Gabriele Prattki

Namaste geht immer


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Mann nahm Ella und Sabina eines Nachts mit zu einer Dorfzeremonie. Ella war erfreut und neugierig, Sabina erst ängstlich, dann fasziniert und wie betäubt von den fremden Gerüchen, Trommelgeräuschen und tanzenden Gestalten, die sie und Ella bald mit in ihren Kreis aufnahmen. Jene Nacht blieb eine Erinnerung voller Magie.

      In einem einfachen Restaurant im damaligen Obervolta kamen Kinder an ihren Tisch und starrten hungrig auf das Essen für Sabina und Ella. Sabina konnte kaum einen Bissen zu sich nehmen, schob den Teller beiseite und blickte die Kinder an. Die stritten sich um die Reste.

      Ella hatte herausgefunden, dass es östlich von Ouagadougou, der Hauptstadt des Landes, ein Dorf mit einem Häuptling geben musste, der Französisch sprach. Nachdem sie und Sabina aus einem Buschtaxi mitten in der weiten, trostlosen Wüstenlandschaft der Sahara ausgestiegen waren, suchte Ella danach. Der Himmel war rot vom Wüstenwind. Einige Kinder kamen ihnen entgegen, die sie nach gestenreicher Verständigung zu jenem Dorf führten. Ella war begeistert, als sie dem Häuptling, einem jungen Mann, vorgestellt wurden und sie ihn zum Dorfleben befragen durfte. Bei der Führung durch den Kral wurden sie, die fremden Frauen, freundlich und oft zahnlos lächelnd begrüßt.

      Für das Jahr 1983 plante Ella, die schon einige Male in Indien gewesen war, eine Reise nach Ladakh und fragte Sabina, ob sie mitkommen wolle. Sie war unsicher, sagte aber schließlich zu.

       2012

      Während der Besichtigungstour durch New Delhi informiert der Reiseleiter die Gruppe über den Fortschritt in Indien und New Delhi seit der Jahrhundertwende.

      Sabina notiert Stichworte. Zahlreiche indische Bauern sind durch Landverkauf reich geworden. Die Städte haben sich wegen der ständig zunehmenden Anzahl an Menschen immer weiter ausgedehnt. Dort, wo früher Bauern ihr Land bestellten, stehen heute kilometerweit Hochhäuser und kleinere Häuser mit Apartments.

      Reiche indische und ausländische Investoren kaufen Boden und Immobilien. Slums werden an vielen Stellen abgerissen, doch an den Rändern der Neubaugebiete entstehen sie wieder. Die dort lebenden Menschen zahlen Miete für die wenigen Quadratmeter, auf denen sie hausen, nutzen aber Strom und Wasser kostenlos. Das soll vermieden werden. Megastädte wie New Delhi bieten den Slumbewohnern Wohnraum gegen Bezahlung an. Die Umsiedlungspläne scheitern jedoch am geringen Einkommen dieser Menschen.

      Riesige Drahtgeflechte hängen über den Straßen, ein Wirrwarr aus Leitungskabeln an Holzpfählen und Straßenlaternen. Sabina staunt, dass das Gewimmel aus Menschenmassen und Verkehrsmitteln zu fließen scheint. Bettler tauchen aus der Menge auf, sobald die Touristengruppe aus dem Bus steigt. Menschen liegen unter Decken auf kleinen, mit Bäumen begrünten Arealen an Kreuzungen. Kinder turnen, verbiegen ihre Körper wie Akrobaten, um Geld von den Autofahrern zu bekommen, die im Stau oder an einer Ampel halten. Heute leben die Slumbewohner wohl nicht mehr in Müllbergen wie damals, oder wird das nicht gezeigt?

       1983 – Erste Indienreise

      Ella und Sabina fanden nach ihrer Ankunft in New Delhi für zwei Nächte eine preiswerte Unterkunft. Sie beschlossen, auch für die zwei Nächte nach der Ladakh-Reise dort Quartier zu nehmen, bevor Sabina die Rückreise antreten und Ella drei Wochen nach Burma reisen würde.

      Als sie zum ersten Mal an den Slums vorbeifuhren, musste Sabina sich übergeben. Sie hatte zunächst geglaubt, es seien riesige Müllhalden. Das stimmte auch, aber Menschen hausten darin. Sie war entsetzt und weinte. Die Menschenmassen in den lauten Straßen der damaligen Zehn-Millionen-Metropole ängstigten sie. Unvermeidlich kam sie ständig mit Menschen, die ihr fremd waren, in Berührung. Alle schienen es eilig zu haben. Und bei den Gerüchen war jede Nuance zwischen himmlisch duftend und erbärmlich stinkend vertreten.

      Ella reagierte meist gelassen, während Sabina fassungslos war. Elend, Dreck, die riesige Kluft zwischen Armen und Reichen, die in New Delhi überall gegenwärtig war – regte sich niemand darüber auf? Wurde irgendetwas dagegen unternommen?

      Einmal weigerte sie sich, in eine Fahrradrikscha einzusteigen. Sie fand es entsetzlich, von einem abgemagerten alten Mann gezogen zu werden und wollte, ohne die Entfernung zu kennen, zum Roten Fort laufen. Ella wies sie darauf hin, dass der Mann mit den Rikscha-Fahrten seinen Lebensunterhalt verdiente. Widerwillig stieg sie ein.

       2012

      Auf dem Weg zur Jama Masjid, der Freitagsmoschee, informiert Kishan die Gruppe über Details in perfektem Deutsch, was das Zuhören leicht macht. Englisch mit indischem Akzent fände Sabina auch interessant.

      Die englische Sprache wurde in Indien nach der Unabhängigkeit beibehalten, weil man sie als Standortvorteil im globalen Wettbewerb entdeckt hatte. In den verschiedenen Bundesstaaten Indiens gilt daneben je eine von sechzehn ausgewählten Mehrheitssprachen als offizielle Amtssprache.

      Der Erbauer der Moschee, Mogulherrscher Shah Jahan, zog jeden Freitag mit seinem Hofstaat in prunkvoller Prozession von seinem Palast zur Moschee und demonstrierte auf diese Weise seinen Machtanspruch über Religion und Staat.

      Die Moschee – ein Wunderwerk der Architektur mit Kuppeln, Toren, Galerien und Ecktürmen in faszinierender Symmetrie.

      Sabina gefällt der vertikale Wechsel von rotem Sandstein und Marmorbändern; die Wirkung ist großartig und schlicht zugleich. Der Innenhof der größten Moschee Indiens bietet 25000 Gläubigen Platz. Dass Menschen solche Schönheit erschaffen können, erstaunt Sabina immer wieder.

      Sie findet sich im Moment gar nicht schön, sondern komisch. Am Eingang erhielten die Frauen eine Art knöchellangen Mantel in, wie sie findet, hässlich machenden Farben. Der soll die Kleidung westlicher Touristinnen, die lange Hosen oder kurze Röcke tragen, im Innenhof der Moschee weitgehend verhüllen. Die Freundlichkeit von indischen und vielen anderen Besuchern lässt sie ihre Eitelkeit und die eigenwillige Verkleidung aber schnell vergessen. Und welche Touristin kann mit den in edle, farbenprächtige Saris gekleideten Inderinnen schon konkurrieren?

      Sie kommt mit einigen indischen Familien kurz ins Gespräch, was von strahlendem Lächeln auf allen Seiten begleitet wird. Diese Menschen möchten sie fotografieren. Dann darf sie von deren Kindern ein Foto machen. Sie ist entzückt von den hübschen Kleinen.

      Zarte Figuren, die indischen Frauen mit ihren fein geschnittenen Gesichtern, gekleidet in so leuchtenden Farben, dass Sabina glaubt, davon betrunken zu werden: rosa, türkis, hellgrün, azurblau, fliederfarben, gelb, lila, dunkelrot, orange, ocker, unifarben oder mit feinen Mustern. Die Frauen tragen Ohr- und Nasen-ringe oder Perlenstecker, mehrere Armreifen aus verschiedenen Materialien, Halsketten und feine Kettchen um die Fußgelenke. Frauen in anderer Kleidung gehören verschiedenen Religionen an, etwa dem Sikhismus oder Islam. Manche der jungen indischen Frauen in New Delhi sind modisch gekleidet.

      In der Nähe der Hauptstraße Chandi Chowk liegt ein Sikh-Tempel. Der Straßenname erinnert Sabina an ihre erste Indienreise. Hier war das Menschengedränge damals beängstigend dicht und die ständige Tuchfühlung sehr befremdlich für sie.

      Unter den Mogulherrschern war Chandi Chowk die schönste Flaniermeile mit Grünstreifen und einem Wasserkanal in der Mitte. Heute ist dort ein Chaos an Verkehrsmitteln aller Art – auch eine Art Stoff-Fühlung: Blech an Blech.

      Auf dem weißen Sikh-Tempel leuchtet eine goldene Zwiebelkuppel. Den Tempel darf man nur ohne Schuhe, Strümpfe, Tabakwaren und mit Kopfbedeckung betreten. Wer kein Kopftuch oder keinen Hut hat, kann das Haar mit einem orangefarbenen Tüchlein bedecken, das Touristen vor dem Tempel angeboten wird. All dies dient dazu, den Tempel nicht zu entweihen.

      Sabina setzt sich mit den anderen der Reisegruppe für kurze Zeit auf den Boden. Er ist wie die Hauptgänge mit roten oder grünen Teppichläufern für die nackten Füße ausgelegt. Sie sieht der fremden religiösen Zeremonie interessiert zu, auch wenn sie nicht weiß, welche Bedeutungen die Rituale haben.

      Danach werden sie durch eine Großküche