Martin Löschmann

Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen


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Familientreffen in Abwesenheit von Onkel Hugo

       Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.

       Alle glücklichen Familien gleichen einander.

      Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi

      „Du, Martin, zu deinem Begräbnis komme ich nicht und du musst auch nicht zu meinem kommen“, sagt Irla am letzten Tag der gemeinsamen Reise zu unserem Heimatdorf. Jacob Böhme stellt sich stracks ein: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, verdirbt, wenn er stirbt.“ Im ersten Moment bin ich verdutzt, flachse, wo ich hätte ernsthaft reagieren sollen: „Kommt Zeit, kommt Rat, noch ist es ja nicht so weit.“ In Wahrheit gibt die ausgesprochene Befreiung von der Begräbnisteilnahme den letzten Anstoß, in Berlin ein Familientreffen zu organisieren, bevor es zu spät ist: Irla ist die Älteste in der Löschmannfamilie und als Zeitzeugin anerkannt. Ein Treffen, keine Feier, wie Jörg und andere die Begegnung trotz meines Einspruchs immer wieder nannten, eine Begegnung mit bestenfalls katalysatorischem Effekt. Die Idee hatte es seit langem gegeben. Umbruchzeiten führen zur Besinnung auf die Familie. „Denn zu Zeiten der Not bedarf man seiner Verwandten.“ (Goethe)

      Es brauchte jedoch eine lange Zeit, bis die Idee zum Durchbruch kam. Für den langen Weg bis zur Realisierung – fast 20 Jahre – gibt es verschiedene Erklärungen: Der Krieg hatte unsere Familie nicht nur dezimiert, sondern ihr auch die Existenzgrundlage entzogen. Vater, Bruder und Schwager, alle erwachsenen Männer, waren nicht zurückkehrt und der Rest der Familie in die verschiedensten Gegenden Deutschlands verschlagen. Irla kam, wie weiter oben mitgeteilt, nach Schleswig-Holstein, ihr folgte nach drei Jahren die Zweitälteste, Renate, unsere Mutter blieb mit den beiden Jüngsten, Gisela und mir, in Sachsen-Anhalt. Dort, aus dem Güterzug zermürbt ausgeladen, richtete sie sich traumatisiert, schicksalsergeben als einzige in der Ostzone ein. Der auf Grund der Entfernung einsetzende Entfremdungsprozess wurde durch den Mauerbau jäh verstärkt: Schluss mit Besuchen von Mutter und Geschwistern aus dem Osten, nun mussten die aus dem Westen uns besuchen. Außer Irla und Renate kamen keine weiteren Westverwandten nach Zeitz. Sie hatten mit dem Osten nichts im Sinn, höchstens ein Kopfschütteln parat, dass meine Mutter mit uns nicht in den Westen gegangen war, als es noch ging. Somit kann man sie getrost zu dem Fünftel der Westdeutschen zählen, die bald ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall nie in Ostdeutschland waren. Erst nach 1964, als Rentner wieder in die Bundesrepublik fahren durften, durchbrechen die Reisen der Mutter den einseitigen West-Ost-Verkehr.

      Die vermauerte Teilung Deutschlands hatte unerbittliche Familieneinschnitte mit sich gebracht. Zum Beispiel die Verpflichtung, während unseres dreijährigen Finnlandaufenthaltes Ende der 60er Jahre jeglichen Briefkontakt mit Irla und Renate aufzugeben. Wir akzeptierten das Schreibverbot offiziell, hielten trotz dessen von Finnland aus wie bisher eher losen Kontakt, aber beschämend war das Verbot auf alle Fälle, zumal meine beiden Schwestern keinerlei Position mit Geheimnisträgerschaft innehatten, um in irgendeiner Weise für irgendjemanden von Interesse zu sein: Hausfrau in Hohenaspe die eine, Arzthelferin in Dortmund die andere.

      Kati gehörte von Anfang an zu den Befürwortern des Treffens und setzte sich für sein Gelingen ein. „Für mich ist das Familientreffen eine stille Nachholestunde.“ Die Feststellung war umso bemerkenswerter, als unsere Tochter lange Zeit Alternativen zu dem ihr vorgelebten Familienleben gesucht hatte, raus aus dem bürgerlichen, erst recht aus dem sozialistischen. Nach Promotion und einem für die Arbeit als zugelassene Psychotherapeutin erforderlichen Zweit-, einem kostenintensiven Fernstudium in Bamberg, ist sie in Chemnitz angekommen und dieses Angekommensein schloss die Besinnung auf die Familie wohl ein. Von unseren beiden Kindern ist sie dasjenige, das einen engen Kontakt zu Anverwandten hat, zu Maren insbesondere, der Jüngeren von Giselas zwei Töchtern.

      Meine Mutter unkte ein wenig herum, als 1958 die Doppelhochzeit von Irla und Gisela in Zeitz feststand. Solche Hochzeiten verhießen für sie nichts Gutes. Kinderlosigkeit wäre eine Strafe für eines der Paare, Krankheit und Tod eine andere. Sie hatte es selbst erfahren und konnte den Aberglauben nicht gänzlich beiseiteschieben: Doppelhochzeit, Erna und ihre Schwester Gertrud Krack aus Morgenstern heirateten zwei Löschmann-Brüder: Max und Hugo. Während meine Eltern fünf Kinder in die Welt setzten, starb Tante Gertrud kinderlos an Tuberkulose, zwei, drei Jahre nach der Hochzeit.

      Solange meine Mutter lebte, ging es mit beiden in Zeitz getrauten Ehepaaren – Irla plus Christian Mundt und Gisela plus Wolfgang Fuhrmann – gut. Fast dreißig Jahre wohnte meine Mutter mit der Tochter zusammen, führte ihr auf weiten Strecken den Haushalt, betreute die Kinder, beaufsichtigte sie beim Lernen und Musizieren. Obwohl sie prinzipiell nicht in die Erziehung eingreifen wollte, gelang es ihr nicht, sich herauszuhalten: „Britta hast du schon …, Maren vergiss bitte nicht …, Gisela, du musst jetzt gehen, sonst kommst du zu spät.“ Vor meinem Schwager allerdings verstummte sie. Kam sie nach Leipzig zu Besuch, hielt sie sich bei uns konsequent aus allem heraus, lobte dies und jenes mit kargen Worten, vermied alles, was als Einmischung hätte aufgefasst werden können. Sie habe nicht vergessen, wie ihre Schwiegermutter sie immer wieder aufs Neue bevormundete.

      Nach dem Tod unserer Mutter verfing sich mein Schwager Wolfgang in der Liebe zu einer Verlagsmitarbeiterin und verließ Gisela. Sie, die viele Jahre als Schöffin zahlreiche Ehescheidungen erlebt und beurteilt hatte, konnte es nicht fassen, dass ihre Ehe auseinanderbrach. Da half kein Reden, schon gar nicht das Verweisen auf die Vielzahl von Scheidungen um sie herum, da half keine Unterstützung: „Du kannst mit Maren zu uns kommen, bis du wieder Grund unter den Füßen hast.“ Einen langen Brief habe ich ihr geschrieben, um sie von den angedeuteten Selbstmordgedanken abzubringen und ihr als Wichtigstes die Verantwortung für ihre beiden Töchter, Maren, gerade mal 13, und Britta als Studienanfängerin in Jena auf die Familienbande besonders angewiesen, vor Augen und Seele zu führen. „Martin, wenn du mit mir sprichst, leuchtet mir ein, was du sagst, ich fasse Mut und denke, recht hat er. Aber wenn ich nach Hause komme, überfällt mich eine Dunkelheit, tut sich vor mir ein Abgrund auf, aus dem es kein Entrinnen gibt.“

      Eine psychotherapeutische Behandlung hätte sicher etwas ausrichten können, doch die gab es in der DDR kaum. In der Nähe von Halle befand sich zwar eine Einrichtung, in der Suizidgefährdete erfolgreich behandelt wurden, wie wir in Erfahrung gebracht hatten, lange Wartelisten jedoch verhinderten die Aufnahme akuter, für den Aufbau des Sozialismus nicht unmittelbar relevanter Fälle. Bis zu einem Jahr Wartezeit in ihrem Fall. Dieses Jahr hätte mein Schwager mit seiner Frau gemeinsam überbrücken müssen. Sie war psychisch erkrankt, was uns und wahrscheinlich auch ihm nicht wirklich klar war. Da Wolfgang nicht die Kraft und die Entschlossenheit besaß, mit Gisela gemeinsam einen für beide dornigen Weg bis zur fälligen Psychotherapie zu finden und zu gehen, haben wir den Kontakt zu ihm abgebrochen und ihn deswegen nicht zum Familientreffen eingeladen, wie Jörg es gewünscht hatte. Die Wunde wird wohl offen bleiben. Wir erkennen unsere Schuld daran.

      Nach zwei erfolglosen Suizidversuchen legte sich Gisela die Schlinge um den Hals. Für alle Hinterbliebenen ein furchtbarer Schlag, unfassbar, alles nur nicht das. Wie war sie lebenslustig, stand mit beiden Beinen sicher im Leben, leitete erfolgreich eine Buchhandlung in Halle-Neustadt, ließ uns die eine oder andere Lektüre-Bückware erwerben – Böll, Faulkner, Miller, Sartre, Stefan Zweig. Die gab es einzig und allein unter dem Ladentisch. Es konnte aber auch passieren, dass sie geschäftstüchtig unumwunden sagte: „Martin, den Hemingway kannst du nicht bekommen, ich habe da einen Kunden, der kauft deinen Hemingway plus ein Bündel von Parteiliteratur“ und dabei auf einen Stapel Broschüren zeigte, der mittels Bindfaden zusammengehalten auf den Abholer wartete. „Ich muss meine Vorgaben erfüllen.“

      Buchhändlerin war ihr zweiter Beruf. In den Wochen der Umschulung an einer Fachschule in Leipzig war sie oft bei uns und wir haben in unserer Wohnung in der Springerstraße 4 trotz angestrengten Studiums eine recht lustige Zeit mit ihr verbracht. Über die Familienbande hinaus verband uns mit ihr und ihrem Mann eine feste Freundschaft. Es gab gegenseitige Besuche zu allen Gelegenheiten, wir haben tolle Feste gefeiert, gelegentlich Urlaub gemeinsam verbracht. Wir konnten uns aufeinander verlassen – Zusammenhalten der zwei jüngsten Geschwister, der durch gemeinsame Kriegs- und Nachkriegserlebnisse Geprägten, und nun diese jähe Wendung. Weshalb ich in meiner kurzen Begrüßungsrede zum Familientreffen darauf hinweise, dass uns nicht nur die gemeinsamen