Johannes Fischler

New Cage


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alles probiert, Urlaub machen, Bier trinken, meditieren oder sonstige Formen des Loslassens. Aber dieser klobige Elefant steht mitten in Ihrer Wohnung und geht von alleine nicht mehr weg. Außerdem versperrt er Ihnen die Sicht auf die wundervollen Tiroler Berge da draußen.

      Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie greifen zur Machete, beginnen das Ungetüm zu filetieren. Hieb um Hieb und Stück für Stück. Das Ergebnis dieses Prozesses bekommen Sie nun serviert, in Buchform, häppchenweise Seite für Seite. Mein Beweggrund war also purer Leidensdruck. Psychohygiene auf eine ganz eigene Art. Triebfeder Geld? Mal ganz unter uns: Gitarre spielen in der Fußgängerzone ist nicht nur lustiger, sondern auch ungleich lukrativer!

      Esoterik, die ich meine

      Sie umschreibt nicht unbedingt die Welt der Wünschelruten, Wasserbelebung oder Mondphasenkultivierung. Schließlich wird hier immer noch, mal mehr, mal weniger, so etwas wie Verstand angesprochen. Natürlich erweisen sich die dahinter verborgenen Weltsichten und Argumentationen bei näherer Betrachtung oft mehr als scheinlogisch und kurios, dennoch denken die Praktizierenden hier nach wie vor irgendwie mit. Der Vorwurf des Unwissens steht natürlich noch im Raum, doch dieser relativiert sich in Anbetracht einer hyperkomplexen Welt. Wer kann und will schon immer alles wissen?

      Nein, die Esoterik, die ich meine, besticht durch eine ganz andere Wirkmacht. Die Rede ist vom magischen Sog abstrusester Entwürfe. Verbunden mit einer fahrplanmäßig inszenierten Dramaturgie ziehen diese ihre Opfer in einen verhängnisvollen Bann und lassen sie nicht mehr los. Das Resultat prägt die eigentümliche Ästhetik esoterischer „Fachzeitschriften“. Sie zeugt vom vollständigen Aufgehen in fiktiven Wirklichkeiten oder schlicht von Absorption. Bilder und Figuren, wie wir sie eher aus Stephen-King-Verfilmungen kennen. Auf die gleiche Weise rufen auch die Verkaufsstände diverser „Bewusstseinsmessen“ tiefste Mulmigkeit hervor. Und wenn man sich nur ein klein wenig mit der deutschen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat, wird’s bei den da wie dort plakatierten Symboliken nicht besser. Bedenklichste Ideologien, neu und kuschelig verpackt. Nettigkeit, wie sie herzloser nicht sein könnte. Ich spreche von „Hardcore-Esoterik“ – um diese geht es hier.

      Was ist Spiritualität?

      Keine Angst. Sie können, sofern das ihrem Naturell entspricht, weiterhin meditieren, hyperventilieren oder meinetwegen dem Schwitzhüttenzauber frönen. Spirituelle Praxis an sich ist nicht das Problem. Aber vorab gleich eine Bitte: Bemerken Sie, dass Ihre bewusste Entscheidung, dies oder jenes zu tun, (hoffentlich) Ihrer Ratio entspringt. Bedenken Sie dabei auch, dass die Freiheit, es überhaupt tun zu können, einer rationalen, toleranten Umgebung bedarf. Noch vor einigen Jahrhunderten hätte man uns für unser kultisches Treiben ganz einfach verbrannt.

      Gewiss, Allverbundenheit ist etwas Wunderbares. Doch wird sie uns von nichts und niemandem geschenkt – wir öffnen uns ihr. Je nachdem wie wir die Dinge benennen, treiben sie uns entweder in die Enge oder eröffnen uns Möglichkeiten zu mehr Freiheit. Der gravierende Unterschied besteht nämlich in der Interpretation sogenannter „spiritueller Erfahrungen“: Sie entscheidet darüber, welches Weltbild wir uns schlussendlich einkaufen. Ist es ein magisches mit unzähligen Energien da draußen, die uns entweder wohltun oder piesacken, oder ist es ein rationales, das es uns erlaubt, unerschrocken und einigermaßen nüchtern auf die Welt und Mitmenschen zuzugehen?

      Für mich persönlich birgt Beethovens „Neunte“ eine transformierende Kraft. „Seid umschlungen Millionen“, Liebe zur Menschheit und zum Dasein an sich. Wer spirituelle Empfindungen aber flatterhaften Feen und Elfen zuschreibt, erntet bestenfalls den Weitblick eines Fünfjährigen.

      Noch mehr zur Ratio

      Ratio bedeutet für mich mehr als bloß verkopftes Gedankenkreisen. Unter einer rationalen Perspektive verstehe ich eine Weltsicht, die nicht nur größeren Handlungs-, sondern vor allem auch Empathiespielraum bereitstellt. Wesentlich umfassender als beispielsweise innerhalb einer mythologischen Seinswirklichkeit, wo immer nur mein eigener Gott den Wahren und Einzigen markiert. Hieraus resultiert ein Mehr an interkulturellem Verständnis, mehr Sinn für Natur und Umwelt und weitreichendere Anerkennung anderer Bewohner dieses Planeten als Mitmenschen – also weniger ideologischer Separatismus als umfassenderes Verständnis füreinander.

      Die Ratio geht also über das bloße Messen von Gehirnströmen hinaus. Sie birgt in sich ein eigenes Weltempfinden, das meines Erachtens wert ist, erschlossen zu werden. Gedanken fassen vormals noch Diffuses in Worte. Worte machen Erfühltes reflektier- und nicht zu vergessen kommunizierbar, schaffen also Kultur. Zur Wirkung kommt hier das dialogische Prinzip. Der rationale Weltenraum schafft dabei eine Art Kommunikationsrahmen, innerhalb dessen auch anderen Weltsichten Respekt zuteil wird. Ein so geteiltes Miteinander bringt einen Zuwachs an gegenseitigem Weltverständnis.

      Und, wenn Sie so wollen, auch Mystik bietet das rationale In-der-Welt-Sein. Nur gilt es, diese auch freizulegen. Sich der eigenen Erkenntnisfähigkeit zu öffnen mag zwar etwas Radikales an sich haben, doch findet sich hierin eine ganz eigene Art der Inspiration. Unsere Kulturleistungen diesbezüglich sind enorm, man muss nur den Mut und vor allem die Muße haben, sich darauf einzulassen. Also keine Panik! Rationale Menschen leben nicht zwangsläufig auf einem ausgetrockneten, kahlen Wüstenplaneten. Auch Verfechter der Rationalität verlieben sich. Was Ratio aber schlussendlich ausmacht, kann und will ich Ihnen nicht definitiv beantworten, ich finde es selber jeden Tag aufs Neue heraus. Manchmal ist es ungewohnt und befremdlich, meistens aber befreiend.

      Über Rausch und Trance

      Um es hier gleich vorwegzunehmen: Trancezustände und außeralltägliche Bewusstseinserfahrungen erachte ich als wichtig. In vernünftigen Dosen eingesetzt ermöglichen sie eine Relativierung starrer Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster und eröffnen einen Zugang zu einem Lebensgefühl, fernab von „mein Haus, mein Auto und meine Bank“.

      Mein persönlicher Zugang zu Dimensionen des Nicht-Verstandesmäßigen hingegen bedient sich eher der Ressourcen unseres Kulturkreises. Von Schuberts „Unvollendeter“, Karajan, über berauschende Bergwanderungen bis hin zu Jimi Hendrix: Jeder hat hoffentlich seinen eigenen Zugang! Doch kann ich auch nachvollziehen, dass mitunter auch andere Kulturkreise einen Weg zu neuen Sichtweisen eröffnen. Ja, oft entsteht hieraus auch ein fruchtbarer interkultureller Dialog und das können wir sicher brauchen.

      Vom Gefängnis des Ich in die Tyrannei des Selbst

      Doch abseits einer Überhöhung unserer Breitengrade sprechen wir hier auch vom selben Kulturkreis, der das Ekstatische seit mehreren Jahrzehnten immer massiver in seine Schranken weist. Soziologen orten eine „Überprivatisierung“ unserer Gesellschaft. Gemeint ist eine Leitkultur, in der jeder nur mehr er selbst sein soll, ja viel eher, regelrecht er selbst sein muss. Damit verbunden ist ein unhinterfragter Authentizitätskult, mit welchem wir jedem Freiraum entsagen, auch einmal jemand anderer sein zu dürfen. Starr und eingeengt im unverfälschten „wahren Selbst“ wird jedes Ausbrechen zum gesellschaftlichen No-Go.

      Dabei avanciert die Verwirklichung des sogenannten „Selbst“ zur alles dominierenden Religion. Ob am Jakobsweg, beim Spirit Dance oder beim Tantra-Sex: Urlaub, Tanz oder Liebesspiel – alles nur mehr im Namen und auf Rechnung des Selbst. Der Philosoph Robert Pfaller betont in diesem Zusammenhang auch die Übervertrautheit, welche wir von unseren Beziehungen abverlangen. Andere nennen sie die „Tyrannei der Intimität“ [11]. Im Zuge dessen führt dieser Zwang, immer wahr und unverfälscht zu sein, schnell auch in eine wechselseitige Zementierung. Denn wir nehmen einander so jedweden persönlichen Entfaltungs- oder besser Spielraum.

      Nehmen wir hier nun einen weiteren unhinterfragten Wert, nämlich „Gesundheit“ hinzu, dann erhalten wir eine mitunter fatale Mischung. Persönliches Wohlbefinden als höchstes Gut, verbunden mit der Verpflichtung zu permanenter Authentizität, machen uns hypersensibel und intolerant zugleich. Sie wirken mit an der Etablierung einer neumodischen Verbotskultur, welche Großstädte in George-Orwell-Utopien verwandelt. Rauchen, Trinken, Dicksein oder meinetwegen Nacktbaden – eine Welt, in der alles dem Rotstift zum Opfer fällt, macht