sich hin. Sie riss das Blatt mit den dunklen Konturen ihres neuen Entwurfes ab und legte es zur Seite. Ehe der verblüffte Lord überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihren Daumen an der Zun ge angefeuchtet und rieb ihm die Rußpartikel von der Wange. Fassungslos starrte der Mann die junge Frau an, was diese nicht da von abhielt, ihr Werk zu Ende zu bringen. Dann aber stockte sie kurz und zog dem Verdutzten mit einem Ruck den Hut mit-samt der Perücke vom Kopf und hielt beides wie eine Trophäe in der Hand. Die dunkelblonden Locken darunter glänzten schweißdurchzogen und räkelten sich der neu gewonnenen Freiheit entgegen. Mit einem grimmigen Ächzen griff der Adlige nach der Perücke – und ließ sie dann mit einem Aufschrei fallen. Isabelle bückte sich vorsichtig danach und hielt das traurige weiße Häuflein in die Luft: »Einige Funken haben sich in Eurer Perücke einge nistet, Eure Lordschaft, und kohlen nun mit den Haaren vor sich hin. Aber wenn Ihr sie unbedingt wieder aufsetzen wollt, bitte schön!«
Frederik von Kilmarnok trat einen Schritt zurück. Man sah ihm an, dass er den Ärger über die Art, wie sie ihn behandelte, unterdrücken musste, denn sein Adamsapfel zuckte fast ebenso schnell wie sein Atem. Er setzte sich auf den Stuhl und schlug verkrampft die Beine übereinander. Unentschlossen deutete er auf das Paket, das er auf den Tisch gelegt hatte, und sagte mit nasaler Stimme: »Ich habe als Zeichen meines Bedauerns ein Geschenk mitgebracht. Ich hoffe, es ist dir von Nutzen.«
Isabelle folgte seinem Finger mit den Augen. Mit einem kindlichen Jauchzer nahm sie das eingeschlagene Präsent in die Hand, bemerkte verwundert das Gewicht und löste dann mit kleinen, flinken Bewegungen das Wachspapier. Im Inneren fand sie ein Buch, dessen Titel sie mit einem Aufschrei las: »Das ›Complete Body of Architecture‹! Das ist doch erst in diesem Herbst erschienen. Seid Ihr wahnsinnig?«
Der Adlige lehnte sich zurück: »Du kennst das Buch?«
Sie begann in den Seiten zu blättern: »Natürlich. So viele Bücher über Tapeten gibt es ja nicht. Wobei ›kennen‹ viel zu viel gesagt ist. Ich habe ein einziges Mal kurz hineingeschaut. Meine Freundin Kathrin arbeitet als Zofe in einem vornehmen Haus. Sie hat mir erzählt, dass ihre gnädige Frau sich ein Buch über Inneneinrichtungen gekauft hat, und sie weiß, dass ich immer davon geträumt habe, so etwas zu machen. Sie hat mich dann, weil ich so gebettelt habe, einige Tage später, als ihre Herrschaften einen längeren Ausflug machten, heimlich in die Wohnung gelassen – obwohl es sie ihren Job gekostet hätte, falls man mich erwischt hätte. Dort konnte ich drei Stunden darin lesen und mir einige Dinge abschreiben. Weil es dieses Buch gibt, habe ich überhaupt erst angefangen, Muster für Tapeten zu entwerfen. Hier steht nämlich drin, dass es bald in allen Häusern Tapeten geben wird.«
Lord Kilmarnok machte eine abwertende Geste: »Nun, jetzt hast du ja selbst ein Exemplar. Und wie ich sehe, hat es sich gelohnt, den Buchhändler an einem Sonntag aus seiner Wohnung holen zu lassen. Offensichtlich habe ich ihm deine, wie nennst du es, ›Arbeit‹, also deine Beschäftigung, richtig beschrieben.«
Isabelle sah den Wartenden mit halb geöffneten Lippen nachdenklich an. Dann schlug sie das Buch langsam wieder zu und legte es zurück in den Umschlag. Ruhig faltete sie das Papier zusammen und hielt das fertige Paket mit ausgestrecktem Arm von sich: »So, wie Ihr eben noch ausgesehen habt, mit Ruß im Gesicht und qualmender Perücke, müsst Ihr dem Verkäufer viel Geld gegeben haben, damit er euch sonntags bedient hat. Ich will das Buch nicht.«
Der Adlige öffnete fragend beide Arme. »Warum denn nicht?«
Sie legte das Paket in seinen Schoß: »Ich weiß nicht, wer Ihr seid und was Ihr wollt. Und ich bedaure es, dass ich eben für einen Moment mein Misstrauen vergessen habe. Denn eines ist sicher: Ich nehme kein solch teures Geschenk von Euch an. Ihr könnt Euch vielleicht sonst alles von Eurem Geld kaufen, aber einen Ablass für Euer haltloses und verbrecherisches Verhalten bekommt Ihr von mir nicht. Auch nicht für ein so kostspieliges Buch. Lasst mich bitte in Frieden.«
Lord Kilmarnok fühlte sich ohne Perücke unwohl und schaute Isabelle zornig an: »Es ist ein Geschenk, nur ein Geschenk. Und ja, ich gebe es dir dafür, dass ich heute in diesem Haus unbeherrscht gewütet habe. Ich möchte mein Verhalten wieder gutmachen. Es ist einfach eine Entschuldigung. Musst du denn alles so kompliziert machen?«
»Ich?« Isabelle wurde mit jedem Wort lauter: »Wer kommt denn hier wie ein Berserker hereingestürmt, schießt um sich, bietet mir Unsummen für die privaten Erinnerungen, die Geschichte des Königs, und bringt dann abends ein Geschenk, für das ich normalerweise vier Monate arbeiten müsste? Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Ihr jetzt geht.«
Angriffslustig blitzte sie Lord Kilmarnok an.
Von der Seite kam eine helle Stimme: »Nein, er darf nicht gehen!«
Isabelle erschrak, griff hinter die Abdeckung der Treppe und zog ihre Tochter an den Haaren hervor: »Schascha!« Der Klang schwang nach. »Wie lange sitzt du schon da?«
Das Mädchen, dessen weit auseinander stehende, tiefgrüne Augen der Lord zum ersten Mal bewusst wahrnahm, wand sich unter dem Griff seiner Mutter und blickte trotzig blinzelnd in den hellen Raum: »Das ist doch ganz egal! Warum willst du, dass er geht?«
Isabelle ließ so plötzlich los, dass die Kleine nach hinten stolperte. Die Stimme der jungen Frau war plötzlich sanft und ernst. Als sei der Lord gar nicht mehr anwesend, sagte sie: Wut und Angst. Das ist eine fürchterliche Mischung. So fürchterlich, dass er den König töten wollte. Er ist ein Mörder! Ganz gleich, ob er die Tat schon begangen hat oder nicht. Wäre Jizchak der König gewesen und hätte dieser Mann hier besser geschossen, dann wäre der König jetzt tot. Wir haben also gesehen, dass er dazu fähig ist. Bei so jemandem musst du sehr vorsichtig sein Denn wer andere verachtet, der verachtet auch sich selbst. Und das ist schlimm. Jemand, der sich selbst gern hat, der sich wirklich liebt, der tut anderen nicht weh. Verstehst du das?«
Schascha schaute zu Boden. Leise sagte sie: »Nein! Ich mag ihn, Mama. Er ist doch nur traurig.«
Lord Kilmarnok fühlte, dass seine Hände zitterten. Blass griff er nach seiner Perücke, dem zweiten Paket und dem Buch und drehte sich zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als ihn das Mädchen noch einmal anrief: »Du, Lord Frederik! Du schuldest mir noch etwas!«
Der Adlige hielt inne, zog mit fahrigen Fingern seinen Geldbeutel hervor und schnürte ihn auf. Schascha aber lief hinter ihm her und zog an seinem Mantel: »Darf ich mir etwas wünschen? Bitte!«
Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch und stellte sich in die Tür. Ihre Augen glänzten. Stolz auf ihren Einfall, rief sie mit einem kurzen Seitenblick zu ihrer Mutter: »Schenk mir das tolle Buch mit den Wohnungseinrichtungen!«
Isabelle, die sich schon wieder zu ihrer Tapete gewandt hatte, fuhr herum. Ihre Pupillen waren unnatürlich geweitet. Doch über das Gesicht des Lords zog ein befreites Lächeln. Er streckte der Kleinen das Buch hin: »Gerne! Hier hast du es.«
Ehe ihre Mutter reagieren konnte, hatte Schascha das Paket ergriffen. Lord Kilmarnok aber zwängte sich an dem Mädchen vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
Ängstlich schaute das Mädchen in den Raum. Tränen schossen in ihre Augen, als sie den verzweifelten Gesichtsausdruck ihrer Mutter bemerkte, die ihre Sicherheit verloren hatte und mit einem Mal sehr jung und verletzlich aussah. Nach einem Moment des Schweigens nahm Isabelle eine wollene Mantille vom Stuhl, legte sich die Zipfel des Schals über die Brust und knotete sie hinter dem Rücken zusammen. Dann lief auch sie wortlos in die Nacht.
Am Ende des Blocks hatte sie den Lord eingeholt, der mit weiten Schritten in der Mitte der Straße Richtung Themse eilte. Einige Meter hinter ihm blieb sie schwer atmend stehen und rief: »Ihr sollt die Geschichte hören.«
Er hielt inne. Erst in diesem Augen blick bemerkten beide, dass es angefangen hatte zu regnen. Lord Kilmarnok schaute auf die glänzenden Steine und fühlte wegen der fehlenden Perücke nach langen Jahren zum ersten Mal wieder Regentropfen auf seiner Kopfhaut. Fast tonlos sagte er: »Lass mich!«
Sie trat neben ihn: »O nein! Ich bleibe niemandem etwas schuldig, genauso wenig wie Ihr. Es ist Euch mit einem schäbigen Trick gelungen, das kostbare Buch in unserem Haus zurückzulassen, aber es wird Euch nicht