Martin Löschmann

Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen


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Schlittschuh. Das konnte man gut und gern drei bis vier Monate lang auf Teichen, Seen und glatten Straßen. Ein Traum war für mich in Erfüllung gegangen. Ich übte jeden Tag und machte gute Fortschritte. Mit der Flucht stand mir eine große Reise bevor. Rundum toll fand ich die Vorstellung, sich an das Pferde-Fuhrwerk zu hängen und über die Straßen zu schlittern, ohne sich allzu sehr anzustrengen. Natürlich war das ein verbotenes Vergnügen. Ich malte mir aus, wie ich mit meinen untergeschnallten Schlittschuhen über die glatten Straßen ins Rettende schlittern würde. Bevor ich die Schlittschuhe mein eigen nennen durfte, war ich mit den Schuhen über die glatten Flächen geschlittert. Der Ausdruck wurde beibehalten. Wir liefen nicht Schlittschuh, sondern wir schlitterten. Was für eine Vorfreude auf die Flucht und wie hab’ ich geweint, als meine Mutter zu guter Letzt entschied, dass ich meine heißgeliebten Schlittschuhe nicht mitnehmen durfte. Sie wurden zusammen mit dem guten Geschirr und anderen Gegenständen nachts in einem Hohlraum unter der Diele versteckt. Meine Mutter tröstete mich, wir kommen bald zurück, dann bekommst du deine Schlittschuhe wieder. Sie sollte nur zum einem Teil recht behalten, wir kamen bald zurück, von meinen Schlittschuhen und all den versteckten Sachen keine Spur.

      Ich weiß nicht, ob meine Mutter meine bittere Enttäuschung überhaupt mitbekam. Sie hatte schlechterdings andere Sorgen, die Kühe, Schweine, Hühner, Katzen, der Hund, alles musste zurückgelassen werden. Wer würde sie füttern, die Kühe melken? Kaum anzunehmen, dass die Zurückgebliebenen die Wirtschaft weiterführten. Eine Herz zerreißende Abschiedssituation, zu ertragen allein durch den Glauben meiner Eltern an eine baldige Rückkunft.

      Ohne Schlittschuhe hatte die Flucht für mich jeglichen Reiz verloren. Ich weinte wie fast alle auf den Flüchtlingswagen, als es geordnet losging. Wir reihten uns ein in einen riesigen Flüchtlingstreck. Sehr langsam ging es gen Bütow voran, überall auf den Straßen neben den und vor den Wagenkolonnen Militärfahrzeuge, Verwundetentransporte, stundenlanges Stehen, Umleitungen, Übernachtungen zumeist in Scheunen und Pferdeställen, allerdings zwei-, dreimal in Häusern mit gemachten Betten, sonst keine Badewanne, keine Dusche, tagelang ungewaschen durchs Land ziehen, irgendwann etwas essen, was meistens nicht schmeckte, und die Front kam immer bedrohlicher näher. Ein-, zweimal tauchten Flugzeuge auf und beschossen die Wagenkolonne. Wir blieben verschont, gewiss nicht weil wir uns rechtzeitig in den Straßengraben geworfen und in den Schnee eingewühlt hatten. Zufall, purer Zufall, im Ernstfall hätte uns nichts geschützt.

      Plötzlich hieß es: Es gibt nur eine Straße, auf der man weiterkommen kann. Die Trecks formierten sich neu, ein letzter Versuch. Zwei Kilometer vorwärts – Richtung Stolp und Lauenburg, und schon ist diese Hoffnung genauso dahin. Die Russen waren irgendwo bei Kolberg nicht weit von unserem Treck durchgebrochen. Die Wehrmacht sperrte das letzte Ausfalltor, um den eigenen Rückzug zu sichern. Unsere sechs Pferde, offensichtlich noch kräftig, wurden von deutschen Soldaten unter Vorweis eines militäramtlichen Papiers gegen den Protest meines Vaters ausgewechselt. Mit geschundenen, mehr als klapprigen Gäulen ging es weiter, d.h. erst einmal wieder zurück. Und die Front unter Führung von Marschall Shukow saß uns fast im Nacken. Allwissende Männer in unserem Treck konnten sicher ausmachen, wer schoss und womit geschossen wurde. Wummern hatte man das Rollen, Grollen und Stampfen des Artilleriefeuers im ersten Weltkrieg genannt. Bis heute, wenn es in der Ferne gewittert, passiert es, dass sich Assoziationen zu den Kriegserlebnissen einstellen.

      Endstation am 13. März, es ging nicht mehr weiter, in einer Schule saßen wir fest. Hunderte von Gefangenen, Häftlingen, vermutlich aus einem KZ, wurden durch das Dorf getrieben, schleppen sich dahin, von Stöcken und Gewehrkolben gesteuert.

      Urplötzlich schrie jemand: „Die Russen kommen“ oder etwas Ähnliches. Eine unbeschreibliche Stille – Stille aus Angst – breitete sich aus. Russische Panzer tauchten auf, zuerst Spähpanzer, dann die berühmt-berüchtigten T34, der junge Oldenburg will fernerhin Sherman-Panzer entdeckt haben. Sie ratterten vorbei, als wollten sie gar nicht anhalten. Sie mussten angehalten haben, denn auf einmal standen drei leibhaftige Russen vor uns, drei Rotarmisten, wie wir sie später nannten. „Woijna kapuut!“ Der Krieg sei für uns zu Ende, erklärte einer, fraglos der Offizier, in Deutsch. „Damoi, damoi“, wir sollten dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen seien, nach Hause. Kein blitzendes Messer zwischen den Zähnen, kein Ohrenabschneiden, kein Zungenherausreißen.

      Am nächsten Tage traten wir die Heimkehr an. Obwohl fast vierzehn Tage unterwegs, waren wir nicht weit gekommen, 60, höchstens 80 km. Von der Entfernung her war die Rückkehr kein Problem. Gleichwohl gestaltete sie sich buchstäblich zu einem Wettlauf mit dem Tode. Die von den Russen befreiten ehemaligen Häftlinge kamen zurück und nahmen sich, was sie brauchten. Wer sich ihnen in den Weg stellte wurde geschlagen, mit Stöcken entschlossen beiseite gedrängt. Mein Vater versuchte zwei von unserem Wagen fernzuhalten. Vergebens. Die Menschen trieb der Hunger, sie froren jämmerlich in ihren notdürftig zusammengehaltenen Sträflingskleidern. Was sollten sie tun? Es ging ums Überleben.

      Die letzte Nacht vor der Umkehr verbrachten wir in einer Schule: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, Alte und Junge. An Schlaf war nicht zu denken, mindestens fünf oder sechsmal wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen, bewaffnete Russen trieben uns hoch, mal suchten sie deutsche Soldaten, mal wollten sie Schmuck haben, mal Uhren – Uris, mal beides.

      Und nicht nur das. Die nächtlichen Eindringlinge zeigten sich erbarmungslos. Nach einiger Zeit kamen die geschändeten und geschundenen Mädchen und Frauen zurück. Obwohl ich nur ahnte, was ihnen angetan wurde, waren ihr Schreien, ihr Schluchzen, ihre Hilferufe unvergleichlich erschütternd, etwas Furchtbares musste mit ihnen geschehen sein. Die grausamen Ängstigungen, Demütigungen, Erniedrigungen der Nacht hätten sich in die Gesichter eingegraben, hieß es. Meine Schwester Renate, ungefähr so alt wie du jetzt, Julika, wurde gegen Morgen herausgeholt. Eine Frau hatte mit der Vergewaltigung nicht leben können und sich unter dem Dach des Schulgebäudes erhängt.

      Im Physikunterricht erinnerte mich die Eselsbrücke URI für die Formel: Spannung x Widerstand = Stromstärke an die erlebte Todesangst. Ein paar Tage nach der Umkehr tauchten wieder einmal zwei wie es schien abgesprengte Russen in einem abgelegenen kleinen Dorf auf und verlangten eben diese Uris und Goldschmuck. Doch weder die Familie, bei der wir untergekommen waren, noch wir hatten etwas zu bieten, leer gebrannt war die Stätte. Da halfen keine Drohgebärden, deshalb griffen sie zum Letzten: Der eine stellte sich an die Tür mit einer Kalaschnikow im Anschlag (vielleicht war es auch ein gewöhnlicher Karabiner), der andere schubste uns alle in die Mitte des Zimmers, vor dem Tisch mussten wir niederknien, zuerst die Erwachsenen, dann die Kinder. Während die Erwachsenen unter Wimmern und Weinen immer wieder aufs Neue erklärten, es gäbe nichts mehr zu holen, weinten und schrien wir Kinder markerschütternd. Kein Erbarmen weit und breit, der neben uns stehende Russe beginnt zu zählen 1, 2 … bricht plötzlich ab, gibt seinem Kumpan ein Zeichen und beide verlassen das Zimmer und waren nie wieder gesehen. Ich habe mein Latein fast vergessen, den Satz aus Aeneis: „Horresco referens“ allerdings nicht – Mich schaudert, davon zu berichten, habe ich behalten. Wir hatten uns eine Situation auszudenken, die zeigen sollte, dass wir Vergil verstanden hatten. Ich musste nichts erfinden.

      Ein Fuhrwerk war geblieben. Die zwei Pferde, die den Wagen nach Hause bringen sollten, hielten sich kaum auf den Beinen, völlig abgemagert, klapperdürr. Irgendwie setzte sich der dezimierte Treck dennoch heimwärts in Bewegung. Schon im ersten oder übernächsten Dorf wurde er gestoppt, russische und polnische Soldaten schritten die Wagenkolonne ab: Ob sie Nemetz oder Polski, Deutsche oder Polen waren, wurden alle Männer gefragt, die auf den Fuhrwerken saßen. Ich höre meinen Vater mit fester Stimme sagen: „Deutscher.“ Mit diesem Bekenntnis hatte er sein Todesurteil unterschrieben.

      Er musste vom Wagen heruntersteigen und sich zu der Männergruppe unter Bewachung etwas abseits stellen: alles Männer über 50, die bestenfalls dem Volksturm angehören konnten, einer 1944 gegründeten Kampforganisation zur Unterstützung der deutschen Wehrmacht, bestehend aus 16-jährigen bis 60-jährigen Männern. Uns wurde befohlen weiterzufahren. Der Vater blieb da. Keine Verabschiedung. Ich schnappte mir die Leine und versuchte die Pferde in Bewegung zu setzen. Vater wird nachkommen, hieß es. Er kommt wieder, er kommt bestimmt wieder, er muss doch wiederkommen, und kam nicht wieder.

      Nach wochenlangen Märschen gen Osten unter unmenschlichen Strapazen ist er