Martin Löschmann

Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen


Скачать книгу

Engagements war eine Zeitlang das Briefeschreiben: aufklärerische Briefe, für die ich mich heute wegen ihrer begrenzten Argumentationskraft bestimmt schämen würde, bekäme ich sie denn zu Gesicht. Gern möchte ich heute wissen, was genau ich als Oberschüler der neunten oder zehnten Klasse an Harald Wedel z.B. schrieb, dem bereits erwähnten Sohn unseres Ortgruppenleiters, der – hieß es – ins Großkapital oder war es der Landadel eingeheiratet hätte. Es würde mich wundern, wenn ich ihn nicht auf die Kriegsgefahr hingewiesen hätte, die er durch seine Heirat heraufbeschwöre. Er hat mir nicht geantwortet, der Brief ist auch nicht zurückgekommen. Vermutlich wurden meine Briefe wegen ‚kommunistischer Friedenspropaganda‘ aussortiert und vernichtet, wie es millionenfach in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik geschah. Aus der Sicht dieser Verwandten muss ich das schwarze Schaf gewesen sein

      Es wäre reizvoll, überlege ich, bei einem zweiten Familientreffen (von keiner Seite bisher wirklich angestrebt) ein Rollenspiel zu initiieren:

       Wer wäre denn gern das schwarze Schaf im gegebenen Familienverband geworden oder möchte es werden? Und wenn ja, wie viele?

      Kati, die Schauspielerin hätte werden können, würde bestimmt den Reigen beginnen. Ein Ansatz: das angedrohte oder versuchte Hinwerfen der Dissertation kurz vor deren Abschluss. Das geschah in der Zeit der großen Veränderungen, in die sie aktiv eingebunden war. Ihr Vater, der 12 Promovenden und Promovendinnen zum erfolgreichen Abschluss geführt hatte, konnte gar nicht anders, als sie zum Weitermachen trotz aufregender und aufgeregter Zeiten zu ermutigen. Was musste der nicht alles wegstecken: Für mich beginne der Mensch erst beim Doktor vor dem Namen, war nicht der schlimmste Vorwurf.

      Julika, allmählich auf die dreißig zugehend, weiß noch immer nicht recht, was sie wirklich will. Sie erklärte bereits im zarten Alter von sieben oder acht der versammelten Runde ihrer promovierten Großfamilie kategorisch: „Doktor werden wie ihr alle will ich nicht, auf keinen Fall“. Doch kein Doktor sein zu wollen ist fraglos kein Maß für ein schwarzes Schaf.

      Janis, ihr Bruder, hat sich nicht davon beeinflussen lassen, verfolgt konsequent sein Ziel und steckt derzeit – 2014 – mitten in der Promotion.

      Hanna, nach dem Umzug von Coburg nach Chemnitz, als die Mutter dort ihre Praxis eröffnete, legte sich die Latte tiefer, wechselte mehr oder minder munter zwischen den Schulformen: Gymnasium – Realschule – Gymnasium – Fachgymnasium. Was hat sich Hanna nicht alles an Argumenten anhören müssen, Wirkung zeigte das wenig, schon gar nicht mein Verweis auf wissenschaftliche Untersuchungen unter Jugendlichen, wonach mit steigender Bildung die Zufriedenheit mit dem persönlichen Leben wachse. Ich will mich lieber nicht als Prophet betätigen, wundern würde mich nicht, wenn sie als vorerst einzige den Löschmann’schen Nachkriegsstammbaum ohne Abitur ziert und einen anderen Weg geht.

      Jörg und Kati wären überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, kein Abitur zu machen, jedenfalls kam mir nichts Derartiges zu Ohren. Birge, Britta, Christiane, Gernot, Maren, Olaf, Wiebke und wie sie alle heißen, höchstwahrscheinlich auch nicht. Dass Olafs Söhne studieren werden, scheint sicher wie das Amen in der Kirche. Hanna in dieser Beziehung das aktuelle schwarze Schaf? Kaum einer im engeren Familienkreis will es wie ich sehen. Wer habe nicht alles das Abitur geschmissen: Thomas Mann verließ das Lübecker Gymnasium Katharineum vorzeitig, Theodor Fontane gehört zu den Schulabbrechern, Einstein nicht vergessen.

      Jörgs Aussteige-Ambitionen wurden nach dem Abitur ernst und kamen radikal daher. Eines Tages zog er aus der elterlichen Wohnung aus und bewies Vater und Mutter, dass es in der DDR, in Leipzig, in der Windscheidstraße, möglich war, mit einer Gang eine Wohnung zu finden und darin zu leben, ohne sich polizeilich anzumelden. Am Tag des Umzugs hatte ich einen Termin in Berlin und Marianne musste die Last seines Ausstiegs allein tragen: „Nur nicht weinen, keine Vorwürfe, keine Drohungen, eine Flasche Sekt spendieren und den Abschied gestalten.“ Es gelang, ein Kumpel äußert sich: „Du, so furchtbar finde ich deine Mutter gar nicht.“

      Nach einigen Wochen, in denen wir uns große Sorgen um unseren Sohn machten, zog er wieder bei uns ein. Gern möchte ich davon ausgehen, dass ihm unser, in diesem Fall behutsames Vorgehen half, den Weg zurückzufinden. Wir haben ihn besucht, als wäre sein Auszug etwas eher Alltägliches, haben ihn zum Essen eingeladen, ihn nicht als schwarzes Schaf betrachtet, wozu ich in dieser kritischen Zeit gelegentlich neigte. Rational sah ich ein, dass wäre der falsche Weg gewesen, emotional sträubte sich in mir vieles, die Tür nicht zu verschließen. Nichts wäre falscher gewesen als das, da hatte seine Mutter Recht.

      Man muss sich schon fragen, was ist in einem solchen Fall falsch gelaufen: Überforderung, zu harsche Durchsetzung von Forderungen an einen jungen Menschen, vor allem Unterschätzung von Aushandlungsstrategien. Was immer den Ausschlag gegeben haben mag, ein Absetzen von der Familie, gleich welcher Gestalt, ist ein natürlicher Vorgang im Prozess des Erwachsenenwerdens, die Art und Weisen sind verschieden. Man agiert auch als Elternteil nicht im zeitlosen Raum, kann sich schwer von den eigenen Bindungen und Erfahrungen lösen, macht Fehler, die, wenn überhaupt, erst im Nachhinein als solche erkannt werden.

      Unser Sohn wähnte sich lange im Glauben, er hätte gewusst, wie wir ihn richtig hätten erziehen können, ja müssen. Den Glauben haben wir ihm nicht erschüttern können, das vermag nur das Leben selbst – böser, alter Elternspruch: Unsere Enkel werden uns rächen. Tochter Julika geht ihren eigenen Weg, oder sollte ich schreiben: geht ihre eigenen Umwege. Eines Tages brachte sie allen Vätern und Müttern der Familie das Buch von Alice Miller Das Drama des begabten Kindes mit. Abgesehen von der bewegenden Biografie der Autorin, stießen wir in ihrem Buch auf diskussionswürdige Ansichten, mit denen uns Julika allein ließ. Offensichtlich wollte sie uns zu verstehen geben, dass sich Kinder am besten ohne Anforderungen von außen entwickeln. Wir lesen in diesem Buch:

      Ein Kind soll in seinem eigenen Wesen gestützt und gefördert werden. Sofern sich das Kind in seiner Eigenart und Besonderheit ausleben darf, entwickelt es sich von selbst zu einem gesunden und sozialen Wesen.

      So sehr das Ausgehen vom Kinde, der behutsame Umgang mit ihm, das Eingehen auf das Kind unabdingbar sind, so wenig kann ich mir sein gedeihliches Heranwachsen ohne die geleitete aktive Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Realität vorstellen. Deshalb ist für mich Alice Millers einfühlsames Herangehen bestenfalls die eine Seite der Erziehungsmedaille, die andere die Notwendigkeit, Verhaltensregeln zu erwerben, die das Bestehen in der Gesellschaft ermöglichen. Deshalb, Julika, bitte nimm, wenn es ernst wird mit der Erziehung eines eigenen Kindes, ergänzend z.B. das Buch von Annette Kast-Zahn Jedes Kind kann Regeln lernen zur Hand.

      Da das Spiel vom schwarzen Schaf in der Löschmann’schen Familie bisher nicht gespielt worden ist, muss der Leser mit meiner Sicht vorliebnehmen. Onkel Hugo ist für mich ein klarer Fall, bei all den weiteren, angedeuteten Fällen lassen sich lediglich Ansätze zum schwarzen Schaf erkennen, je nach gewähltem Umfeld und Perspektive. Schwarze Schafe können Außenseiter, Sonderlinge, Einzelgänger, Störenfriede, Kriminelle, aus dem Familienverband Ausbrechende, ihren eigenen Weg Gehende, Querdenker sein. Der Begriff ist zwar im landläufigen Sinne negativ geladen, muss es aber nicht sein. Im Alten Testament gibt es die bekannte Geschichte von Thomas Mann in seiner Tetralogie Josef und seine Brüder gestaltet, wonach Jaakob, Vater von Josef, als gerechten Lohn für seine jahrelange Arbeit von seinem Schwiegervater Laban bekanntlich die gefleckten und gescheckten Ziegen und Böcke sowie die schwarzen Schafe der Herde erbittet, die wegen der Farbe ihrer Wolle gering geschätzt waren. Es hat den Anschein, als ob er in bemerkenswerter Bescheidenheit minderwertige Tiere auswählte, doch er züchtete aus den nicht gewünschten Tieren eine kräftigere eigene Herde.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную