auf dem Stuhl hin und her. Doch sie wagte es nicht, den Vater zu unterbrechen, denn schlechte Zensuren durften die Kinder nicht nach Hause bringen.
Aber – wenn das ab und an geschah - denn zog Vater Krohn nur kurz am Riemen und so mancher Ledertanz vollzog sich am Rückenende. Auch deswegen schon strengte sich Hanna an, um sich alles zu merken.
Und so verliefen die Schulstunden zwischen Angst, Pflichterfüllung und geforderter Disziplin. Fast jedes Kind war froh, wenn der Hausmeister mit der Glocke kam und das Ende des Unterrichts einläutete.
Doch auf die Stunde mit den Rittern freute sie sich schon, denn sie hatte ja über das Wappen viel von ihrem Vater erfahren. Doch zunächst wurde sie bitter enttäuscht, als der Lehrer mit strenger Miene und dem Rohrstock in der Hand die Mädchen abfragte:
Wann kamen die Ritter des Deutschen Ordens in unser Gebiet?
Wie hieß der Ordensmeister, der die Ritter geführt hat?
Wem wollten die Ritter helfen?
Wer sind die Pruzzen?
Was ist eine Großschäfferei?
Warum ist König Ottokar II in die Geschichte eingegangen?
Wann wurde die Burg errichtet?
Wann wurde die Altstadt gegründet?
Wie hieß die Gründungsurkunde?
Wann erhielt die neue Stadt Löbenicht das Stadtrecht?
Warum wurde sie Löbenicht genannt und nicht Neustadt?
Wann wurde die Stadt Kneiphof gegründet und wann erhielt sie die Urkunde?
Die Kinder hatten gar keine Zeit, lange zu überlegen, so schnell stellte der Lehrer die Fragen. Wer die Frage nicht richtig beantwortete, wurde sofort aufgeschrieben und musste für den Rest der Stunde neben der Bank stehen bleiben. Wer gar keine Antwort geben konnte, musste die Handflächen zeigen und der Rohrstock sauste über die Fingerspitzen. Schmerzverzerrt schlossen sie die Augen. Hanna hatte Glück mit ihrer Antwort. Erleichtert saß sie nun in ihrer Bank und wartete darauf, dass sie etwas über das Stadtwappen erzählen konnte.
Zaghaft und durch die strenge Wiederholung eingeschüchtert meldete sie sich und hob dabei ein Blatt Papier hoch, auf dem das Stadtwappen von Königsberg abgebildet war.
„Das Wappen unserer Stadt hat vier Teile“, hörte man vorsichtig und leise. „Der preußische Adler mit der Krone ist der obere Teil und hat in der Mitte das Zeichen von Friedrich Wilhelm I.“ Dabei zeigte sie mit dem Finger auf die Stelle im Wappen, über die sie gerade erzählte.
„Darunter in der Mitte ist das Wappen für die Altstadt. Es ist ein Schild von einem Ritter, der in dem oberen Teil die Krone des Königs Ottokar II. von Böhmen zeigt, nach dem ja das Schloss und später die Stadt benannt worden sind. Auf dem unteren Teil des Schildes ist ein weißes Kreuz auf rotem Grund zu sehen. Das ist das Zeichen für die hansische Bürgerfreiheit. Rechts neben dem Wappen der Altstadt ist das Stadtwappen von Löbenicht, links von der Altstadt ist das Wappen vom Kneiphof.
Mein Vater hat mir gesagt“, so erzählte Hanna weiter, „dass über diese ehemaligen drei einzelnen Städte gesagt wird:
in der Altstadt die Macht,
im Kneiphof die Pracht,
im Löbenicht der Acker.
Denn in der Altstadt ist das Schloss, im Kneiphof steht der Dom und sind die Speicherviertel als Zentrum des Handels mit den dazugehörigen Geschäftshäusern und im Löbenicht eben die landwirtschaftlichen Betriebe. Das Wappen vom Kneiphof kann bedeuten, dass die Wasserstraßen des Pregel die Grundlage für den Reichtum sind. Mein Vater wusste es aber nicht genau. Die beiden Hörner können zu den Schiffen gehören, die geblasen werden mussten, wenn sie nachts durch die geschlossene Balkensperre fahren wollten, um in die Altstadt zu kommen.
Auf allen drei Wappen ist die polnische Krone als Zeichen der Vorherrschaft durch König Ottokar von Böhmen. Mein Vater“, so sagte sie kleinlaut, „wusste aber nicht, was die beiden Sterne im Wappen von Löbenicht bedeuten. Es kann sein, dass sie für die Berufe stehen, nämlich für Handwerker und Bierbrauer, die damals vorrangig dort ausgeübt wurden.“ Hanna atmete tief durch und sagte: „Mehr weiß ich nicht“.
Sehr zufrieden schaute sie der Lehrer an und sagte: „Das hast du aber gut gemacht. Dafür gebe ich dir eine Eins. – Setz dich!“
Hanna freute sich sehr über diese Zensur, denn ein Lob erntete sie wegen ihrer schlechten Schrift nicht sehr oft.
Allen Mut nahm sie zusammen, als sie fragte: „Herr Lehrer – Ponarth ist doch auch ein Stadtteil von Königsberg. Seit wann gehören wir denn dazu, wenn wir schon nicht im Stadtwappen enthalten sind?“ Etwas erstaunt schaute er auf das kleine, etwas schmächtige Mädchen.
„Ponarth war in der Vergangenheit ein Vorort von Königsberg, ein uraltes Pruzzendorf. Hier siedelten sich Bürger an, die nicht Deutsche waren, z. B. Litauer, Russen, Polen, Böhmen, aber für den Deutschen Orden arbeiten wollten. Seine Bedeutung hatte dieser Vorort dadurch, dass in mittelalterlichen Zeiten die Fürsten, die Königsberg besuchen wollten oder auf dem Weg von Petersburg nach Paris waren, in dem nächstgelegenen Gasthof abstiegen und dort von den Ratsherren von Königsberg empfangen wurden. Daher hat Ponarth auch ein umfangreiches Braugewerbe. Die dort hergestellten Bier- und Likörsorten werden in Königsberg gern von den Erwachsenen getrunken. Später kamen noch die Betriebe der Eisenbahn und des Militärs hinzu. Daher hat sich Ponarth wirtschaftlich schnell entwickelt. Als dann 1905 einige Vororte, darunter auch Ponarth, eingemeindet wurden, hatte die Stadtkasse damit auch mehr Einnahmen. Aber in das Stadtwappen wurden die anderen Stadtteile nicht mehr übernommen.– Reicht dir die Antwort?“
Hanna war zufrieden. Stolz konnte sie noch ergänzen: „Mein Vater arbeitet in der Hauptwerkstatt von der Bahn und wir wohnen gegenüber der Ponarther Brauerei!“
Angeregt durch das Interesse von Hanna ergänzte der Lehrer noch: „Die anderen Stadtteile oder Bezirke, wie Nasser Garten, Rosenau, Speichersdorf, Hufen, Amalienau usw. wurden entweder auch 1905 eingemeindet oder werden noch in den nächsten Jahren eingemeindet (Hinweis: Sie erfolgte 1927/1929). Dagegen die Gebiete von Roßgarten, Sackheim und Tragheim existierten bereits im Mittelalter und gehörten zu Königsberg, ohne eigenes Stadtrecht zu haben. – Es freut mich, liebe Hanna, dass du dich so für die Geschichte unserer Stadt interessierst.“
Freudig erregt lief sie nach Hause. Ach, wie sangen doch die Vögel so schön! Wie hübsch war der Löwenzahn, der zwischen Häuserwand und Gehsteigpflaster hervorlugte! Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.
Fröhlich trällernd kam sie nach Hause und strahlte über das ganze Gesicht ihre Mutter an. „Na, du freust dich ja so – heute hat es in der Schule wohl ganz besonders gut geklappt?“ „Ja – und wie! Der Lehrer hat mich gelobt und ich habe außerdem eine Eins bekommen!“ Mutter nahm Hanna in die Arme, drückte sie voller Freude und Mitgefühl und strahlte ihre Tochter an.
„Ach, Mutter, ich bin ja so glücklich!“ Mutter hatte sofort den Flickenkorb zur Seite geräumt, als Hanna nach Hause kam. Mutter hatte immer Zeit für alle. Mutter war immer freundlich und verständnisvoll. Eigentlich konnte sie mit den Kindern gar nicht richtig schimpfen, wenn es auch öfter notwendig gewesen wäre. Immer wirkte sie versöhnlich, wenn sich die Kinder untereinander gestritten hatten, immer fand sie tröstende Worte für den einen und den anderen und zum Schluss waren wieder alle friedlich. Keines der Kinder sah ihr an, wenn sie große Sorgen plagten. Sie trug die Last alleine, niemals war sie mürrisch oder ungerecht. Alle Kinder liebten darum Mutter so sehr, dass sie ihr keinen Kummer bereiten wollten. Und wenn dann doch ein Missgeschick geschah und Mutter traurig war, so war das für die Kinder schon Strafe genug. Die strenge Hand hatte dafür aber der Vater.
„Na, da wollen wir einmal gemeinsam überlegen, was wir am Sonntagnachmittag zur Belohnung unternehmen. Wollen wir einen Ausflug zum Schlossteich machen?“ „Oh ja, das wäre schön!“ Hannas Augen