der Mittelpunkt. „Los!“

      „Spring doch!“

      „Traust dich wohl nicht?“

      „Du schaffst es!“

      „Memme!“

      „Feigling!“ Pausenlos drangen diese Aussagen an sein Ohr. Feigling? Nein, das wollte er nicht sein.

      Immer noch den Ranzen auf dem Rücken, nahm er Anlauf. Zögerte! Noch einmal Anlauf! Und wieder ein Zögern, diesmal den Spott im Rücken. Noch einmal Anlauf! Ein Sprung! Er war im Loch verschwunden. Er war komplett verschwunden. Er war weg! Nichts mehr