Fabian Vogt

Bube, Dame, König


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gibt Gut und Böse nicht in Reinform. Diese Worte sind nur Andeutungen für die zwei Seiten einer Medaille. Das Gute allein macht jedenfalls nicht glücklicher als das Böse. Mag das auch noch so oft hingebungsvoll verkündet werden. Beides, Gut und Böse, legt den Menschen in Ketten und raubt ihm seinen Willen. Das Böse, weil es heimtückisch die Macht über alles Streben übernimmt, das Gute, weil es auf perfide Art die Freiheit des Menschen untergräbt: Einer, der nur noch Gutes tun will, hat ja keine Wahl mehr. Er ist wie eine Kompassnadel ausgerichtet, er muss den ewig gültigen Gesetzen des edlen Lebens gehorchen und verliert sich darin. Er gibt sein Ich gänzlich an das Gute ab. Ich konnte das nie. Obwohl ich es versucht habe. Vergeblich. Das Leben funktionierte bei mir nicht nach solch einfachen Formeln. Ich spürte, dass jeder, der eifrig nach Gutem strebt, von der Angst beherrscht wird, etwas falsch zu machen, so sehr, dass er verkrampft und verzagt. Und meist schienen mir diese Menschen keineswegs lebenstauglicher als diejenigen, die sich niemals dem Ideal des Guten verschrieben haben.

      Gebt es zu, ihr Gutgläubigen: Es existiert nicht nur ein Fanatismus des Bösen, sondern auch einer des Guten. Wer mit verbissener Miene Heil verkündigt, unterscheidet sich in nichts von demjenigen, der willentlich dem Bösen Vorschub leistet. Wie ich solche Pharisäer hasse! Jeder, der sich keine Fehler mehr erlaubt, beraubt sich mit blank poliertem Gewissen des Guten, nachdem er so sehr giert. Und eines weiß ich sicher: Die durch und durch Guten haben in dieser Welt noch nie etwas bewegt. Vielleicht, weil es ihnen an Mut mangelt, dem Bösen ins Auge zu schauen. Sie stehen weit weg und schimpfen, aber sie machen sich nicht dreckig, denn das würde ihr eigenes Dasein beschmutzen.

      Diejenigen, die den Lauf der Geschichte verändern, kennen ihre dunklen Anteile. Sie lügen die Schatten nicht weg, sondern wissen, dass man sie nur dann hinter sich lassen kann, wenn man ins Licht schaut. Und je höher die leuchtenden Ideale stehen, denen solche Lebenskünstler nachfolgen, desto kürzer werden ihre Schatten. Irgendwann sind die schwarzen Anhängsel für sie so selbstverständlich geworden, dass sie kaum noch darüber nachdenken, geschweige denn darüber stolpern. Diejenigen dagegen, die ewig vom Guten reden, machen nichts anderes, als ihren eigenen Schatten pausenlos zu studieren. Sie glauben tatsächlich, sie könnten vor ihm davonlaufen, wenn sie ihn nur lange genug analysieren und verdammen. Welch ein Irrsinn, welch eine Hybris: Seinem Schatten entkommt man nicht. Denn das Dunkle ist ein treuer Weggefährte. Und wen man nicht besiegen kann, mit dem soll man sich verbünden. Nur wer die Freiheit hat, Böses zu vollbringen, hat auch die Freiheit, Gutes zu tun.

      Ich habe mich mit meinen Schatten angefreundet. Ich heiße sie nicht gut, aber seit ich sie nicht mehr als Feinde betrachte, komme ich plötzlich mit ihnen zurecht. Meinte Jesus das, als er sagte: »Liebet eure Feinde!«? Vielleicht verlieren die Menschen, die sich ihrer Schatten bewusst sind, auch schneller ihre Allmachtsfantasien. Ich jedenfalls erfuhr sehr bald, dass Gut und Böse letztlich nicht in meiner Hand liegen: Der schlechteste Wille konnte unendlich viel Gutes zur Folge haben und die beste Absicht den Nächsten mit Leid überschütten. Ich genieße diese Erkenntnis. Ich bin frei, mich mit aller Kraft für ein Ziel einzusetzen, und ahne zugleich, dass in meinem Handeln gerade nicht das Heil der Welt liegt. Abgesehen davon sind mir in all den Jahren keine überzeugenden Kriterien begegnet, um Gut und Böse wahrhaft zu unterscheiden. Beide kommen allzu gerne im Gewand des anderen daher und verführen die Sinne. Ich kann diejenigen, die sich an ein Ideal des Guten klammern, dennoch verstehen, sie scheuen die frustrierende Suche nach dem, was wirklich trägt. Vielleicht lähmt sie auch nur die Furcht, dass es möglicherweise gar kein Gut und Böse gibt.

      Ich habe für diese Erkenntnis teuer bezahlt: mit meinem Leben – einem Leben, das von Anfang an unter dem Doppelstern von Gut und Böse stand. Mein Gott, warum konnte ich es nicht ein einziges Mal einfach haben? Ich musste immer wählen, selbst bei den Dingen, bei denen alle anderen Menschen Gewissheit haben. Geboren wurde ich am 25. August, dem heißesten Tag des Jahres 1691, der schon mittags ein Gewitter so schwül und wütend ankündigte, dass die Hebamme zugleich schwitzte und fröstelte. Nicht einmal das Wetter wollte sich für mich entscheiden. Als ich den Leib meiner Mutter verlassen hatte, erklärte mich die Helferin nach kurzem Anschauen für tot und legte mich achtlos zur Seite. Mein Vater, der mich wenig später in einer Decke hinaustrug, um mich hinter dem Haus zu vergraben, bemerkte den flatternden Hauch von Leben in mir und holte mich zurück. So wurde ich zweimal geboren.

      Meine Mutter, die noch zwischen den blutigen Laken lag und fassungslos über meinen Tod trauerte, bekam an diesem Tag ebenfalls einen Riss in ihrer Seele. Einerseits liebte sie mich nach meiner Rückkehr mit einer Hingabe, die aus dem Irrtum eine Auferstehung machte, andererseits konnte sie es sich niemals verzeihen, dass sie nicht selbst ein Auge auf mich geworfen und somit meinen Verlust, den sie ja wahrhaft empfinden musste, mitverschuldet hatte. Sie wollte immer nur Gutes für mich, so sehr und so intensiv, dass daraus ein Kerker für mich wurde. Um sicherzugehen, dass es mir auch an nichts mangelte, ließ sie mich nicht nur nach calvinistischem Bekenntnis, sondern einige Monate später auch noch katholisch taufen. Zweiteres bedurfte eines wüsten Lügengebildes, das sie in Anbetracht meiner messianischen Attribute dem Priester mit rotgeklatschten Wangen und einem Beutel Münzgeld als die ach so reine Wahrheit andrehen konnte. So wurde ich zweimal gesegnet.

      Vielleicht liegt mir das Hin- und Hergerissensein aber auch im Blut. Schon mein Vater kannte die Not, zwischen zwei Welten wählen zu müssen. Er entschied sich als junger Mann für Amelie, die betörende Kaufmannstochter aus Visé, gegen den erklärten Willen seiner Familie, die eine derartige Liaison für einen angehenden Baron strikt ablehnte und ihn mit Anfeindungen verfolgte, die man dem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Doch die Ermahnungen fruchteten nichts, sie machten alles nur noch schlimmer. Mein Vater hatte sein Herz verloren und versuchte nach seiner Enterbung, als Kommandant eines der Forts von Metz seiner kleinen Familie ein Auskommen zu schaffen. Obwohl ich ihn nie wirklich kennen gelernt habe – er starb einige Jahre nach meiner Geburt –, schweb te seine zwiegespaltene Seele immer über uns. Die Familie Neuhoff nahm zwar meine Mutter, meine Schwester und mich in einem Anflug von Reue auf dem Familiengut Pungelscheid bei Werdohl auf, doch sie ließ mich immer spüren, dass etwas Ungeheuerliches in meinen Blutbahnen floss, ein wahrhaft explosives Gemisch, von dem Gefahr ausging. Und meine Mutter, die noch immer eine bezaubernde Frau war, hatte bald einen energischen Verehrer, der sich über mich einen Zugang zu ihrem Herzen erhoffte. So wurde ich zweimal erzogen.

      Dieses Muster hat mich nicht verlassen. Ich habe zu keiner Zeit meines Lebens gewusst, wo ich hingehöre. Immer rissen mindestens zwei Wirklichkeiten an mir und forderten eine Entscheidung. Sie hielten meine Seele unter Spannung: Gut und Böse, Hell und Dunkel, Trauer und Freude. Diese Spannung hat mich frei gemacht, mich zu entscheiden, doch was soll ich mit einer solchen Freiheit? Ich verfluche sie. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich bin: ein König, ein Baron, ein Kaufmann oder einfach ein Idiot, der tatsächlich glaubt, dass es einen Ort der Geborgenheit gibt, an dem der ewige Zwiespalt seiner Seele ein Ende hat? Ich werde es wohl nicht mehr herausfinden – aber er kann es. Wenn er meinen Brief eines Tages erhält. Er wird verstehen, was ich nicht verstehe. Julia, komm, ich will dir erzählen, wie es wirklich war. Schreib es auf, bitte ... Julia!

      »Theodor zeigte in allen ritterlichen Übungen Mut und Gewandtheit. Waffen und Kriegswesen waren seine

       früheste Beschäftigung, während zugleich die Gewöhnung des Hoflebens den Sinn bedeutender Verhältnisse und geselliger Feinheiten in ihm ausbildete.«

      K. Varnhagen von Ense, Biographische Denkmale

      Lord Kilmarnok betrachtete sein grün unterlaufenes Auge im Spiegel und fluchte laut vor sich hin. Die Beschimpfungen verfingen sich in den schweren golddurchwirkten Vorhangstoffen, und für einen Moment schien es dem Adligen, als verdunkelten seine Worte das exquisit eingerichtete Zimmer der Herberge an der Themse. Im Laufe des Tages hatte der Ärger über sein Versagen immer weiter zugenommen und sich zuletzt mit einer beängstigenden Verzweiflung verbunden, die nach und nach Besitz von ihm ergriff. Es war nicht nur der Ärger über den verfehlten Schuss, sondern das Erschrecken darüber, dass er derart die Kontrolle über sich verloren hatte. Eine eigentümliche Scham erfüllte ihn, ohne dass er dieses zermürbende Gefühl hätte näher beschreiben können; eine Demütigung, ein Unbehagen, das sein ganzes