Gerhard Köpf

Die Zeit auf alten Uhren


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von verdreckter Kleidung ganz zu schweigen. Über so manche „umwerfende Kutschfahrt“ wurde gefeixt oder herzhaft gelacht, auch wenn der Schaden oft so groß war, dass er sogar ein Menschenleben forderte. Nicht immer war ein Wirtshaus in der Nähe, wo Pferde und Röcke gewechselt werden konnten. Die Geschichten der Alten handelten auch von solchen, die nicht mitgenommen wurden, weil sie verdächtig aussahen oder möglicherweise den übrigen Mitreisenden lästig fallen könnten. Anlass zu gesteigerter Heiterkeit gab es immer wieder, wenn die Ein- und Aussteigmethoden diverser Herrschaften nachgeäfft wurden, wenn es über die Deichsel ging und sie sich krumm machen mussten, wo sie doch allesamt aussahen, als hätten sie den Ladestock eines preußischen Infanteriegewehres verschluckt. Und die Geschichten der Alten handelten von dem, was da noch transportiert wurde außer Menschen, also von Waren, die während der Fahrt wie besoffen hin- und her polterten, von stinkenden Heringsfässern, zerschlissenen Postsäcken, handelsüblichen Stoffballen, Vögeln in Käfigen, Hühnern in Körben oder immer noch blutig tropfendem, frisch erlegtem Wild. Nicht nur so mancher Mantelsack hing da aus dem Fenster, sondern auch die Beine des einen oder anderen Passagiers, wenn er nicht wusste, wohin sonst mit ihnen. Jeder, der schon einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, neben einem besonders fettleibigen Mitmenschen sitzen zu müssen, kann sich vorstellen, welche Tortur zur damaligen Zeit eine stundenlange Kutschfahrt über Stock und Stein gewesen sein muss. Dabei ist auch an die unterschiedlichen Körperflüssigkeiten und Ausdünstungen zu denken, die dem menschlichen Wesen sowie dem mitreisenden toten oder lebenden Vieh eigen sind. Zwischen allerhand Gepäck eingezwängt und stets unter Gottes freiem Himmel bei Regen, Schnee oder brütender Hitze erstritt man sich seinen Platz und war froh, sobald die Gäule anzogen. Und diese waren auch nicht immer gleich gut gelaunt, wie man sie sich in Mädchenbüchern vorstellt. Wer von den Kutschern mehr als fünf Meilen in sechs Stunden schaffte, der galt bereits als waghalsiger Zeit- und Rösserschinder, und so mancher Reisende hat es vorgezogen, auszusteigen und ohne seine Bagage der Kutsche voraus zu gehen, um von ihr möglicherweise erst Stunden später eingeholt zu werden. Der Name „Schneckenpost“ kommt nicht von ungefähr. Nur die Verliebten waren davon begeistert, konnten sie doch lange genug dem verlassenen Schatz nachwinken, ohne ihn aus den Augen zu verlieren.

      Meine Vorfahren, die Kutscher, debattierten gewiss oft genug über die betrübliche Tatsache, dass man für eine Fahrt aus dem Blauen Land hinauf bis nach Frankfurt eine halbe Ewigkeit benötigte, wobei nicht vergessen werden darf, dass die wenigsten Wege überhaupt für Kutschen geeignet waren. Überdies gab es die Gefährte selbst auch nicht gerade im Überfluss. In der Regel verkehrten sie höchstens einmal wöchentlich. Es hat fast bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gedauert, bis sich die Reisegeschwindigkeit steigerte und sogenannte „Eilpostwagen“ ohne längeren Aufenthalt Tag und Nacht durchfuhren. Alles hatte natürlich seinen Preis, und das Fahren mit der Kutsche war kein billiges Vergnügen. Bezahlt werden musste nicht nur jede Meile, sondern hinzu kamen Gebühren je nach Kutschenart, Kosten für den Sitzplatz, für das Gepäck sowie für diverse Grenzüberschreitungen, zumal das Vaterland längst nicht geeint war, sondern aus vielen Fürstentümern und Kleinstaaten bestand, von denen ein jeder an einer Kutschfahrt verdienen wollte. Und zu einem Trinkgeld hat noch kein Kutscher nein gesagt.

      Die schönsten Geschichten aber werden meine Vorfahren von ihren Rössern und von den Räuschen in den Gasthöfen erzählt haben, getreu dem alten Spruch: „Der Kutscher trinkt, es säuft das Pferd. Bisweilen ist es umgekehrt.“ Natürlich haben meine Ahnherren geflucht auf Teufel komm raus, und sie haben mitunter ihre Fahrgäste geärgert, gar schikaniert und sind den einen oder anderen Umweg gefahren, dreimal mit der Kirche ums Dorf, sei es, weil sie irgendwo unterwegs ein heimliches Gspusi hatten, sei es, weil sie inoffiziell noch eine unter Spezln vereinbarte Besorgung erledigen mussten, die ein extra Trinkgeld eingebracht hat. Erfahrene Passagiere wie der weitgereiste Dramatiker Kotzebue empfahlen daher, sich auf keinen Fall mit den Postillions anzulegen, zumal diese äußerst reizbar und jähzornig seien und bei jeder noch so zarten Ermahnung, gefälligst doch ein wenig schneller zu fahren, sogleich von grober Wut gepackt würden. Irgendwelche Dienstvorschriften mögen zwar existieren, beklagt der Dichter, doch schere sich kein Kutscher darum: „Der Postillion geht in das Wirtshaus, tut sich gütlich, und der Reisende hat das Vergnügen, aus seinem Wagen heraus, durch das Fenster des Wirtshauses, ihn am Tisch sitzen zu sehen, wo er sich oft sogar warme Speisen auftragen lässt, ohne sich darum zu bekümmern, ob den Reisenden hungert oder ob er Langeweile hat. Sagt man ein Wort dagegen, so bekommt man Impertinenzen zu hören.“ Aber derlei feine Herrchen hatten meine Vorfahren gefressen, die kamen ihnen gerade recht, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie den einen oder anderen extra Vornehmen mit ihrem losen Maulwerk und ihren Flüchen nicht nur zum Schweigen gebracht, sondern derart zur Katz' gemacht haben, dass der sich sogar jeden lauten Schnaufer gut überlegt hat.

      Einer meiner Vorfahren mit dem Beinamen Falkenstein-Sepp hat es sogar zum Kutscher seiner Majestät König Ludwigs II. gebracht. Er, ein bildhübscher Kerl „mit klarblauen Vergißmeinnichtaugen“, wie es eigens in einer Chronik vermerkt ist, der sein Lebtag unbeweibt blieb und sich eher zu den Rössern und den Jünglingen hingezogen fühlte als zu den Röcken, war bei den nächtlichen Fahrten dabei, die von Neuschwanstein ihren Ausgang nahmen und nach Schloss Fernstein oder zur Burg Falkenstein führten, wo der König seine letzte Gralsburg errichten wollte. Wenn der Befehl zum Anspannen kam, durfte sich außer den Kutschern keiner im Schlosshof blicken lassen. Dann erschien die Majestät entweder im hellen Sommerleinen mit einem künstlerisch drapierten blausamtenen Umhang, oder im Winter eingehüllt in einen mächtigen Fellmantel, nobles Präsent des russischen Zaren, über den Knien eine dicke Decke aus Gänsedaunen, und auf dem kühnen Hut, den ihm Elisabeth, die Kaiserin von Österreich persönlich ausgesucht hat, blitzte eine Diamantenagraffe. Meist mussten die Kutscher und Lakaien Kostümen im Stile des französischen Sonnenkönigs erscheinen, den Seine Majestät fast so sehr verehrte wie den unseligen Kompositeur Richard Wagner. Dann ging es von Anfang an in hohem Tempo hinaus in die Nacht des Blauen Landes, geführt von einem ortskundigen und kavalleristisch erfahrenen Vorreiter mit einer weithin leuchtenden Laterne, die zu linker Hand in einem Schaft am Sattelzeug befestigt war. Am liebsten benutzte Ludwig II. aber den sogenannten „Puttenschlitten“, eine mit Kufen versehene offene Prunkkutsche. Dieses nach Entwürfen eines Theatermalers gebaute Gefährt, das einer bauchigen, vom Mondlicht bemalten Gondel glich, an deren Bug die mit Glühlampen illuminierte Königskrone leuchtete, ganz so, wie es von Rudolf Wenig gemalt wurde, wurde von vier Pferden gezogen, auf den Sattelpferden saßen zwei ausnehmend hübsche Reitknechte, denn der König hatte viel übrig für gut gewachsenes Stallpersonal. Sie und der hochherrschaftliche, selbst schon fast majestätisch hoch zu Ross thronende Vorreiter waren in phantasievolle samtene Kostüme über der dicken, in zwei Schichten getragenen Unterwäsche gekleidet, sie trugen dreispitzige Hüte, unter denen friderizianische Zopfperücken hervorlugten, und sie hatten über die Knie reichende Stiefel an den Beinen, wie sie sonst nur noch den Chevaulegers vorbehalten waren. Das Geschirr der Pferde bestand aus aufwendig gearbeiteten Schabracken, kostbar beschlagenen Sätteln und mit allerlei Zierrat versehenem Zaumzeug, die Staffage geizte nicht mit allerlei bunten Straußenfedern und silberhell klingenden Glöckchen und Schellen. Hatte der König die Schimmel befohlen, so war die vorherrschende Farbe der Ausstattung blau, denn Weiß und Blau sind die Farben Bayerns und seines Himmels. Wurden aber die Rappen angespannt, ein Geschenk seiner Apostolischen Majestät, des Kaisers von Österreich, so entschied man sich mit diplomatischer Rücksicht auf die Landesfarben für die roten-weiß-roten Garnituren. Schnell wie der Wind ging es über Land, durch eingeschneite Täler des Ammerwaldes, bergauf, bergab, und schon von weitem hörten die königstreuen Bewohner des Blauen Landes den majestätischen Hufschlag und das Klingen der königlichen Glöckchen. Dann ließen auch die Kinder in den Stuben die Löffel fallen, schoben die ärmlichen Vorhangfetzen vor den Scheiben zur Seite und warteten, bis im Schein der Fackeln und der Laternen der König in einer mondhellen Nacht an ihnen vorüber glitt wie das Christkind in einer Kutsche, die ganz aus Gold schien. Kaum einer hatte da ein Auge für den Kutscher des Königs, den Falkenstein-Sepp, der die ganze Verantwortung trug, um seinen königlichen Passagier nicht nur heil an sein Ziel, sondern auch gesund wieder auf Schloss Neuschwanstein zu bringen. Bei dem ständig befohlenen gestreckten Galopp war das keine Kleinigkeit.

      Nach der Ermordung Ludwigs II. durch heimtückische, von Bismarck gedungene preußische Heckenschützen hat sich mein Vorfahr auf den Falkenstein in