sprechen vieldeutig von einem „Opferplatz für die Erdmutter“, „künstlerischen Ausdruck von Hirten“, „kultischen Platz für Riten“ oder „Darstellungen von Mond- und Sonnenkonstellationen sowie Gestirnen“. Der Geologe Markus Weidmann hat die Carschenna-Symbolik mit der Topografie umliegender Ortschaften verglichen und fand verblüffende Gemeinsamkeiten. „Vielleicht stellen die alten Felszeichnungen eine Art prähistorischen Katasterplan dar“, mutmaßt der Schweizer. Der Gedanke, dass Carschenna einst ein Schauplatz für topografische und astronomische Beobachtungen war, ist nicht so abwegig: Der im Ortsnamen enthaltene Begriff Carschen bedeutet auf Rätoromanisch „aufgehender Mond“!
UNGEKLÄRTE FELSINSCHRIFT
Im nördlichsten Teil der Brandenberger Alpen in Tirol, nahe der Grenze zu Bayern, erhebt sich das Rofan-Gebirge mit dem 1.811 Meter hohen Schneidjoch. In einer Felsspalte haben die Räter ihr ältestes Sprachdenkmal hinterlassen. Es befindet sich auf 1.500 Metern Höhe am Fuße einer senkrecht nach oben steigenden Felstafel, die „Steinberg“ genannt wird. Im Sommer 1957 kletterten die Tiroler Bergwanderer Walter Riedl und Franz Schmid im Achensee-Gebiet. Dabei entdeckten sie die kleine Höhle mit Inschriften. Genauer gesagt war es eine Wiederentdeckung. Die alten Schriftzeichen waren lange in Vergessenheit geraten und wurden vorher nie wissenschaftlich untersucht. Das gelang erst 1958 dem Sprachforscher Emil Vetter mit seiner Studie über „Die vorrömischen Felsinschriften von Steinberg in Nordtirol“.
Im Tiroler Rofan-Gebirge versteckt sich ein rätisches Geheimnis.
Quellgrotte nahe dem Schneidjoch
Etruskisch-rätische Inschriften
Die bis zu zwei Meter langen Schriftbänder sind in acht Zeilen festgelegt und bestehen aus über hundert Buchstaben, die jeweils etwa zehn bis 15 Zentimeter groß sind. Die meisten Texte werden dem nordetruskisch-rätischen Alphabet der La-Tène-Zeit (der zweite Abschnitt der europäischen Eisenzeit) zugeordnet. Starke Verwitterung, gewaltsame Beschädigungen und spätere Überschreibungen erschweren die Lesbarkeit. Sie erfolgt aus heutiger Sicht seitenverkehrt, nämlich von rechts nach links beziehungsweise von oben nach unten.
Der Arzt und Wissenschaftler Dr. Hans-Walter Roth aus Ulm in Baden-Württemberg brachte es ans Licht: Die Räter haben am Schneidjoch deutlich sichtbare Texte hinterlassen, aber es sind nicht die einzigen. Bei der Untersuchung der Felswand mit modernster digitaler Fototechnik, Laservermessung und Kontrastverstärkung konnte der Forscher etwa 200 weitere Gravuren nachweisen. Für Roth steht fest, dass das rätische Felsennest bereits in der Bronzezeit, wahrscheinlich sogar noch früher, ein bedeutsamer Rastplatz gewesen ist. Erst später hinterließen Etrusker, Räter, Römer, Kelten, Goten und Wanderer aus dem Mittelalter sowie der jüngeren Geschichte Spuren ihrer Anwesenheit.
Was lockte Menschen der Vorzeit den steilen Pfad hinauf zur Halbhöhle, die wie ein Dreieck in den Berg eingeschnitten ist? Archäologen vermuten ein altes Quellheiligtum, denn aus dem Felsspalt sprudelt Wasser. Vor der Kultstätte könnte sich ein Versammlungsplatz für Zeremonien befunden haben. Von einem Plateau davor ist heute nichts mehr zu bemerken. Es soll durch einen Felssturz vor mehr als drei Jahrhunderten zerstört worden sein. Könnten sich unter den meterdicken Steinplatten noch weitere noch unentdeckte Schriftgravuren befinden?
Die im Spalt geschützten textlichen Zeugnisse haben sich hinübergerettet in die Gegenwart. Man kann sie großteils entziffern, aber ganz schlau wird man daraus trotzdem nicht. Seit ihrer Entdeckung geben sie der Wissenschaft Rätsel auf. Die meisten Historiker deuten den Inhalt als Dank- und Weiheformel an den Gott Kastri für geschöpftes Wasser. Dieser himmlische Gebieter soll eine Schutzgottheit für Reisende gewesen sein, die dem etruskischen Kustur beziehungsweise dem griechischen Kastor entsprach. Der Forscher Eduard Gugenberger erkennt „eine dem etruskischen Apulu und griechischen Apoll verwandte Sonnengottheit“.
Eine umstrittene Übersetzung der rätischen Inschriften erläutert, dass mehrere Personen dem göttlichen Kastri geopfert haben. Da bis auf eine Ausnahme alles Frauennamen zu sein schienen, wurde spekuliert, ob das Schneidjoch im Altertum ein heimlicher Treffpunkt für Priesterinnen gewesen sein könnte. Die Deutung als Lobpreisung für Gott Kastor hält der an der Universität Wien tätige Linguist Dr. Stefan Schumacher indes für einen „Irrweg“. In seiner 2004 veröffentlichten Studie wird deutlich, dass die Namen als „Patronymika, also Vatersnamen“, entziffert werden können. Demnach sollen ein Mann namens „Kastrie Etuni“ und später seine Söhne rituelle Handlungen vorgenommen haben. „Welcher Art diese waren, wissen wir nicht“, räumt Dr. Schumacher ein, „die Inschrift nennt nur Namen, wie oder was sie welchen Göttern geopfert haben, wurde nicht aufgeschrieben.“ Um dem Räter-Heiligtum moderne Ergänzungskritzeleien zu ersparen, wurde es zum europäischen Kulturdenkmal erklärt und ist mit einem Gitter abgesperrt. Welchem Zweck diente also die Felsnische? War es ein Quellheiligtum, ein Opferplatz, eine spirituelle Stätte der Inspiration, ein Kultplatz der Fruchtbarkeit, ein astronomischer Beobachtungsposten oder ein Symbol für den Sitz der Götter? Wie die Götter- und Geisterwelt der Räter wirklich aussah, lässt sich nicht mehr feststellen. Es gibt keine schriftlichen Überlieferungen der rätischen Mythen. Bei einigen kurzen Texten fehlen selbst dem Sprachwissenschaftler die Worte: „Sie lassen sich zwar gut erkennen, es werden dabei aber Schriftzeichen verwendet, die man von keinem anderen Fund her kennt.“ Seltsam. Könnte die Vergleichsanalyse mit camunisch-rätischen Schriften und Felsgrafiken aus Val Camonica hilfreich sein?
Keltisches Schriftband: Weiheopfer, Götterhuldigung oder astronomisches Wissen?
Markanter Blickpunkt auf dem Weg zum Runenheiligtum: der 2.194 m hohe Guffert
AUFSTIEG ZUM SCHNEIDJOCH
Ostern 2014 in Tirol: Die Christenwelt feiert die Auferstehung ihres Erlösers, Osterfeuer bringen Segen, die Dorfkirchen sind mit Heiligen Gräbern geschmückt, bunte Lichtkugeln erhellen die Altarräume stimmungsvoll und überall duftet das Ostergebäck. Die Eiersuche entfällt. Mit Freundin Elvira entschließe ich mich, einen lang gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen: die Inspektion der rätischen Inschriften am Schneidjoch. Obwohl ich immer wieder gerne und oft im Tiroler Land verweile, viele Merkwürdigkeiten und Erscheinungsorte in meinen Büchern dokumentiert habe, gelang es mir in all den Jahren nie, eine Wanderung zum Schneidjoch zu realisieren. Diesmal sollte es endlich gelingen.
Wir reisen am Karsamstag von Innsbruck mit der Bahn nach Jenbach im Bezirk Schwaz. Von hier geht es per Bus hoch hinauf zum Achensee, der anmutig zwischen den schroffen Bergen des Rofans und dem markanten Karwendel liegt. Unser Quartier befindet sich auf über 900 Metern Seehöhe am hintersten Zipfel der Ortschaft Achenkirch. Die Sonne lacht. „Vor wenigen Tagen war die Landschaft noch mit Eis und Schnee bedeckt“, versichert die Vermieterin unserer Ferienwohnung. Wir erhalten Leihfahrräder und nützen einen spontanen Termin mit Gerald Siebenhofer. Der Revierleiter der Bundesforste kennt jeden Stein der Region. Er vertraut uns ausnahmsweise sogar den Schlüssel zum „Sesam, öffne dich!“ an, bezweifelt aber, dass wir die Felskerbe tatsächlich finden werden. Die Wandersaison beginnt erst im Mai, am Schneidjoch liegt noch meterhoch der Schnee und die Wetterbedingungen können in den Bergen schnell umschlagen. Wir sehen uns als Glücksritter, die das Abenteuer trotz berechtigter Skepsis wagen wollen. Ostersonntag: Die Glocken läuten. Unsere Rucksäcke sind gepackt, Proviant und Regenschutz haben wir dabei. Wir rechnen mit einem vierstündigen Aufstieg. In aller Herrgottsfrühe strampeln wir mit unseren Mountainbikes los Richtung Steinberg am Rofan. Nach wenigen Kilometern sind wir beim Parkplatz Köglboden angelangt. Hier folgen wir einem