stutzig: Warum sind Abbilder aus Altamerika nahezu identisch mit den Motiven der Alpenwelt und ebenso mit Felsgrafiken auf den Britischen Inseln? Gleiches gilt für Fundstellen im spanischen Galicien oder der neolithischen Felskunst im nordchinesischen Helan-Gebirge. Kann das wirklich nur Zufall sein? Wer hat wen, wann beeinflusst? Und was war die Initialzündung für den globalen Schaffensdrang? Wir wissen es nicht.
Die zentrale Frage zur frappanten Analogie weltweit hinterlassener Felsbilder ist immer dieselbe: Was haben die kryptischen Vorzeitbilder zu bedeuten? Sind es frühe archetypische Ursymbole aus dem kollektiven Unterbewusstsein, was die Gleichartigkeit in vielen Erdteilen erklären würde? Oder, auch wenn der Gedanke gewiss fantastisch anmutet: Besaßen Priester und Schamanen des Altertums überempirische Begabungen, um Informationen über große Distanzen hinweg auszutauschen? Konnten verborgene Energien nutzbar gemacht werden oder besaßen Priester hellseherische Fähigkeiten, von denen wir heute keine Ahnung mehr haben? Was wissen wir hypertechnisierten Facebook- und Twitter-Menschen wirklich über die Anfänge unserer Zivilisation und die Zeiten davor?
HEXEN UND SPASSMACHER
Der Alpenraum ist übersät von schwer deutbaren Vorzeitspuren. Wir finden ein großes Bildgestöber vor allem in den französischen Seealpen (Monte Bégo), in den Schweizer Kantonen Wallis (Martigny sowie Saint-Léonard) und Graubünden (Carschenna, Bregaglia und Engadin), in den norditalienischen Provinzen Ligurien (Finale Ligure, Monte Beigua und Acquasanta), Piemont (Pinerolo, Monte Musinè und Eschental), in der ganzen Region Aosta, Trentino-Südtirol (Brixen, Meran, Altenberg und rund um den Gardasee) und auf österreichischem Gebiet in Tirol (Schneidjoch), in Oberösterreich (Kienbachklamm und Wurzeralm) sowie in der Steiermark (Notgasse).
Val Camonica in der Lombardei übertrifft jedoch alles. Die norditalienische Region gilt heute als das Mekka der Felsbildforschung schlechthin. Internationale Experten, begeisterte Forscher und entdeckungshungrige „Wandervögel“ lockt es alljährlich ins Camonica-Tal, das zum Weltkulturerbe zählt. Wie kam es dazu? Wer stolperte wann und wo über das erste prähistorische Kunstwerk? Welche Schlüsse wurden aus der Entdeckung gezogen?
Die erste schriftliche Erwähnung von Felszeichnungen reicht zurück ins Jahr 1650. Damals notierte der aus Nizza stammende Historiker Pietro Gioffredo in seiner Aufzeichnung „Histoire des Alpes maritimes“: „Mit Verwunderung und Staunen begegnen die Betrachter verschiedenen Steinen, alle von verschiedenen Farben, flache und schlüpfrige, die mit tausend Erfindungen gestaltet sind und geritzte Vierfüßler, Vögel und Fische darstellen, dazu mechanische, landwirtschaftliche und militärische Geräte, geschichtliche und fabulöse Geschehnisse verschiedenster Art …“ Der Gelehrte vermutete, dass es „Werke vergangener Jahrhunderte“ seien, und hatte auch eine Begründung für den Schaffensdrang parat: „Wahrscheinlich waren die Urheber dieser lustigen Scherze nichts anderes als Hirten und Schafzüchter, die sich so die Langeweile vertrieben …“
Schälchen und Zauberzeichen: Einst glaubte man, es seien Werke von Dämonen und Hexen.
Es stimmt, die Talbewohner haben sich im Mittelalter als Steinklopfer versucht. Sie ergänzten und „verschönerten“ aber nur die alten Zeichnungen ihrer Vorväter, die sie für „heidnisches Teufelswerk“ hielten. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, bis die Felszeichnungen genauere Beachtung fanden und Gegenstand gründlicher Studien wurden.
SPURENSUCHE MIT „SCHNEEBALLEFFEKT“
Die Anfänge des 20. Jahrhunderts gelten als offizielle Entdeckerzeit. Einheimische machten auf die Vielfalt dargestellter Motive aufmerksam, die auf großen freigelegten Felsplatten sichtbar wurden.
Im Jahre 1909 prüfte der in Brescia lebende Schweizer Geograf Walter Läng die Fundplätze und entdeckte auf zwei Felsblöcken – „Massi di Cemmo“ genannt – weitere Ritzungen. Brieflich informierte er das „Nationalkomitee für Denkmalschutz“ von seinem bedeutenden Fund. Vergebens: Die Autoritäten zeigten kein Interesse und die Angelegenheit wurde vergessen. Als dann wenige Jahre später der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wurde, kam es zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Es folgte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs (1914 – 1918). An eine systematische Untersuchung der archäologischen Schätze von Val Camonica war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Die Menschen hatten andere Sorgen.
Historisches Foto von Capo di Ponte
Ab 1929 blühte der Forschergeist wieder auf. Erste Felsbildstudien und Fachkongresse sorgten für mediale Aufmerksamkeit. Der Turiner Professor Giovanni Marro (1875 – 1952) lieferte dazu wertvolle Beiträge. Seine Pionierarbeit machte deutlich, dass man auf ein bisher unbekanntes Archiv der Menschheitsgeschichte gestoßen war. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) wurde eine wissenschaftliche Aufarbeitung der spektakulären Funde erneut vereitelt. Abgesehen von zweifelhaften Althistorikern, die im Auftrag der Nationalsozialisten nach der „arischen Urheimat“ fahndeten, kümmerte sich niemand um die wundersame Bilderwelt des Val Camonica.
Erst Mitte der 1950er-Jahre überlegte das „Amt für Denkmalpflege von Altertümern und Kunstwerken“ der Lombardei, den ersten Nationalpark um die Hauptfundstelle Naquane zu errichten.
Mit dem 1964 gegründeten „Centro Camuno di Studi Preistorici“ (CCSP), initiiert von dem international renommierten Felskunstexperten Professor Emmanuel Anati, begann endlich die planmäßige Erfassung und Auswertung der Zeichnungen. Bis 1970 waren gerade mal 600 Plätze mit rund 25.000 Bildern bekannt. Fünf Jahre später zählte man bereits 130.000 prähistorische Figuren, und damit war klar, dass Val Camonica die bedeutendste und reichhaltigste in Europa bekannte Felskunstsammlung war. Inzwischen ist die Menge der mit freiem Auge nicht immer leicht zu erkennenden Zeichnungen auf rund 350.000 Bildwerke angewachsen. Viele liegen nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, andere reichen vereinzelt bis ins Hochgebirge.
Allein in der Umgebung der Talmitte – rund um die Ortschaft Capo di Ponte mit den Nachbargemeinden Nadro, Cimbergo und Pasparado – gibt es an die 200.000 Gravuren. Ständig werden neue steinzeitliche Kunstwerke dem Erdboden entrissen. Teilweise lagen Fundstellen bereits frei, sind aber durch Verfall und Auflassung von Ackerland in den letzten Jahrzehnten wieder unter einer dicken Humusschicht begraben worden. Für manche Kunstwerke vielleicht besser so, denn es kommt immer wieder vor, dass Felsbilder dem Vandalismus zum Opfer fallen. Viele Ritzbilder, die in den 1930er-Jahren publiziert wurden, sind nicht mehr auffindbar. Wind und Witterung forderten ihren Tribut. Noch lange nicht sind alle gravierten Steinbuckel wissenschaftlich erfasst und dokumentiert.
1909 entdeckt: Graffiti-Felsen im Gebiet „Massi de Cemmo“
Eine der ältesten Darstellungen auf den gewaltigen Steintafeln zeigt einen Hirsch mit Halsband.
Hinzu kommt, dass vor allem im Nationalpark Naquane für Besucher Holzstege errichtet wurden, die zwar eine bequeme Besichtigung ermöglichen, aber viele Felsbilder uneinsehbar verdecken. Archäologen schätzen, dass im Val Camonica unter Moosen und Gestrüpp noch weitere Hunderttausende gezeichnete Strichmännchen und Ritzsymbole auf ihre Entdeckung warten!
Wo nahm alles seinen Anfang? Soweit bekannt, sind die ältesten Piktogramme im „Parco di Luine“, oberhalb von Darfo Boario Terme, erhalten. Sie sind rund 12.000 Jahre alt und stammen aus dem Paläolithikum, der Übergangszeit von der Alt- in die Mittelsteinzeit. Aus dieser Epoche sind im naturalistischen