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Während in England und in den USA die Linke eine Debatte über Polanyi führt und bedeutende Publikumszeitungen und -zeitschriften den Mann und sein Werk vorstellen, gibt es in deutschen und österreichischen Zeitungen durchaus eine Resonanz, aber die Zeitschriften schweigen fast gänzlich. So findet sich im Zeitraum der letzten fünf Jahre weder im Spiegel noch in Zeitschriften wie Profil, Weltwoche oder Brand eins auch nur eine einzige Erwähnung des Namens Karl Polanyi. In der Zeit gab es zwei Erwähnungen, aber keinen nennenswerten Beitrag zum Thema. Lediglich speziell auf Politik ausgerichtete Publikationen wie die Blätter für deutsche und internationale Politik brachten große Beiträge zu Polanyi oder durch Polanyi inspirierte Überlegungen. Mitunter stammten sie aus dem angelsächsischen Raum, etwa von Robert Reich oder Nancy Fraser; Letztere wird in diesem Buch ausführlich diskutiert.

      Polanyis Hauptwerk, „The Great Transformation“, erschien 1944; es dauerte 33 Jahre, bis es auf Deutsch herauskam. Außerhalb ökonomischer Fachkreise war der Name Polanyi kaum jemanden ein Begriff. Das immerhin hat sich gründlich geändert. Heute kann man ihn en passant als Hinweismarke verwenden, wie dies der Politologe Ulrich Brand vor kurzem in einem Falter-Interview tat. Wie weit muss Degrowth gehen?, lautete die Frage. Brands Antwort: „Mit Karl Polanyi gesprochen: Wir müssen die gesellschaftspolitische und intellektuelle Gegenbewegung gegen eine immer weiter selbstverständliche, ignorante Naturvernutzung und imperiale Lebensweise einleiten. Dann sind Lernprozesse möglich, die ich bei einigen meiner Studierenden schon sehe: Die wollen gar kein Auto mehr haben, einige sogar nicht mehr fliegen. Sie wollen einfach und gut leben. Das wäre der Horizont: Ein wachsender Teil der Gesellschaft will diese andere Lebensweise“ (Falter, 1.5.2018).

      2009 noch konnte die renommierte, bildungsbürgerliche Zeit schreiben, folge man dem „vergessenen Ökonom (sic) Karl Polanyi“, müsse man einsehen, dass „die Industriezivilisation sehr wohl zum Ruin des Menschen führen kann“ (16.7.). Nur noch einmal wird Polanyi wieder erwähnt, als Warner vor „Klimawandel, Wirtschafts- und Finanzkrisen“ (15.9.2011). Zu den wenigen Wochenzeitungen, die Polanyi nicht ausblenden, zählt die Wirtschaftswoche. „Man trifft in Hauptseminaren der Volkswirtschaft heute Studenten, die nicht Adam Smith und Friedrich August von Hayek gelesen haben. Die nicht wissen, wer François Quesnay oder Carl Menger waren. Wofür Albert O. Hirschman oder Karl Polanyi stehen“ (12.10.2018).

      Tageszeitungsleser hatten es besser. Die Neue Zürcher Zeitung hatte zwar sicher recht, wenn sie noch 2016 schrieb: „Schumpeter, Galbraith, Hayek und Friedman mögen ein vergleichbares Maß an öffentlicher Bekanntheit erlangt haben wie Keynes und Piketty. Bei Karl Polanyi, Tibor Scitovsky, Albert O. Hirschman und Peter L. Berger ist dies jedoch nicht der Fall“ (29.9.). Doch haben österreichische Qualitätsblätter überraschenderweise einiges zur Polanyi-Renaissance beigetragen. In der Presse vom 25.11.2016 stellte der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Ernst Langthaler seinen ausführlichen Text über „The Great Transformation“ in einen aktuellen Kontext, den Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der USA. „Was wie ein Kommentar zum Sieg Donald Trumps bei der US-Präsidentenwahl klingt, wurde sinngemäß vor mehr als 70 Jahren gedacht, gesagt und geschrieben. Karl Polanyi beantwortete 1944 in seinem Buch ‚The Great Transformation‘ eine der drängendsten Fragen jener Zeit: den Aufstieg des Faschismus, der – zusammen mit dem Kommunismus – dem 20. Jahrhundert den Stempel ‚Zeitalter der Extreme‘ (Eric Hobsbawm) aufgedrückt hat“, schreibt Langthaler, ohne jedoch Trump als Faschisten zu klassifizieren; er hält ihn für einen Nationalpopulisten, dessen Erfolg sich jedoch mit Polanyis Kategorie der Gegenbewegung erklären lasse (vgl. dazu S. 27 in diesem Buch).

      Auch im Standard wird Polanyi ab und an zitiert, etwa vom Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk am 13.5.2016 in einem Plädoyer für eine europäische Politik, die ein „europäisches Weiterwursteln“ sein müsse. Denn „ihr Zusammenbruch würde jene politischen Kräfte demokratischer Selbstzerstörung freisetzen, die zu einer dramatischen Herausforderung für Europa geworden sind. Sie würde zu jener Regression und völligen Marginalisierung des Halbkontinents führen, die Karl Polanyi kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben hat.“

      Auch über die Ehrung Kari Polanyi-Levitts durch eine Gedenktafel an ihrem ehemaligen Wiener Wohnhaus berichteten mehrere hiesige Blätter und gingen bei dieser Gelegenheit auch auf das Werk Karl Polanyis ein. Insgesamt bleibt die Rezeption in Österreich verhalten, wobei es immer wieder lobenswerte Ausnahmen gab: etwa ein großes Porträt Polanyis samt Interview mit Kari Polanyi-Levitt von Tanja Traxler anlässlich der Polanyi-Konferenz in Linz im Standard vom 18.1.2017. Oder diverse Berichte in der Wiener Zeitung, etwa ein Kommentar der Ökonomin Sigrid Stagl für „neue Spielregeln des Wirtschaftens im Anthropozän“ am 29.8.2017.

      Für deutsche und Schweizer Tageszeitungen kann man sagen, dass Polanyi je nach Ausrichtung des Blatts zu Ehren kommt oder mitunter auch hämische Kritik erfährt. Die konservative Neue Zürcher Zeitung bleibt erstaunlich neutral und zitiert Polanyi ab und an in großen Essays; so etwa verwenden die Raumplanungsexperten Robert Kaltenbrunner und Olaf Schnur ganz selbstverständlich mit Bezug auf Polanyi den Begriff „Kommodifizierung“ (26.4.2014).

      Die Süddeutsche Zeitung und die taz sympathisieren deutlich mit Polanyi. In der Süddeutschen vom 18.6.2018 rezensiert der Politologe Claus Leggewie die Werke von Gareth Dale und Robert Kuttner über Polanyi. Und der englische Literaturprofessor Jeremy Adler schreibt zum Thema Brexit: „Die zutreffende Diagnose stammt von Hayeks Gegenspieler Karl Polanyi. Der Wirtschaftshistoriker hielt den ‚freien Markt‘ für einen Mythos, weil er in Wahrheit auf zahllosen Gesetzen beruhe: ‚Das Laisser-faire war geplant.‘ Die einseitige Bevorzugung des Marktes unterminiere die Demokratie. Eine natürliche Ökonomie sei sozial eingebettet. Nach Polanyi zu urteilen, hat Hayek die Krankheit mit der Kur verwechselt. Der Faschismus entstamme ‚einer Marktwirtschaft, die nicht funktioniert‘“ (SZ vom 25.8.2018). Der Wirtschaftssoziologe Jens Beckert wiederum nennt „The Great Transformation“ als das für ihn wichtigste Buch (14.6.2016). Wenig überraschend wird Polanyi in der taz durchaus zustimmend zitiert, ja, als selbstverständliche Referenz vorausgesetzt (zum Beispiel beim Politologen Franz Walter am 6.4.2013).

      Am interessantesten ist die Polanyi-Rezeption in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zwar überwiegt in der FAZ und deren Ableger, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Tenor, Polanyi-Schüler hingen seiner Theorie nur im Rahmen der allgemeinen Ratlosigkeit der Linken an, doch ist es dieses Blatt, in dem ausführliche, manchmal sogar sympathisierende Auseinandersetzungen mit Polanyi stattfinden.

      Hier konstatierte die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff unter Bezug auf Polanyis Analyse der Destruktivität des Marktes: „Google führt uns an den Wendepunkt in der Reichweite der Marktwirtschaft. Eine vierte fiktive Ware entsteht hier und wird zum beherrschenden Merkmal der Marktdynamik des 21. Jahrhunderts. Die ‚Realität‘ erfährt dabei dieselbe Umwandlung ins Fiktive und wird als ‚Verhalten‘ wiedergeboren. Dazu gehört das Verhalten der Lebewesen, ihrer Körper und ihrer Dinge, das Verhalten selbst sowie Daten über das Verhalten. Es ist der weltumspannende Organismus samt den winzigsten Elementen darin“ (30.4.2014). Der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker wiederum zitiert Polanyi in seiner Ökonomie der Migration (FAZ 12.1.2016).

      Auch Wirtschaftsredakteur Rainer Hank bemerkt in seinem Polanyi-Porträt durchaus zustimmend am Ende: „Viele der heutigen Kapitalismuskritiker weiden auf der Wiese Polanyis. Die Kritik am ‚Ökonomismus‘ und ‚Kapitalismus pur‘, die Mahnung zu Maß und Mitte, die von Sahra Wagenknecht bis Volker Kauder täglich ertönt, hat hier ihren Ursprung. Wenn Bundeskanzlerin Merkel findet, wir brauchten eine ‚marktkonforme Demokratie‘, würden Polanyis heutige Freunde dagegen einen ‚demokratiekonformen Markt‘ fordern“ (FAS 24.8.2018). Obwohl der gleiche Hank, Bezug nehmend auf das Erbe Polanyis, dessen differenzierte Kapitalismuskritik verstimmt, diesem gern auch ‚antikapitalistischen Romantizismus vorwirft (FAS 13.1.2013). Hank kommt immer wieder auf Polanyi zurück, sei es in einer Dickens-Rezension (FAS 16.3.2014) oder in einer Philippika gegen Kapitalismuskritiker, die nicht wüssten, dass sie Polanyis Erben sind (FAS 24.8.2014).

      In seinem Text in der FAZ „Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen“ formulierte der