der alle Körperprozesse in ihrem jeweiligen Gleichgewicht aufrechterhalten werden. Dies ist auf jeden Fall kein statischer, sondern ein kontinuierlicher, lebendiger Prozess. In A. T. Stills Autobiographie wird das folgendermaßen beschrieben:
„Ich hoffe alle die, die dies nach mir lesen, werden meine volle Überzeugung wahrnehmen, dass der Verstand Gottes in der Natur seine Planungsfähigkeit – sofern Pläne nötig sind – und die Schaffung selbst organisierender Gesetze ohne Muster für die Myriaden von Lebensformen bewiesen hat; er hat sie bestens mit den Maschinen und Batterien der motorischen Kraft für die Pflichten des Lebens ausgestattet. Jeder Teil ist voll ausgerüstet, seine Pflicht zu übernehmen, in der Lage auszuwählen und sich selbst aus dem großen Labor der Natur die Kräfte anzueignen, die er benötigt, um die Pflichten der jeweiligen Abteilungen in der Ökonomie des Lebens zuzuordnen … Etwa 12 Monate war ich damit beschäftigt, meinen Webstuhl zu überprüfen. Ich habe einen besonders fein gebauten Webstuhl; weder irdisch noch von Hand gemacht … Durch die in ihnen (Gewinden) enthaltenen Kunstfertigkeiten ist es für mich nur nötig, den Webstuhl in Bewegung zu setzen.“ 20
Die meisten von uns, egal ob als Behandler oder Patienten, vertrauen, was das Aufrechterhalten von Gesundheit und das Bekämpfen von Traumen und/oder Krankheit anbelangt, blind und fraglos auf ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation. Ich jedoch habe eine Frage: Wie viel mehr könnten wir als Ärzte und Chirurgen für unsere Patienten erreichen, wenn wir unser Bewusstsein für die Potenziale dieser Selbstorganisation in uns und in unseren Patienten, sooft diese uns konsultieren, entwickeln und nutzen würden? Jeder Einzelne von uns muss seine eigenen Fragen stellen und seine eigenen Antworten suchen.
Fluktuation: Die mit Hilfe von Palpation oder Perkussion beobachtete Bewegung einer Flüssigkeit in einer natürlichen oder künstlich geschaffenen Höhlung.
Der Liquor cerebrospinalis fluktuiert rhythmisch innerhalb einer natürlichen Höhle, dem Neurokranium. Das lässt sich durch Palpieren feststellen. Da der Körper im Grunde aus Flüssigkeit besteht und dazu noch der Liquor cerebrospinalis teilweise in sein Lymphsystem absorbiert wird, kann man die Fluktuation des Liquor überall im Körper wahrnehmen.
Die durch Palpieren feststellbaren, grundlegenden rhythmischen Fluktuationsmuster des Liquor cerebrospinalis stellen longitudinale, alternierend laterale und spiralförmige Muster dar. Es gibt wahrscheinlich noch viele andere Muster oder Musterkombinationen, die sehr klein und daher nicht so leicht zu bemerken sind. Ein spezifischeres rhythmisches Fluktuationsmuster des Liquor cerebrospinalis kann palpiert werden, indem man den Liquor cerebrospinalis entlang einer maximalen diagonalen Richtung in einem beliebigen Körperteil lenkt.
Allgemein nimmt man an, dass die Fluktuationsgeschwindigkeit des Liquor cerebrospinalis im gesunden Zustand bei 10–14 Mal pro Minute liegt. Sie kann jedoch den verschiedenen Dysfunktionszuständen im einzelnen Menschen entsprechend variieren und ist so bei chronischen Erkrankungen möglicherweise sehr verlangsamt, bei Fieber dagegen erhöht.
Wesentlich wichtiger als ihre Geschwindigkeit ist aber die Qualität der Fluktuationsmuster. Ist der Zustand gesund, spürt man beim Palpieren eine volle Amplitude, Vitalität und lebendige Dynamik. Liegt dagegen rheumatoide Arthritis vor, findet man aufgrund einer Stase in Bindegewebe und Lymphsystem eine dünne, verwässerte, niedrige Amplitude, und nach einer Meningitis oder Enzephalitis empfindet man sie als träge, da die reziproke Spannungsmembran die Qualität ihres physiologischen Tonus verloren hat. Das sind nur ein paar von vielen klaren Beispielen für die variable Qualität des Liquor-Fluktuationsmusters. Der lebendige Liquor cerebrospinalis reagiert mit ihrer offenkundigen Fluktuation auf die Herausforderungen eines von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag wechselnden Gesundheitsmusters im einzelnen Organismus und reflektiert durch Veränderungen ihrer Qualität und Geschwindigkeit diese Vorgänge.
Dr. Sutherland sagt uns, dass die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis an erster Stelle steht, als ein Phänomen an sich, und ich bin mit diesem Gedanken vollkommen einverstanden. Es gibt andere, die anderer Meinung sind, und sie mit der Kontraktilität des Zentralen Nervensystems oder der rhythmischen Inhalation oder Exhalation des respiratorischen Systems in Verbindung bringen möchten. Es ist offensichtlich, dass es Zusammenhänge und Beziehungen gibt zwischen allen lebendigen Geweben und der Geschwindigkeit ihrer rhythmischen Funktion, der Motilität des Zentralen Nervensystems, der wiegenden Bewegung der reziproken Spannungsmembran, dem rhythmischen respiratorischen Mechanismus und anderen, sowohl willkürlichen als auch unwillkürlichen Mechanismen und dass diese die Fluktuation des Liquor modifizieren und umgekehrt wiederum von ihr modifiziert werden. Trotzdem werden wir als Behandler mit unserer bewussten Wahrnehmung und unseren palpatorischen Methoden bei Diagnose und Behandlung bessere Arbeit leisten, wenn wir uns beim Umgang mit den Flüssigkeitsdynamiken des Liquor cerebrospinalis von dem Gedanken leiten lassen, dass der Liquor das primäre Phänomen ist. Als Analogie könnte man hier heranziehen, dass ich ja auch dem Herzen aufmerksamer zuhöre, wenn ich weiß, dass es die Hauptpumpe des kardiovaskulären Systems ist. Das bringt uns zurück zu dem vorhin Gesagten: Wir sind beim Anwenden unserer Fähigkeiten beteiligt an einem lebendigen Dasein in einem lebendigen Körper.
Nun zu einer anderen Form von Fluktuationsmuster: Die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis sowie die Motilität des Zentralen Nerven-systems und der reziproken Spannungsmembran produzieren innerhalb des Kraniosakralen Mechanismus eine mit Außen- und Innenrotation der paarigen Knochen verbundene rhythmische Flexion und Extension der Gelenkmobilität der kranialen Knochen in der Mittellinie und des Os sacrum. Diese rhythmischen Muster sind nicht auf den Kraniosakralen Mechanismus beschränkt, sie treten überall im gesamten anatomisch-physiologischen Mechanismus des Körpers auf. Und diese Mikrobewegung in jedem Knochens, jeder Zelle und jeder Flüssigkeit ist einer der essenziellen Faktoren der auf Gesundheit gerichteten Selbstorganisation des Körpers. Das ganze Leben eines Menschen hindurch ist es diese unwillkürliche Bewegung, die ihren Beitrag zu Cannons Homöostase leistet und zu Stills ‚ewigem Gesetz von Leben und Bewegung.‘ Sie geht mit allen willkürlichen Bewegungen des arbeitenden, spielenden oder ruhenden Menschen einher und kann palpatorisch erspürt werden.
Ich möchte hier zwei diagnostische Tests empfehlen, die diese unwillkürliche Bewegung und Selbstorganisation des Körpers nutzen:
1.Der Patient hat einen Bereich mit einer somatischen Dysfunktion, die du als Behandler korrigieren möchtest. Mit Hilfe einer aufmerksamen und zugleich ruhigen Palpation überprüfst du zunächst irgendwo anders im Körper des Patienten und dann speziell im Bereich der somatischen Dysfunktion, von welcher Qualität die Muster der unwillkürlichen Flexion/Außenrotation bzw. der unwillkürlichen Extension/Innenrotation sind. Überprüfe das erneut, nachdem sich die somatische Dysfunktion in der Behandlung korrigiert hat. Wenn du nun im Bereich der somatischen Dysfunktion eine unwillkürliche Bewegung von ungefähr gleicher Qualität spürst wie im Testbereich, kannst du sicher sein, dass sich deine Korrektur weiter in Richtung Gesundheit für das behandelte Problem entfalten wird. Erspürst du jedoch nach der Korrektur im Bereich der somatischen Dysfunktion keine verbesserte unwillkürliche Bewegung, hast du zwar möglicherweise die Mobilität in diesem Bereich verbessert, aber seine inhärente Funktion steht dem Körper nicht zum sofortigen Gebrauch zur Verfügung.
2.Sei dir mit einer aufmerksamen und gleichzeitig ruhigen Palpation aller Komponenten der Selbstorganisation bewusst, die mit der Qualität der Liquorfluktuation und der unwillkürlichen Bewegung im Körper verknüpft sind. Palpiere nun, um die Gesamtvitalität der anatomisch-physiologischen Mechanismen zu befunden. Obwohl diese Vitalität nicht unbedingt elektrischer Natur ist, vergleiche ich es gerne mit einem Messen von Voltspannung und erstelle für jeden Patienten einen geschätzten Befund. Anders gesagt: Die Vitalität des Durchschnittspatienten sollte sich so anfühlen, als läge sie bei 110 Volt. Bei einer Dysfunktion, zum Beispiel einem chronischen Zusammenbruch des Nervensystems, kann die Voltspannung dagegen 60, 50 oder weniger betragen. Dasselbe gilt für rheumatoide Arthritis. Ist der Patient in einem Zustand akuter Müdigkeit, kann dieser Vergleich mit einer Voltspannung ebenfalls einen niedrigen Befund ergeben, bei dem man aber spürt, dass er zeitlich begrenzt ist und sich während eines guten Nachtschlafes vermutlich selbst korrigieren wird. Bei einem professionellen Athleten liegt die Spannung nicht bei 110, sondern bei 220 Volt. Das ist auch nötig bei all dem, was diese Leute in ihrem Sport aushalten müssen.