Allzu gern wüsste ich, was aus ihm geworden ist – das schreibend, werde ich von der Erkenntnis überrascht: Der Wunsch nimmt erst beim Schreiben Gestalt an. Was soll’s, ich kenne nicht einmal seinen Familiennamen.
Einmal bin ich mitten in der Nacht von einem furchtbaren Lärm, durchsetzt mit Schreien, aufgewacht. Ich habe mich gefürchtet und zog die Bettdecke über den Kopf. Mir ein Herz fassend, stand ich schließlich auf und folgte den Schreien, öffnete ängstlich die Tür zur Küche, hinter der ich und wie sich zeigte zu recht etwas Furchtbares vermutete. Zwei Männer in Uniform und mein Vater standen um einen Gefangenen herum, einer der Uniformierten hatte einen Schlagstock in der Hand und holte gerade aus, als mein Vater mich in der Tür bemerkte und mich zurück ins Bett scheuchte. Am nächsten Tag gab es für die nächtliche Störung folgende Erklärung: Mehrere Gefangene seien aus dem Lager ausgebrochen, einen davon habe man in einem unserer Kornfelder in der Abenddämmerung gestellt und in die Bürgermeisterei gebracht. Man habe ihn verhört und durch Schläge versucht herauszubekommen, wie die Flucht bewerkstelligt worden sei und wo sich seine mit ihm geflohenen Gefangenen versteckten. Er habe zwar fürchterlich geschrien, als er gepeitscht wurde, herausgepresst haben sie wohl nichts aus ihm. Er wurde in die Kreisstadt überstellt, wie es im Gendarmen-Deutsch hieß.
Vor Marcel schon war ein polnischer Jugendlicher unserem Hof ‚zugeführt‘ worden. Adam wurde er genannt, kaum über 15. Wie er zu uns kam, weiß ich nicht. Mein Vater hätte mir keine Antwort gegeben, „Das verstehst du noch nicht, dafür bist du zu klein.“ Meine Mutter, die ihrem Mann nicht widersprechen wollte, verstrickte sich in vagen Andeutungen: Adam sei elternlos und verwahrlost in Warschau von deutschen Soldaten aufgegriffen und wie andere polnische Jungen und Mädchen in einer deutschen Familie untergebracht worden. Dass man ihn wie einen Knecht behandelte, blieb uns natürlich nicht verborgen. Wir Kinder fühlten uns zu ihm hingezogen, damit meine ich mich und meine Schwester Gisela – deine verstorbene Großtante, Julika. Er war für uns eine Art älterer Bruder, kam aus einer anderen Welt, aus dem Wald, aus dem die Züge heranstampften, drei, vier Jahre jünger als mein Bruder Dietrich, der, nach Notabitur zum Offizier ausgebildet, an die Ostfront kam und 1945 in Russland gefallen ist. Adam spielte in seiner Freizeit oft mit uns: Räuber und Gendarm z.B. Wir bewunderten ihn, wenn er etwas Verbotenes tat und das passierte nicht selten. Er rauchte gern, am liebsten Zigarren. Um uns seine Zuwendung zu erhalten, klauten wir aus der Zigarrenkiste meines Vaters ab und an eine dicke Zigarre für ihn. Heute weiß ich, dass er sich mehr zu Renate, meiner zweitältesten Schwester, hingezogen fühlte, sie war in seinem Alter. Er gab ihr mehrfach zu verstehen und freute sich dabei über die Schockwirkung, die seine Drohgebärde auslöste, er würde sie heiraten, sobald er achtzehn und volljährig wäre. Als der Krieg zu Ende war, hat Renate große Angst ausgestanden, er würde als Sieger sein angedrohtes Versprechen wahrmachen. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie froh Renate über sein spurloses Verschwinden war. Dass Adam ein Recht auf Wiederkehr und Wiedergutmachung hatte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Mehr als fünfzig Jahre dauerte es, bis polnischen Zwangsarbeitern von deutscher Seite aus eine Entschädigung für die geleistete Fronarbeit gewährt wurde. Wäre es nach dem Vorschlag von Manfred Gentz Daimler-Chrysler gegangen, hätte Adam keinen Anspruch gehabt; nach diesem Vorschlag sollte nur Geld empfangen, wer „unter Gefängnis ähnlichen Bedingungen“ schuften musste. Und davon konnte auf unserem Hof keine Rede sein, dennoch ist Adam für mich das lebendige Beispiel für die Deportation von Zwangsarbeitern.
Konkrete Gestalt nahm der Krieg für mich an, als die ersten Flüchtlinge aus Gebieten weit weg in unser Dorf kamen, aus Ostpreußen, wo der Krieg bereits hingekommen war. Sie suchten meistens ein Nachtlager, das ihnen durchaus gewährt wurde, erwartungsgemäß auch bei uns im Haus und in der Scheune. Doch sah man sie lieber weiterziehen als zwei Nächte in unserem Dorf verharren. Sie mussten Essen, die Pferde Futter bekommen.
Diese eigentlich nicht gern gesehenen Flüchtlinge berichteten über Gräueltaten der Russen, der russischen Armee: Kindern würden die Ohren abgeschnitten, Erwachsenen habe man die Zunge herausgedreht, als sie nicht reden wollten. Der Name Nemmersdorf, dem ersten von der sowjetischen Armee eroberten Dorf in Ostpreußen, tauchte immer öfter in ihren Berichten auf. Schreckliches musste dort passiert sein. Das verfehlte nicht seine Wirkung auf uns, waren es doch immer wieder Kinder, denen die Russen Grauenvolles angetan hätten.
So Furcht erregend die Schilderungen waren, sie wurden in ihrer Wirkung abgeschwächt, weil sie an dem vorsorglich errichteten Wall der Gewissheit abprallten, dass der Krieg nicht bis zu unserem Dorf kommen würde. Von einer Wunderwaffe war die Rede, die alles richten würde, vom Endsieg. Meine Eltern gaben sich gleicherweise dieser Hoffnung hin. Der Ernst der Lage wurde erst zu dem Zeitpunkt begriffen, als ein russisches Flugzeug ungehindert über unser Dorf flog und die Kreisstadt Bütow bombardierte. Ich weiß nicht, wie viele Male sich Reichsmarschall Hermann Göring hätte Meier nennen müssen: „Wenn auch nur eine Bombe auf Deutschland fällt, will ich Meier heißen.“ Wo blieb die deutsche Abwehr? Bei Bütow stand irgendwo die Flak, sie war weithin zu hören. Schrecken konnte sie die russischen Bomber offensichtlich nicht, die Luftangriffe wiederholten sich. Unser Dorf blieb weitgehend verschont, sieht man von Freitag, dem 2. März 1945, ab. An dem Tag mussten alle Deutschen das Dorf verlassen.
Schon im Februar durfte Irla weg, ging mit ihrem am 11. Januar 1945 geborenen Sohn Gernot auf die Flucht, zusammen mit meiner 82jährigen Oma. Zu dieser Zeit war es noch möglich, mit dem Zug zu reisen, jedenfalls gab es Züge, in die man einsteigen konnte. Spätestens da wurde meinen Eltern allmählich klar, der Krieg würde um uns keinen Bogen machen. Stell dir vor, Julika, wenige Tage nach der Geburt mussten Mutter und Baby das schützende Haus verlassen und sich der Kälte, der Ungewissheit, dem sich anbahnenden Chaos aussetzen. Von allen Seiten strömten Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten westwärts. Irla und Gernot fanden zunächst bei einer Tante in der Nähe von Köslin, in Kavelsberg eine Bleibe. Mit dem Vorrücken der Roten Armee mussten sie auch von dort fliehen und landeten endlich in dem Dorf Hohenaspe in Schleswig-Holstein, nicht weit entfernt von Itzehoe, wo sie heute lebt. Dass ihr Mann nicht wiederkehren würde, erfuhr sie viel später.
Der 2. März also war der unheilvolle Tag. Eckehard Oldenburg, der in Bernsdorf mit uns auf die Flucht ging, wie sich der aufmerksame Leser erinnern wird, schreibt in seinem Buch:
Während wir uns versammelten, und laufend noch weitere Treckwagen, Einheimische wie Flüchtlinge, eintrafen, tauchten erneut russische Tiefflieger auf und beschossen uns mit ihren Bordwaffen. Ausgerechnet den Bürgermeister Löschmann traf ein Granatsplitter genau ins Kreuz, doch seine dicke Winterjoppe verhinderte zu seinem Glück ein tieferes Eindringen. Eine Bombe schlug zudem dicht hinter dem Anwesen Kosins mit dumpfen Getöse in eine moorige Wiese, so dass der gefrorene Morast in hohem Bogen über uns hinwegflog.
Einige Tage nach meinem Geburtstag hatte es geheißen, das Dorf wird geräumt, viel zu spät, wie sich bald herausstellte. Die Deutschen mussten fliehen, die kaschubischen Dorfbewohner und die Fremdarbeiter wie Adam blieben, sie hatten nichts zu befürchten, im Gegenteil, sie konnten damit rechnen, nach Hause zurückzukommen.
Weil die Front bedrohlich näher kam, musste auf einmal schnell gepackt werden. Das eine oder andere war wohl schon vorbereitet, zum Beispiel Pökelfleisch, das ich nicht mochte, in Milchkannen an die Wagen gehängt. Da wir sechs Pferde besaßen, hätten meine Eltern mit drei Wagen voll beladen losziehen können. Aber im Dorf gab es Leute, die weder Pferd noch Wagen besaßen. Sie wurden auf die Bauernhöfe verteilt, die Fuhrwerke hatten. Meine Eltern boten den Familien eine Mitfahrgelegenheit, die auf unserem Hof gearbeitet haben. Stellmacher Wedel hatte Wohnung und die kleine Werkstatt von meinem Vater gemietet. Ihm wurde der dritte Wagen zur Verfügung gestellt.
Wie wenig meine Eltern ernstlich auf die Flucht vorbereitet waren, konnte man daran erkennen, dass wir keine überdachten Wagen hatten, wie man sie aus vielen Filmen kennt, sondern einfache Leiterwagen, wie man sie zur Einbringung der Ernte benutzte. Sie boten nicht den besten Schutz vor Wind und Kälte, obwohl man die warmen Sachen und auch das Futter für die Pferde so verstaute, dass der eisige Wind möglichst wenig Schlupflöcher fand. Gefährlich auf vereisten Straßen zudem, weil die Wagen keine Bremsen hatten. Und damals waren die Winter wirklich kalt. Als wir loszogen, lag tiefer Schnee und in der Nacht herrschten 10 – 20 Minusgrade.
Weil der Packraum arg begrenzt war, hieß es, wir