Moni Rehbein

Bastis Welt


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wahrgenommen.

      Ich kenne einen Autisten, der ist verzweifelt aus dem Schulunterricht weggelaufen, weil der Lehrer die Bemerkung machte, die Schüler würden ihn auf die Palme bringen, dabei hatten sie den Lehrer nirgendwo hingebracht und es war auch nirgends eine Palme in der Nähe.

      Die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte basieren vielleicht sogar auf solchen Missverständnissen, weil wir nur Worte wahrnehmen, ohne denjenigen zu kennen, der dahinter steckt und so verstehen wir ihn dann völlig falsch. Ich denke da zum Beispiel an die Bibel. Viele lesen die Worte und haben sicher die ehrbare Absicht, alles zu beherzigen, was da steht. Doch wollen sie sich nie auf den Autoren einlassen, mit ihm reden, ihn in ihr Leben lassen und eine persönliche Beziehung zu ihm herstellen. So kam und kommt es immer wieder zu Glaubenskriegen und zu tiefen zwischenmenschlichen Verletzungen. Viele denken sich einen zornigen, distanzierten oder gelassenen Gott und vergessen, dass er Mensch wurde. Sie sehen nicht sein Lächeln, seine Tränen, seine Freude, seinen übergroßen Humor, seinen Schmerz und diese mächtige Liebe, die nicht gekommen ist, die Menschen in seiner Allmacht zu bevormunden, sondern zu heilen, zu umarmen und zu trösten. Sie lesen von Sünde in der Bibel und davon, dass Gott die Sünde hasst und übersehen dabei sein Lächeln, das die Sünder zu sich ruft und seine Liebe, die schwerer wiegt und stärker ist als alle Sünde der Welt.

      Viele Christen lesen die Worte, beten in sich rein oder an die Zimmerdecke und kommen gar nicht auf die Idee, dass man sich auf Jesus einlassen kann, dass man einfach mit ihm reden kann, dass er neben uns steht, ob wir ihn wahrnehmen oder nicht; dann wollen sie gegen die Sünde kämpfen und lassen sich hinreißen und kämpfen auch gegen den Sünder, anstatt ihre eigene Sünde einfach Jesus zu bringen. Oder Gott wird ihnen egal und sie wollen nichts von dem wissen, der das alles zulässt. Manche fangen sogar an, gegen Gott zu kämpfen oder gegen dessen Kinderlein. Die Menschen scheinen die einzigen Hunde zu sein, die die Hand beißen, die sie streichelt und füttert.

      So ungefähr ist mein Sohn. Er nimmt nur das wahr, was er hört und liest und denkt nicht daran, dass man es vielleicht gar nicht so meint, weil er unser Lächeln nicht wahrnimmt, so wie viele Menschen das Lächeln Gottes nicht wahrnehmen. Oder er merkt nicht, dass jemand traurig ist und verletzt diesen durch seine scheinbare Gleichgültigkeit. Wenn ihm jemand vom Tod eines geliebten Menschen berichtet und dabei sogar Tränen in den Augen hat, reagiert er genauso monoton, als wenn ihm mit freudestrahlendem Gesicht von einem Lottogewinn erzählt wird. Er nimmt es zur Kenntnis und fängt eventuell augenblicklich einen Monolog z. B. über die weltpolitische Lage im Allgemeinen und Barack Obama im Besondern an. Er denkt nur geradlinig, nimmt alles wörtlich und es darf keine Fehler oder Zweideutigkeiten geben.

      Oft ist diese Merkwürdigkeit anstrengend und zehrt an den Nerven. Doch manchmal ist er wirklich amüsant und wirkt bisweilen bizarr und ungewöhnlich. Genau davon handelt meine Geschichte mit dem Jungen aus Anderwelt.

      Eines Tages entdeckte Basti durch einen Bekannten seine Leidenschaft für das Schachspiel. Er war damals gerade sechs Jahre alt und wollte in seiner Freizeit am liebsten nur noch Schach spielen.

      Ich hatte das Schachspiel mit ihm zusammen erlernt und meinte, noch nicht mal ganz schlecht zu spielen, doch bald schon konnte ich mit meinem Dreikäsehoch nicht mehr mithalten.

      Also suchte ich nach einem Verein. Da jeder Verein sich bei seiner Gründung im Handelsregister beim Amtsgericht eintragen muss, rief ich dort an, um mich zu erkundigen. Ich erfuhr so nicht nur, dass es einen Schachklub in Heidenheim gibt sondern auch den Namen, die Adresse und Telefonnummer des Vorstands, Herr Lay, und rief gleich dort an. Dieser teilte mir mit, dass jeden Freitagabend Trainingsstunden für Kinder und Jugendliche in einer renommierten Gaststätte unserer Stadt stattfinden.

      Ich ging mit Basti zusammen zu seinem ersten Trainingsabend und bereits nach diesem ersten Abend war klar, dass Basti von nun an regelmäßig den Verein besuchen wollte. Herr Lay gab mir allerdings den Rat, ihn vorerst noch nicht anzumelden, sondern abzuwarten, ob er es sich vielleicht doch noch anders überlegt, es könne sich ja bei seiner neuentdeckten Liebe zu dieser Kampfsportart mit der geringsten Verletzungsgefahr auch nur um ein kurzzeitiges Interesse handeln.

      Als er dann jedoch als Gastspieler bereits kurze Zeit später die Vereinsmeisterschaft gewann, musste ich ihn anmelden, damit er an der Kreismeisterschaft teilnehmen durfte. Er gewann nicht nur diese ungeschlagen, sondern auch die Bezirksmeisterschaft. In den kommenden Jahren gewann Bastian beständig und qualifizierte sich mehrfach zu den Landesmeisterschaften.

      In seinem zweiten Jahr als Mitglied fand die Bezirksmeisterschaft in einer Jugendherberge statt. Die Kinder und Jugendlichen übernachteten dort auch, weil diese Schachmeisterschaft über zwei Tage andauerte.

      Herr Lay erzählte mir einige Tage später, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte. Die Kinder schliefen meist in Vierbettzimmern, so auch Basti. Um 20 Uhr sollten alle zu Bett gehen, sie durften sich noch unterhalten oder lesen und ab 21 Uhr war Bettruhe vorgesehen. Diese Regelung wurde den Kindern bereits zu Beginn des Turniers mitgeteilt.

      Wie bei Kindern so üblich, hielten sich die meisten nicht an diese Anordnung. So herrschte bis nach 22 Uhr ein Lärmen und Kichern in den Schlafräumen und den Gängen der Herberge.

      Nicht so in Bastis Zimmer. Pünktlich auf die Minute um 21 Uhr sorgte Basti für Ruhe. Er stand auf, löschte das Licht, legte sich wieder ins Bett und befahl den Zimmergenossen: »Es ist nun 21 Uhr, jetzt wird geschlafen.«

      Da Basti durch seine Spielstärke und Souveränität ein gewisses Ansehen bei den Kindern gewonnen hatte, akzeptierten sie ihn sofort als Autoritätsperson und waren auf der Stelle mucksmäuschenstill, trotz des Lärms, der aus Flur und Zimmern der anderen Kinder zu vernehmen war.

      Am Sonntag, dem zweiten und letzten Spieltag, fuhr ich nach der Kirche zu der Jugendherberge, um mir die letzten Spiele anzuschauen und Basti dann mit nach Hause zu nehmen. Ich mag die Atmosphäre eines Schachturniers sehr. Meist herrscht absolute Stille. Es ist noch nicht mal ein »Schach« zu hören, wenn ein gegnerischer König bedroht wird, wie das oft so in Filmen dargestellt wird. Ein Spieler weiß meist, wenn sein König angegriffen wird, auch ohne, dass es ihm gesagt wird. Übersieht er das dennoch einmal, was sehr selten vorkommt, und möchte einen anderen Zug machen, der den König in der Bedrohung stehen lässt, sagt der Angreifer: »Unmöglicher Zug.«

      Ist eine Partie beendet, geben sich die beiden Spieler die Hand, um zum einen dem Gewinner zu gratulieren und zum anderen gegenseitigen Respekt auszudrücken.

      Die meisten Anwesenden, auch Basti und ich, wurden beim vorletzten Spiel Zeugen einer etwas beängstigenden Szene.

      Bereits bei so jungen Spielern war es nicht ungewöhnlich, dass ihnen persönliche Trainer zur Seite standen. So auch bei einem Jungen, der in derselben Altersstufe spielte wie Basti. Der Junge machte im Laufe seines vorletzten Spiels einen gravierenden Fehler und verlor diese Partie. Eigentlich nicht schlimm in einer so niederen Altersgruppe und selbst Schachgroßmeister machen Fehler. Der Junge war am Boden zerstört. Doch anstatt ihn zu trösten, kochte sein Trainer vor Wut und fing an, den Spieler aufs Übelste zu beschimpfen, was in etwa so klang: »Du bist doch zu blöd zum Schachspielen mit deinem Spatzenhirn. So einen Fehler macht doch noch nicht mal ein Anfänger. Schalt gefälligst in Zukunft dein Gehirn ein! Aus dir wird nie ein guter Schachspieler!«

      Alle Anwesenden hatten diese Szene mitbekommen, aber keiner wagte es, dem wütenden Trainer ins Wort zu fallen. Der Junge, der nun im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand, hatte einen knallroten Kopf bekommen und Tränen standen ihm in den Augen.

      Kein Wort fiel, die Köpfe der anderen Spieler senkten sich wieder und die Spiele gingen ruhig weiter.

      Ich hatte schon zu Beginn des Wutanfalls des Trainers meinen Sohn beobachtet, doch er zuckte mit keiner Wimper, blieb über sein Schachspiel gebeugt und es war unmöglich zu beurteilen, ob er diese Szene überhaupt mitbekommen hatte, obwohl er ja in unmittelbarer Nähe saß. Basti ging in seiner Altersgruppe als Sieger hervor und verteidigte so seinen Titel als Bezirksmeister.

      Als die Spiele beendet waren, erfolgte nach einer kurzen Pause die Siegerehrung im Eingangsbereich der Jugendherberge.